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Im Jahr 1910: Franz Kafka mit Hund
Foto: imago/CPA-MediaIm Jahr 1910: Franz Kafka mit Hund

Haus Schlesien

„Kafka, Käfer und Kakanien“

Anlässlich des 100. Todestags des deutschen Schriftstellers Franz Kafka fand in Königswinter eine zweitägige Veranstaltung statt

Bärbel Beutner
21.04.2024

Im „Haus Schlesien“ in Königswinter wurde am 6./7. März ein Seminar angeboten, das unter der Leitung von Prof. Dr. Winfried Halder, des Direktors des Gerhart-Hauptmann-Hauses (GHH) in Düsseldorf, stattfand. So kam die Einladung aus Düsseldorf. „Kafka, Käfer und Kakanien“ lautete der Titel des Seminars, der auch Kafka-Neulinge neugierig machte. Ein Käfer war auf der Einladungskarte eingezeichnet, und „Kakanien“ nannte der Schriftsteller Robert Musil (1880–1942) die späte Habsburger Monarchie. In seinem Hauptwerk „Der Mann ohne Eigenschaften“, ein mehrbändiger, aber unvollendet gebliebener Roman, schildert er die österreichisch-ungarische Monarchie des Jahres 1913, die ihrem Untergang entgegengeht.

Halder stellte in dem ersten Vortrag der Tagung „Kafkas historisches Umfeld“ vor, die „Konfliktpotentiale und Bruchlinien der späten Habsburger Monarchie 1867–1919“. Er begann allerdings mit der Frage: „Was hat Kafka mit Schlesien zu tun?“ Dafür ging er bis zu den Schlesischen Kriegen zurück, da das zeitweilig zur Habsburger Monarchie gehörende Schlesien ebenfalls von Österreich geprägt war. Es habe in dem Vielvölkerstaat seit 1867 ständig Konflikte gegeben.

Dieses Konfliktpotential machte Halder zunächst an dem Wiener Schriftsteller Karl Kraus (1874–1936) fest. Der Satiriker und Herausgeber der Zeitschrift „Die Fackel“, der sich nach dem Ersten Weltkrieg zum Pazifismus bekannte, hinterließ sein dramatisches Hauptwerk „Die letzten Tage der Menschheit“ – der Erste Weltkrieg als Apokalypse. „Die Dritte Walpurgisnacht“, seine Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus, zeigt prophetisch den Untergang des Dritten Reiches. Obwohl 1933 als „Fackel“-Heft geplant, ist es erst posthum 1952 erschienen.

Die Autoren Karl Kraus und Robert Musil „beschwören“ sozusagen den Untergang einer Welt. Ebenso wurde Franz Kafka in eine bereits veränderte Welt hineingeboren, erklärte Halder. In Böhmens Hauptstadt Prag wurde das jüdische Ghetto soeben abgerissen, es gab seit 1879 keine Judendiskriminierung mehr. Aber Kafka spricht in seinen Tagebüchern oft davon, dass das alte Ghetto in ihren Seelen weiterlebe – sinngemäß. Die jüdische Gemeinde in Prag war groß und lebendig. Die Familie Kafka gehörte dazu, bemühte sich jedoch um Anpassung an die nichtjüdische Umgebung. Das Judentum blieb eines der konstanten Lebensprobleme Kafkas.

Bewohner zerbrechender Welten
Die Familie Kafka gehörte zu der deutschsprachigen Minderheit Prags. Kafka selbst sprach selbstverständlich auch Tschechisch. Halder hob hervor, dass sein Bildungsweg – Gymnasium, Jurastudium an der Karlsuniversität – ausgeprägt deutsch war. Dasselbe galt für die politische Position. Man sah sich ohne Frage der Habsburger Monarchie verbunden. Kafka wollte 1914 zum Militär, wurde aber zurückgestellt, da er als Beamter der Unfallversicherung für die Beratung der Kriegsversehrten gebraucht wurde.

Die „alte Welt“ zerfiel 1918, und als Kafka 1924 starb, sah Europa wieder völlig anders aus, was Halder gleich zu Beginn seines Vortrages betonte. Er stellte Kafka als den Bewohner zerbrechender Welten dar und schuf damit einen grundlegenden Zugang zu dessen Werk.

Diesen Zugang eröffnete Michael Serrer, langjähriger Leiter des Düsseldorfer Literaturbüros, mit seiner „Hinführung zu Kafkas Erzählungen“. Der Referent hatte sich sorgfältig vorbereitet und verteilte zu seinem Titel „Von Käfern, Hunden und Hungerkünstlern“ sieben kurze Texte Kafkas, die er dem Publikum auch jeweils erläuterte. Aber sofort war eine lebhafte Diskussion im Gange. Kafkas Parabeln „Auf der Galerie“, „Vor dem Gesetz“, „Eine kaiserliche Botschaft“ lösten bei den Gästen einen breiten Austausch über die vielfachen Aspekte aus. Das Judentum wurde angesprochen, Hoffnung, Einsamkeit, Verirrung und Angst. Die skurrilen Phänomene faszinierten wie beispielsweise „Der neue Advokat“, der „eigentlich das Schlachtross Alexanders des Großen war“.

Serrer hatte seinem Publikum zu Beginn den entscheidenden Zugang zu Kafkas Werk eröffnet. An seiner Interpretation der Erzählung „Das Urteil“ (1912) erkannten alle die existentielle Bedeutung des Schreibens für Kafka. Wie eine Geburt sei die Geschichte aus ihm herausgekommen. „Nur so kann geschrieben werden, mit vollständiger Öffnung des Leibes und der Seele“. Die Folge dieser „Eröffnung“: Die Gespräche gingen während der beiden Tage weiter.

Mit dem öffentlichen Abendvortrag von PD Dr. Jürgen Nelles „Franz Kafkas labyrinthische Welten – zwischen Faszination und Irritation“ wurden Kafkas Herkunft und Lebensumwelt noch einmal lebendig. Der Abriss und die Sanierung des Juden-Ghettos erfolgte erst endgültig, als Kafka zwölf Jahre alt war; also hat er die Gassen und Winkel noch selbst erleben können. Sein Vater besaß ein „Galanteriewarengeschäft“ und ein Mietshaus am Altstädter Ring und bemühte sich um die Integration in die deutschsprachige Gesellschaft und in die Habsburger Monarchie. So erhält der älteste Sohn den Namen des Kaisers, „Franz“. Bis Mitte des 19. Jahrhunderts lebten in Prag mehr Deutsche, durch die Industrialisierung kamen mehr Tschechen vom Land in die Stadt.

Der Referent zeigte dem Publikum weniger bekannte Züge an Kafkas Persönlichkeit. Er war sehr sportlich, liebte durchaus die Geselligkeit, besuchte mit seinen Freunden Kaffeehäuser und Weinstuben und auch Bordelle. Die Politik und das gesellschaftliche Leben interessieren ihn. Die Vorstellung von dem kränklichen Eigenbrötler lässt sich nicht halten. Doch die Spannungen innerhalb der Familie, besonders zum Vater, bilden das Hauptmotiv seines Werkes. Nelles machte diesen Komplex an den Erzählungen „Das Urteil“ und „Die Verwandlung“ und an dem Roman „Der Prozess“ fest. Die Verurteilung des Sohnes „zum Tode des Ertrinkens“ durch den Vater erfolgt in dem Moment, als der Vater krank und gebrechlich zu sein scheint, als der Sohn eine Braut hat und zum „Konkurrenten“ des Vaters werden könnte.

In der „Verwandlung“ erwacht der Handlungsreisende Gregor Samsa eines Morgens und sieht sich in ein „ungeheures Ungeziefer“ verwandelt. Seine bisher unterdrückte Persönlichkeitsentwicklung bricht in dieser Gestalt hervor. Nelles sprach von der „Rückentwicklung zum Tier“. Ebenso sieht sich Josef K. im „Prozess“ eines Morgens beim Aufwachen „verhaftet“ von einem unbekannten, absurden Gericht. Fortan bewegt er sich in den Labyrinthen dieses Gerichtes, das der Referent als eine „Darstellung der Bewusstwerdung eines alter Ego“ inter­pretierte.

Genauso gilt die gesellschaftskritische Deutung: Der Einzelne wird Opfer einer sich verselbstständigten Bürokratie und eines totalitären Regimes. Die Protagonisten Kafkas versuchen, so lautete schließlich eine Art Zusammenfassung, einen Sinn des Daseins zu finden – was aber nicht möglich sei. Heißt das, das menschliche Dasein ist sinnlos und absurd? Kafkas Helden merken nicht – und das ist ihre Tragik –, dass der Sinn in den Mitmenschen liegt, zu denen sie nicht in Kontakt treten können.

Am zweiten Tag des Seminars sollten die „labyrinthischen Welten“ und die seltsamen Dinge darin noch eine weitere Dimension der Anschaulichkeit bekommen. Helena Perena (München) stellte eine Ausstellung in München unter dem Titel „Kafka und die Kunst“ vor. Leider erschwerte die Technik dieses Mal die Verständigung. Die Referentin war zugeschaltet, der Bahnstreik hatte ihre Anreise verhindert, und sowohl Optik wie Akustik verlangten große Konzentration des Publikums. So sollen auch hier nur einige Aspekte angesprochen werden. Die Ausstellung zeigt unter anderem die Nachbildung von Gregor Samsas Zimmer, exakt nach der Beschreibung im Text. Die Tötungsmaschine in der „Strafkolonie“ ist aufgebaut, seltsame Gegenstände wie „Odradek“ soll es geben. Einerseits ist das ein Beweis für die Faszination der „ungeheuren Welt, die ich im Kopfe habe“, wie Kafka selbst sagt. Es reizt die Menschen offenbar, diese Phantasmen realistisch sehen zu wollen. Andererseits wird dadurch die „innere Bühne“ des Lesers der Texte beeinträchtigt, und vor allem die Bildlichkeit, die Metaphorik könnte verloren gehen. Roman Polanski versuchte einst in seiner Verfilmung von „Macbeth“ die Details des Textes „realistisch“ in Bilder umzusetzen. Den Zuschauern wurde eine Schlächterei präsentiert.

Aber die Wirkung Kafkas auf junge Künstlergenerationen wurde an dem Vortrag von Perena beeindruckend deutlich. Nicht nur vielfältige Textinterpretationen tun sich hier auf, welche die inzwischen alten Kafka-Forscher einst bewegten, sondern dieses Werk berührt alle Sinne und erweckt breite Kreativität.

Das Adjektiv „kafkaesk“
Mit Prof. Dr. Michael Braun kam endlich das Adjektiv „kafkaesk“ zur Sprache. Das Wort, so der Referent, sei in den 1950er Jahren in Mode gekommen und habe sogar Eingang in das Deutsche Wörterbuch gefunden. Es bezeichnet die Wirkung Kafkas auf den Leser, auf Kafka selbst lasse es sich nicht anwenden. Die Überschrift seines Vortrags „Ist Kafka kafkaesk?“ findet nicht leicht eine Antwort.

Das Medium Film stand im Mittelpunkt des Vortrags. Die Verfilmung des „Prozess“ von Orson Welles im Jahre 1960, in der übrigens Romy Schneider die Leni, das Hausmädchen eines Richters spielt, bot reichlich Stoff. Der Beginn des Films – ein Polizist steht am Morgen im Schlafzimmer – wurde mehrmals gezeigt und sorgfältig analysiert. Kamera- und Dialogführung führten auch hier wieder zu mehrfachen Ergebnissen. Der neue Spielfilm „Die Herrlichkeit des Lebens“, der Kafkas letztes Lebensjahr mit Dora Diamant schildert, wird erwartet.

Braun zeigte jedoch auch „kafkaeske“ Züge an Kafka auf. So hatte er einen eigenwilligen Humor, lachte bei Szenen, über die sich die Zuhörer erschreckten. Die Tragik im Lächerlichen – oder umgekehrt – trat bei ihm hervor. Zudem sei er begeistert von technischen Innovationen gewesen, vielleicht eine Erklärung für die präzise Beschreibung der Tötungsmaschine in der „Strafkolonie“.

Prophetische Vorahnung
Es blieb bei den Gästen ein beklemmendes Gefühl zurück, da gerade das Medium Film die prophetische Vorahnung Kafkas bewusst machte. Die Diktaturen des 20. Jahrhunderts werden bereits demaskiert. „Jemand musste Josef K. verleumdet haben...“ Aber wer? Eine Methode der Inquisition wird nun von korrekten Beamten in die Praxis umgesetzt. Wer verhaftet ihn? Gestapo? Wird es zu einem stalinistischen Schauprozess kommen? Werden schließlich die Tötungsmaschinen Tag und Nacht „arbeiten“? Das grausame Jahrhundert hatte soeben erst begonnen.

Die Tagung fand im „Haus Schlesien“ statt, und die Gäste nahmen die kulturellen Angebote des Hauses gerne wahr. Die Mitarbeiterin und Tagungsleiterin Nicola Remig bot den Gästen auch Informationen über das Haus und sein Konzept. Besonders beeindruckend: Begegnungen und Seminare mit polnischen und tschechischen Studenten und Germanisten unter dem Titel „Schlesische Begegnungen“. Das Haus sieht sich im Dienst Europas und hat auf diese Weise bereits mehr als 200 Gruppen und 6000 Studenten zusammenführen können.

Die Gäste des Kafka-Seminars genossen die Ausstellungen, wurden dabei aber auch mit dem Vertreibungsschicksal konfrontiert. Damit schloss sich der Kreis zu Kafka. Der kleine Text „Heimkehr“ (1920/22) beschreibt haargenau die Situation der deutschen Vertriebenen, die nach Jahrzehnten die Heimat besuchen und vielleicht sogar das Elternhaus wiederfinden. „Es ist meines Vaters alter Hof.“ Aber: „Ist dir heimlich, fühlst du dich zu Hause? Ich weiß es nicht. Ich bin sehr unsicher.“ Jeder Satz dieser kleinen Parabel trifft die Empfindungen der „Zurückgekehrten“.

Natürlich gibt es viele andere Interpretationsmöglichkeiten, erst recht für den Kafka-Kenner. Es ist eine Parabel, große Literatur, aber Kafka sah offenbar auch das Schicksal der Vertriebenen voraus. „Und ich wage nicht, an die Küchentür zu klopfen, nur von der Ferne horche ich ...“


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