19.06.2025

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Die Schwestern der Kinderklinik Tilsit (1938) hatten trotz harter Arbeit ihren Spaß. Nach der Fluchtodyssee fand die Klinik im sächsischen Aue eine neue Heimat
Die Schwestern der Kinderklinik Tilsit (1938) hatten trotz harter Arbeit ihren Spaß. Nach der Fluchtodyssee fand die Klinik im sächsischen Aue eine neue Heimat

Von Russen gejagt und vertrieben

Die Odyssee der Kinderklinik Tilsit

Im sächsischen Erzgebirge fand die berühmte Institution eine neue Heimat und zählt heute noch zu den Besten der Besten

Wolfgang Kaufmann
19.06.2025

Im Jahre 1927 zählte Tilsit mehr als 50.000 Einwohner und war damit die drittgrößte Stadt in Ostpreußen nach Königsberg und Elbing. Vor diesem Hintergrund benötigte Tilsit nun auch eine Kinderklinik, deren erstes Domizil das städtische Armenhaus beziehungsweise Altersheim in der Stiftstraße neben der Neustädtischen Schule wurde. Während des Zweiten Weltkrieges erlebte die Stadt, die direkt an der Grenze zu Litauen gelegen ist, dann ständige sowjetische und anglo-amerikanische Bombenangriffe, die immense Zerstörungen verursachten, bis nach den verheerenden Attacken vom April 1943 und Juli/August 1944, als rund 80 Prozent der Gebäude in Trümmern lagen. Angesichts dessen erfolgte zwischen Juli und Oktober 1944 eine Evakuierung der Zivilbevölkerung und die Sprengung der Brücken über die Memel durch Pioniere der Wehrmacht. Dies war nun die neue Frontlinie. Dennoch gelang es der Roten Armee, Tilsit im Januar 1945 einzunehmen. Später erfolgte die Annexion durch die Sowjetunion sowie die Umbenennung in „Sowjetsk“.

Flucht ins Erzgebirge
Während des Bombenhagels im Sommer 1944 erhielt auch die Tilsiter Kinderklinik einen Volltreffer. Angesichts dessen beschlossen die Verantwortlichen, das Krankenhaus unter der Leitung des Chefarztes Hermann Gabriel mit allen Beschäftigten und kleinen Patienten sowie dem kompletten Inventar nach Westen zu verlagern. Daraufhin begann eine längere Odyssee mit Zwischenstationen im heutigen Polen und dem Arbeiterheim Bermsgrün bei Schwarzenberg, bis der Evakuierungszug schließlich 1946 in der Stadt Aue am Nordrand des Erzgebirges eintraf.

Hier fand die Tilsiter Kinderklinik im Sächsischen Gemeinschafts-Diakonissenhaus Zion ein neues, dauerhaftes Domizil. Das Haus Zion hatte seinen Ursprung in Rathen im Elbsandsteingebirge, wo es im November 1919 gegründet worden war, um dem deutschen Volk in der schweren Zeit nach dem Ersten Weltkrieg „mütterliche Helferinnen“ zur Seite zu stellen. Allerdings reichte der Platz in der Rathener Siegburg bald nicht mehr aus, weshalb der Sächsische Diakonissen-Gemeinschaftsverband eine neue, größere Wirkungsstätte suchte. Diese fand er in einem verlassenen Sanatoriumskomplex an der Schneeberger Straße in Aue.

Lazarett für Schwerverwundete
Hier hatte der Arzt Ernst Pilling 1893 seine „Orthopädische und Wasser-Heilanstalt für bessere Gesellschaftsschichten“ eröffnet, welche aufgrund der Inflation 1924 schließen musste und nunmehr in die Hände der Schwesternschaft kam. Diese betrieb das Sanatorium weiter – ausdrücklich jetzt aber auch für Arme und mit allerlei ergänzenden Angeboten zur Seelsorge.

Während der Zeit des Nationalsozialismus verschwand der Namenszusatz „Zion“. Außerdem fungierte das Haus ab 1941 als Teillazarett Aue des Reservelazaretts Oberschlema. Hier wurden zahlreiche schwerverwundete Wehrmachtssoldaten operiert und gepflegt. Wenige Monate nach dem Ende des Lazarettbetriebs im Oktober 1945 bezog dann die evakuierte Kinderklinik aus Tilsit das Haupthaus der Diakonissen in der Schneeberger Straße und ein Nebengebäude, das sogenannte „Sonnenscheinhaus“. Gleichzeitig wurde sie Teil des städtischen Krankenhauses von Aue, dessen Geschichte bis ins Jahr 1891 zurückreichte.

Das Klinikum expandierte bis 1954 auf ungeahnte Weise. Verantwortlich hierfür war neben dem Zuzug von durch rachsüchtige Russen Vertriebenen aus den deutschen Ostgebieten vor allem auch die massive Intensivierung des Uranerzbergbaus auf Betreiben der sowjetischen Besatzungsmacht, welche spaltbares Material für ihre Atombomben benötigte. Das Krankenhaus in Aue erhielt nun zusätzlich noch eine Frauen-, Augen- und Hals-Nasen-Ohren-Klinik. Ebenso wurde die Kinderklinik stetig ausgebaut und weiter modernisiert.

Ersehnte neue Freiheiten
Seit dem Jahre 1958 trug das gesamte Krankenhaus Aue den Namen des SED-Kommunalpolitikers Ernst Scheffler. Ebenso avancierte es zu einem Leuchtturm der DDR-Medizin: So entwickelte Wolfgang Kaden hier die erste Künstliche Niere des „Arbeiter- und Bauern-Staates“.

Nach der deutschen Vereinigung im Jahre 1990 hieß das Krankenhaus dann zunächst ganz schlicht „Klinikum Aue“. Dem folgte 1996 die Umwandlung in ein Akademisches Lehrkrankenhaus der Medizinischen Fakultät Carl Gustav Carus der Technischen Universität Dresden. Im selben Jahr zog die einstmals aus Tilsit gekommene Kinderklinik an den Hauptstandort der Klinik auf dem Zeller Berg um. Damit konnten die Diakonissen im Haus Zion erstmals seit 1941 wieder frei über ihre Räumlichkeiten verfügen. Deren gründliche Renovierung dauerte bis 1999 und wurde vom Freistaat Sachsen finanziell unterstützt.

Wieder an der Spitze
Die berühmte Kinderklinik ging wie alle anderen Bereiche des Klinikums Aue zum 1. Januar 1998 in den Besitz der Helios-Kliniken über, welche Teil des großen bundesdeutschen Medizintechnik- und Gesundheitskonzerns Fresenius sind. Heute werden in der besagten Klinik für Kinder- und Jugendmedizin im sächsischen Aue rund 2300 Patienten pro Jahr behandelt, wofür die Abteilungen für Kinderchirurgie, Pädiatrische Intensivmedizin, Pneumologie und Allergologie, Diabetologie und Endokrinologie, Gastroenterologie/Nephrologie, Epilepsiediagnostik und -therapie sowie Psychosomatik verantwortlich sind.


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