20.03.2025

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Auf dem Weg zur Kooperation? Während sich in den vergangenen Jahren eine Weltordnung der rivalisierenden Mächte und der antagonistischen Blöcke herausbildete, ist der neue US-Präsident Trump – hier im Gespräch mit Russlands Präsident Putin beim G20-Gipfel
Bild: picture alliance/ASSOCIATED PRESS/Evan VucciAuf dem Weg zur Kooperation? Während sich in den vergangenen Jahren eine Weltordnung der rivalisierenden Mächte und der antagonistischen Blöcke herausbildete, ist der neue US-Präsident Trump – hier im Gespräch mit Russlands Präsident Putin beim G20-Gipfel

„Trump hat eine neue Phase der Weltpolitik eingeleitet“

Über die amerikanisch-russische Annäherung im Ukrainekrieg, die Konzeptionslosigkeit der Europäer angesichts einer grundlegenden Lageänderung und den Ruf nach deutschen Atomwaffen

Im Gespräch mit Harald Kujat
20.03.2025

Nachdem seit Ausbruch des Ukrainekriegs naturgemäß militärische Aspekte im Vordergrund standen, bestimmen derzeit vor allem Ereignisse auf dem diplomatischen Parkett das Geschehen. Zeit für eine vertiefte Einordnung der aktuellen Nachrichten.

Herr Kujat, welche Entwicklungen sind derzeit rund um den Ukrainekrieg zu beobachten?
Die militärische Lage ist im Augenblick durch die Rückeroberung der russischen Region Kursk gekennzeichnet. Die ukrainische Führung glaubte, dieses Gebiet gegen russische Eroberungen ukrainischen Territoriums eintauschen zu können. Eine Entscheidung mit gravierenden strategischen Konsequenzen. Denn durch den Abzug kampfstarker Verbände wurden die ukrainischen Streitkräfte an der eigentlichen Verteidigungsfront so stark geschwächt, dass sie dort nur noch in der Lage sind, den russischen Vormarsch zu verzögern.

Sie und ich haben seit Beginn des Ukrainekriegs stets dafür plädiert, jedoch nicht nur auf die militärischen Aspekte zu schauen, sondern vor allem auch die politische Entwicklung zu bedenken. Nach drei Jahren Krieg hat die neue US-amerikanische Regierung erste Schritte zur Realisierung eines Friedensplans unternommen. Mit beiden Kriegsparteien wurden exploratorische Gespräche geführt, um deren Positionen besser zu verstehen und mögliche Kompromisse auszuloten. Ich halte es jedoch für einen Fehler, den ukrainisch-amerikanischen Vorschlag für einen dreißigtägigen Waffenstillstand öffentlich gemacht zu haben, ohne ihn zuvor diskret mit Russland abzustimmen. Die Russen haben deshalb einem Waffenstillstand unter der Bedingung zugestimmt, dass zuvor noch Fragen zur Durchführung geklärt werden. Man kann davon ausgehen, dass in dem für diese Woche angekündigten Gespräch zwischen den Präsidenten Trump und Putin Klarheit geschaffen wird.

Denn ein Waffenstillstand macht eigentlich erst Sinn, wenn Friedensverhandlungen einen positiven Verlauf nehmen und sich beide Seiten auf Rahmenbedingungen einigen, die eine sichere Durchführung garantieren. Es zeigt sich, wie schwierig es ist, Verhandlungen überhaupt zu beginnen. Zumal von den europäischen Verbündeten keine Unterstützung, sondern Störfeuer kommt.

Die Verantwortlichen des Westens haben in den vergangenen drei Jahren die Politik praktisch suspendiert. Selbst nur daran zu erinnern, dass man für einen Frieden mit der anderen Seite sprechen muss, war verpönt. Ich möchte nur an die Istanbul-Verhandlungen des Frühjahrs 2022 erinnern. Wäre es damals zu einem Friedensschluss gekommen, hätte die Ukraine heute noch einiges mehr von ihrem einstigen Territorium unter Kon-trolle und müsste weit weniger Tote und Schwerverletzte beklagen.

Damals hieß es unter anderem, mit dem russischen Präsidenten Putin könne man nicht sprechen, da dieser ein Kriegsverbrecher sei.
Nun wird behauptet, Russland müsse an den Verhandlungstisch gezwungen werden, obwohl Russland nicht nur die Istanbul-Verhandlungen vorgeschlagen, sondern immer wieder Verhandlungen gefordert hat. Ich erinnere daran, dass Henry Kissinger 2014 angesichts der russischen Annexion der Krim darauf hingewiesen hat, dass die Dämonisierung Putins keine Politik, sondern ein Alibi für das Fehlen von Politik ist. Trump sucht dagegen das Gespräch mit Russland und verhilft der Politik somit wieder zu ihrem Recht. Das ist ein Gewinn für uns alle und umso wichtiger, da es die Möglichkeit eröffnet, eine militärische Niederlage der Ukraine zu verhindern.

Aber es kommt noch etwas anderes hinzu. Trump hat mit seinem Telefonat mit Putin vom 12. Februar im Grunde eine neue Phase der Weltpolitik eingeleitet. Nach den bekanntgewordenen Inhalten befinden sich die beiden nuklearen Supermächte USA und Russland auf einem Weg der Kooperation, sowohl wirtschaftlich als auch politisch. Während wir in den vergangenen Jahren beobachten konnten, wie eine Weltordnung der rivalisierenden Mächte und der antagonistischen Blöcke entstand – China und Russland auf der einen Seite, die Vereinigten Staaten und Europa über die NATO auf der anderen Seite –, sehen wir jetzt, dass Trump das Verhältnis zu Russland wieder normalisiert und offenbar bereit ist, mit China – unabhängig von den wirtschaftlichen Problemen – eine politische Entspannung zu suchen.

Deshalb deute ich Trumps Ukraine-Politik als Bestreben, die Voraussetzungen für diese neue Phase der Weltpolitik zu schaffen. Und für Europa entsteht durch die Lösung des Ukrainekriegs die Möglichkeit, eine neue Sicherheits- und Friedensordnung auf unserem Kontinent aufzubauen.

Die Europäer vermitteln jedoch eher nicht den Eindruck, als ob sie in den jüngsten Entwicklungen große Chancen sehen. Vielmehr interpretieren sie neben Russlands Agieren nun auch das Handeln der Trump-Regierung als Bedrohung. Die neue schwarz-rote Koalition begründet damit sogar ihre Pläne für eine umstrittene Staatsverschuldung zur Ertüchtigung unserer Streitkräfte.
Trump hat im Wahlkampf regelmäßig erklärt, dass er den Krieg und das Töten beenden will. Die Europäer müssen nun feststellen, dass sie im Hinblick auf eine Beendigung des Krieges mit leeren Händen dastehen, während Trump bereits einen fertigen Plan hat.

Der Grund dafür ist, dass sie weder den Willen noch die Kraft für eine Friedenspolitik zur Beendigung des Ukrainekrieges aufgebracht, sondern den Krieg durch finanzielle und materielle Unterstützung genährt haben. Die Europäer haben sich durch die Friedensinitiative Trumps überrumpeln lassen und sind nun unfähig, ihren Kurs zu ändern, Trump zu unterstützen und auf diese Weise einen großen europäischen Krieg zu verhindern. So konnte es auch geschehen, dass wir uns aus moralischer tagespolitischer Erregung nach einem öffentlichen Streit zwischen Trump und dem ukrainischen Präsidenten Selenskyj reflexhaft auf die Seite der Ukrainer gestellt und dafür sogar eine Verschlechterung unseres Verhältnisses zu den USA in Kauf genommen haben.

Ein großes Problem der deutschen wie der europäischen Außen- und Sicherheitspolitik ist auch die Vermischung transatlantischer, europäischer und ukrainischer Belange. Das sehen Sie an den Entschlüssen, die jetzt in Deutschland im Rahmen der Regierungsbildung gefasst werden. Da wird nicht differenziert zwischen dem, was wir für unsere eigene Sicherheit – etwa für die Bundeswehr und die Erfüllung der Bündnisverpflichtungen – brauchen, und dem, was für die Ukraine aufgewendet werden soll.

Was treibt die Europäer an? Den verantwortlichen Akteuren muss doch klar sein, dass wir uns neben der bestehenden Zerstörung des Verhältnisses zu Russland nicht auch noch eine Beschädigung der Beziehungen zu den USA leisten können. Immerhin würden wir damit riskieren, als mehr oder weniger unbewaffnete Nationen allein zwischen zwei atomaren Supermächten zu stehen.
Fakt ist, dass wir derzeit in beide Richtungen konfliktorientiert argumentieren. Russland werden Absichten auf einen Angriff gegen die NATO unterstellt, weshalb wir uns dringend auf einen Krieg vorbereiten müssten. Den Amerikanern unterstellen wir, dass sie nicht mehr zu ihrem Beistandsversprechen stehen würden und somit Europa und Amerika sicherheitspolitisch auseinanderdriften.

Worüber wir jedoch nicht reden, ist, warum das Verhältnis zu Amerika gestört ist. Ein wesentlicher Grund dafür ist, dass Trump unser Feindbild „Russland und Putin“ nicht teilt. Und da der US-Präsident auch mit seinem innenpolitischen Kurs vielen europäischen Eliten ein Dorn im Auge ist, entwickeln die Europäer gerade das gemeinsame Feindbild „Putin und Trump“. Doch die verantwortlichen Politiker scheinen nicht zu bedenken, was es für Europa bedeutet, allein zwischen den beiden nuklearen Supermächten in diesem Spannungsfeld bestehen zu müssen.

Und so stehen wir heute – auch wenn ich nicht zu negativ klingen will – de facto vor einem Scherbenhaufen der europäischen Politik. Es gibt keinen konstruktiven Vorschlag, wie wir wieder eine stabile Friedens- und Sicherheitsordnung herstellen können – mit oder ohne die NATO, mit oder ohne die Vereinigten Staaten, mit oder gegen Russland.

Zur Wahrheit in Bezug auf das Verhältnis zu den USA gehört allerdings auch, dass Trump Gebietsansprüche auf Grönland erhoben hat – was eine direkte Bedrohung des NATO-Gründungsmitglieds Dänemark darstellt. Und im Ukrainekrieg haben die Amerikaner die Versorgung der ukrainischen Streitkräfte mit wichtigen Aufklärungsinformationen eingestellt. Ist es da nicht verständlich, wenn die Europäer die Verlässlichkeit der alten Schutzmacht infrage stellen?
Die vorübergehende Einstellung der Unterstützung der Ukraine war eine Folge des Eklats zwischen Trump und Selenskyj im Oval Office, bei dem klar wurde, dass der ukrainische Präsident nicht verhandlungsbereit ist. Trump wollte daraufhin Druck auf Kiew ausüben, um eine Verhandlungsbereitschaft herzustellen. Und damit war er auch erfolgreich.

Die Grönland-Problematik ist meiner Ansicht nach eine Folge des geopolitischen Denkens Trumps. Ich glaube, dass der US-Präsident in Hemisphären denkt. Er sieht beispielsweise den europäischen und den amerikanischen Raum jeweils als einzelne Hemisphären. Und deshalb betrachtet er Grönland, aber auch Kanada, als Teil des amerikanischen Einflussraums.

Interessant ist, dass Trump offenbar auch Russland eine eigene Hemisphäre zugesteht. Das äußert sich dadurch, dass er bereit ist, die Ukraine zu einer neutralen Pufferzone zwischen den West- und Mitteleuropäern sowie Russland werden zu lassen. Er hat ja auch geäußert, dass er gut verstehen kann, dass die Russen keine NATO-Truppen vor ihrer Haustür haben wollen. Was wiederum der russischen Position seit den 1990er Jahren entspricht.

Die Europäer hingegen wollen die Ukraine weiterhin politisch und militärisch an sich binden, bis hin zur Mitgliedschaft in der EU. Doch damit wäre die Ukraine kein neutraler Staat mehr, sondern ein integrierter Teil eines westlichen Europas, das bis an die Grenzen Russlands reicht. Damit würde der gegenwärtige Konflikt weiter aufrechterhalten.

Was sollten die Europäer Ihrer Meinung nach tun, um in der Welt wieder ein größeres Gewicht zu haben?
Ich bin seit vielen Jahren der Meinung, dass die Europäer den Willen und die Kraft zur Selbstbehauptung aufbringen müssen – und zwar politisch, wirtschaftlich, technologisch und militärisch, jedoch nicht innerhalb der Rivalität der großen Mächte als vierte Weltmacht.

Heute müssen wir nüchtern erkennen, dass wir von einer solchen Position weit entfernt sind und im System der internationalen Großmächte keine Rolle spielen. Ein geopolitisches Gewicht haben wir auf absehbare Zeit allein im Verbund mit den Vereinigten Staaten als Teil der NATO. Deshalb sollten wir unsererseits alles dafür tun, dass das angespannte Verhältnis zur gegenwärtigen US-Regierung keine grundlegenden Risse in der Bündnisstruktur erzeugt. Das schließt nicht aus, besonnen und in Ruhe zu überlegen, was wir politisch und militärisch tun müssen, um unsere geostrategische Lage zu verbessern.

Noch eine Frage zu Russland. Es gilt in unserer Öffentlichkeit fast schon als Tatsache, dass die Russen nach einem Sieg in der Ukraine als nächstes in NATO-Staaten wie den baltischen Ländern einmarschieren werden. Wären sie – gesetzt den Fall, dass sie tatsächlich die Absicht dazu haben sollten – nach drei Jahren Krieg überhaupt fähig zu einem solchen Angriff?
Sie haben mit dieser Frage genau die richtigen Begriffe genannt. In unserer Öffentlichkeit wird seit einiger Zeit ständig von der russischen Bedrohung gesprochen, ohne jedoch zu erklären, worin diese besteht. Tatsächlich besteht eine Bedrohung aus zwei Teilen, nämlich aus der Absicht, einen Angriff durchzuführen, und aus der Fähigkeit dazu.

Was die Fähigkeit betrifft, ist die westliche Argumentation sehr ambivalent. Einerseits heißt es, die Russen haben ihre Rüstungsproduktion gewaltig ausgebaut, woraus dann die Absicht gedeutet wird, demnächst einen größeren Krieg beginnen zu wollen. Andererseits heißt es, die Russen hätten im Ukrainekrieg ihre Kriegsressourcen verbraucht. Ein sogenannter Experte der ETH Zürich wollte im März 2023 genau berechnet haben: „Russland wird den Krieg im Oktober verloren haben.“ Das Gegenteil ist eingetreten.

Ich plädiere dafür, Russland unvoreingenommen auf der Basis von Fakten zu betrachten. Dazu gehört auch die Frage, ob das Land über eine strategische Ausgangslage verfügt, um einen erfolgreichen Krieg gegen die NATO führen zu können. Die Russen haben in der Ukraine erhebliche personelle und materielle Verluste hinnehmen müssen. Sie haben übrigens schon die Ukraine aus verschiedenen Gründen nicht vollends erobern wollen. Und das wäre eine wichtige Voraussetzung für eine günstige Ausgangslage gegen die NATO.

Falls Russland tatsächlich die Absicht hätte, einen NATO-Staat konventionell anzugreifen – wie viele meinen, vergleichbar dem Ukrainekrieg, in einer Mischung aus Stellungs- und Bewegungskrieg –, wären die Erfolgsaussichten nicht groß. Obwohl das Bündnis derzeit relativ schwach ist, steht im Hintergrund noch immer das Potential der Vereinigten Staaten mit ihren überlegenen Luft- und Seestreitkräften. Es würde zwar bis zu sechs Monate dauern, bis die Amerikaner Landstreitkräfte nach Europa verlegt hätten, aber insgesamt würde das immer noch ausreichen, einen russischen Angriff ins Stocken zu bringen. Die Russen müssten dann überlegen, ob sie weiter konventionell kämpfen oder ob sie sich in einer solchen Notlage befinden, dass sie zum Einsatz von Nuklearwaffen greifen.

Letzteres wäre auch umgekehrt eine Option, falls den Russen ein Durchbruch gelänge. Dann käme die NATO ebenfalls in die Lage entscheiden zu müssen, ob sie – bevor der gesamte Kontinent überrollt ist – zum Ersteinsatz von Nuklearwaffen greift. Beide Szenarien stellen für Russland eine relativ große Abschreckung gegen einen Angriff dar.

Zur Frage einer russischen Angriffsabsicht ist auch festzustellen, dass kein einziger Nachweis dafür erkennbar ist. Die Vereinigten Staaten veröffentlichen regelmäßig eine Bedrohungsanalyse ihrer Nachrichtendienste. Die zuletzt erschienene datiert vom 5. Februar 2024. Darin heißt es: „Russland will mit ziemlicher Sicherheit keinen direkten militärischen Konflikt mit den USA und der NATO.“ Wer andere Erkenntnisse hat, muss diese auf den Tisch legen. Es kann nicht sein, dass immer nur nebulös über eine drohende Kriegsgefahr spekuliert wird. Die Amerikaner, die sehr viel umfangreichere Aufklärungsmöglichkeiten haben als wir, sehen diese Gefahr jedenfalls nicht. Und deshalb bereiten sie sich auch nicht auf einen Krieg mit den Russen vor.

Warum wird dann hierzulande permanent darüber gesprochen?
Ich habe den Eindruck, dass es für manche Akteure vor allem darum geht, die bisherige Ukraine-Politik zu rechtfertigen. Gerade weil die Ukraine dabei ist, den Krieg militärisch zu verlieren, geht es darum, das eigene Handeln wenigstens moralisch zu legitimieren. Und ganz aktuell ist es auch der Versuch, eine Begründung dafür zu finden, dass wir mehr für unsere Verteidigung tun müssen.

Hierzu muss man jedoch sagen: Das erste ist nicht vernünftig – und das zweite ist unnötig. Denn unsere Verfassung schreibt in Artikel 87a ganz klar vor: „Der Bund stellt Streitkräfte zur Verteidigung auf.“ Daraus folgt, dass diese Streitkräfte über die Fähigkeit zur Landes- und Bündnisverteidigung verfügen müssen. Es reicht also völlig aus zu tun, was die Verfassung verlangt.
Der gegenwärtige Zustand der Verteidigungsunfähigkeit ist eine Folge der „Neuausrichtung der Bundeswehr“ von 2011. Das war ein klarer Verfassungsbruch, mit dem wir bis heute leben.

Stimmt bei dem „Sondervermögen“ die Reihenfolge, wenn eine Koalition sich erst einen Finanzrahmen schafft und dann überlegt, was sie damit unternehmen will?
Sie legen auch hier den Finger in die Wunde. Ich erkenne kein Gesamtkonzept zur Wiederherstellung der Verteidigungsfähigkeit unserer Bundeswehr. Es ist zwar in den vergangenen Jahren einiges getan worden, das muss man zugeben. Aber letztlich wurde immer nur an einzelnen Stellschrauben gedreht, ohne ein schlüssiges Reformkonzept, in dem festgelegt ist, über welche Fähigkeiten die Streitkräfte verfügen müssen, welchen Gesamtumfang und welche Struktur sie dafür benötigen und wie die Bewaffnung dazu aussehen muss. Dennoch beschließen wir einen Riesenbetrag für Militärausgaben. Wobei auch hier wieder verschiedene Aspekte zusammenfließen und nicht klar differenziert wird zwischen dem, was für die Bundeswehr aufgebracht werden soll, und beispielsweise dem, was über unsere Streitkräfte als Zwischenstation in die Ukraine gehen soll.

Eine in diesen Tagen und Wochen oft zu hörende Forderung ist die nach eigenen deutschen oder europäischen Atomwaffen. Wenn wir uns nicht mehr auf das atomare Schutzversprechen der USA verlassen können, so die Argumentation, brauchen wir selbst „die Bombe“. Sie waren bei diesem Thema bislang sehr skeptisch. Hat sich daran etwas geändert?
Eindeutig nein. Der Ruf nach deutschen oder auch europäischen Atomwaffen ist einer von vielen verbalen Bällen, die derzeit von Politikern verschiedenster Richtungen in die Luft geworfen werden. Der französische Präsident geht in dieser Frage besonders forsch voran.

Dazu ist zunächst zu sagen, dass auch die französischen Atomstreitkräfte in den Abstimmungsprozess der NATO – ich muss das hier etwas oberflächlich formulieren – integriert sind. Da Deutschland an diesem Prozess beteiligt ist, ergäbe sich für uns keine Änderung; es sei denn, die Franzosen würden sich mit ihren Nuklearwaffen aus dem NATO-Verbund lösen. Hinzu kommt, dass alle Nuklearstaaten in der NATO – neben Frankreich die USA und Großbritannien – für sich das letzte Entscheidungsrecht über den Einsatz von Nuklearwaffen beanspruchen. Somit ergäbe sich auch in dieser Hinsicht keinerlei Veränderung für uns.

Zur Frage, ob Deutschland eigene Nuklearwaffen besitzen sollte, ist zu bedenken, dass wir in mehreren völkerrechtsverbindlichen Verträgen auf den Besitz, die Verfügungsgewalt und die Herstellung von Nuklearwaffen verzichtet haben. Das können wir nicht einfach rückgängig machen.

Die Befürworter von eigenen deutschen Atomwaffen dürften entgegnen, dass uns Verträge nicht mehr binden, wenn deren Grundlagen entfallen sind. Ein weiteres Argument ist, dass in der Welt des 21. Jahrhunderts nur Nuklearmächte wirklich souverän sind.
Das mag plausibel klingen, hilft uns aber in der strategischen Diskussion nicht weiter. Atomwaffen entfalten nur dann eine echte Abschreckung, wenn die Nuklearmächte über eine gesicherte Zweitschlagsfähigkeit verfügen. Damit ist gemeint, dass jeder potentielle Angreifer weiß, dass ein angegriffenes Land auch nach dem Einsatz von Atomwaffen noch zu einem vernichtenden Gegenschlag in der Lage wäre und den Angreifer auslöschen könnte. Nur diese Fähigkeit schreckt davor ab, ein Land atomar anzugreifen. Doch darüber verfügen bislang nur die USA, Russland und bisher noch mit Einschränkungen China.

Insofern bietet uns allein der Schutz durch die Zweitschlagsfähigkeit der Vereinigten Staaten wirkliche Sicherheit. Auch wenn vermutet wird, dass er nicht mehr hundertprozentig gewährleistet ist – ist allein die Ambivalenz, ob er sicher ist oder nicht, ein hoher Abschreckungsfaktor. Alles andere sind Illusionen und Wunschträume.

Also sollten die Europäer ihre Sicherheit eher auf Diplomatie stützen als auf Waffensysteme?
Dieser Aspekt kommt noch hinzu. Aufrüstung allein bringt keine Sicherheit. Ich halte es zwar für wichtig, dass wir – sobald die oben erwähnten konzeptionellen Grundlagen geklärt sind – ein militärisches Gleichgewicht auf dem europäischen Kontinent herstellen, also vor allem die Europäer mehr in ihre Verteidigung investieren. Denn bei einem Gleichgewicht verspürt keine Seite das Verlangen, die andere anzugreifen. Das ist für eine stabile Friedensordnung eine notwendige Voraussetzung.

Aber es ist keine hinreichende Voraussetzung für einen Frieden. Diese entsteht erst dadurch, dass man mit der anderen Seite im Gespräch ist, dass man deren Interessen und Absichten kennt sowie auch, dass man politisch und militärisch vertrauensbildende Maßnahmen ergreift. Wozu vor allen Dingen Rüstungskontrolle und Abrüstung gehören sowie auch Verabredungen, das militärische Gleichgewicht auf einem möglichst niedrigen Niveau festzulegen.

Das sollten wir auch im Hinblick auf die Ukraine bedenken. Diese fordert derzeit Sicherheitsgarantien. Doch die größte
Garantie für die Ukraine ist, wenn wir eine stabile europäische Sicherheits- und Friedensordnung haben, in der sowohl die Ukraine als auch Russland ihren Platz haben, und indem wir gemeinsam dafür eintreten, dass diese Sicherheitsarchitektur erhalten bleibt.

Das Interview führte René Nehring.

General a. D. Harald Kujat war von 2000 bis 2002 Generalinspekteur der Bundeswehr und von 2002 bis 2005 Vorsitzender des NATO-Militärausschusses.


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