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Neue Ostpolitik

Eine Revision der Zeitgeschichte

Neue Forschungsergebnisse zwingen zu einem Perspektivenwechsel bei der Bewertung der sozial-liberalen Entspannungspolitik in den 70er Jahren

Reinhard Olt
13.09.2020

Wir müssen umlernen. Willy Brandt war nicht der „Erfinder“ der Entspannungspolitik und Egon Bahr, die „rechte Hand“ des ersten von der SPD gestellten Bundeskanzlers, nicht deren zwischen Bonn, Pankow und Moskau pendelnder Wegbereiter. Als solche sind sie uns im bisherigen wissenschaftlichen Schrifttum von Zeithistorikern und Politologen begegnet, als ebensolche werden sie uns bis heute in der Publizistik mehr oder weniger rühmend präsentiert. Doch die künftige Geschichtsschreibung und diejenigen aus der Historikerzunft, die sich dem Ost-West-Verhältnis in Zeiten des „Kalten Krieges“ zwischen 1945 und 1991 widmen, werden von den Ergebnissen eines österreichisch-deutsch-russischen Mammutprojekts zu einem Perspektivenwechsel gezwungen sein. Dasselbe gilt für denjenigen Teil der Medien, der historiographisch gebotene Veränderungen einem interessierten Publikum nahezubringen willens und zudem in der Lage ist, sie angemessen darzustellen, unvoreingenommen einzuordnen sowie zu erklären.

Denn was die bedeutendsten österreichischen Osteuropahistoriker unter Leitung des Grazer Russlandfachmanns Stefan Karner im Zusammenwirken mit deutschen Kollegen und führenden russischen Geschichts- und Archivwissenschaftlern aus zuvor hermetisch versperrten sowjetischen Aktenbeständen herausfilterten, mit einschlägigem deutschem Archivgut in Beziehung setzten und in dem grundlegenden voluminösen Band „Entspannung im Kalten Krieg. Der Weg zum Moskauer Vertrag und zur KSZE“ (Graz/Wien, Leykam-Buchverlag, 2020) auf 800 Seiten festhielten, legt offen, dass die eigentliche Initiative zur Entspannung zwischen den Blöcken von der durch den sowjetischen Staats- und Parteichef Leonid Breschnew eingeleiteten und forcierten sowjetischen Deutschland- und Westpolitik ausging. Und, sensationell: 100 Archivalien, welche den gesamten Prozess veranschaulichen, sind – über das Monumentalwerk hinaus – im Online-Portal „www.ostpolitik.de“ verfügbar. Darunter in deutscher Übersetzung, was als Besonderheit gelten darf, auch jene russischen Schlüsseldokumente als Faksimiles, welche die zu den neuen Erkenntnissen in der Bewertung der Deutschland-, Ost- und Entspannungspolitik führenden Sachverhalte untermauern.

Die Rolle von Brandt und Bahr

Brandt als Kanzler der sozial-liberalen Koalitionsregierung und Bahr als sein „Handlungsbevollmächtigter“ im Range eines Staatssekretärs, erweisen sich mit der programmatisch und – man darf es ohne Vorbehalt so nennen – auch innen- und parteipolitisch propagierten „neuen Ostpolitik“ lediglich als „Treibriemen“ für die Veränderung des zwischen Warschauer Pakt und Nordatlantischer Allianz bestehenden, konfliktgeladenen Aggregatszustands der Erstarrung. Sie waren sozusagen die westdeutschen Katalysatoren eines auf östlicher Seite maßgeblich von Breschnew forcierten Prozesses hin zu einem weniger spannungsreichen und allmählich moderateren Verhältnis zwischen Moskau und Washington, was auch für die westlich des Europa teilenden „Eisernen Vorhangs“ gelegenen Länder – und naturgemäß für den westdeutschen Teilstaat sowie für die innerdeutschen Beziehungen – von Vorteil sein sollte.

Keineswegs schmälert die Kategorisierung Brandts und Bahrs als Katalysatoren, nicht aber Initiatoren der Entspannung, ihre Verdienste. Diese dürfen jedoch nicht – was die westdeutsche Zeithistoriker-Zunft insbesondere der „Nach-68er-Generation“ eher dürftig beleuchtete – die, wie die Forscher aus Österreich und Russland nun herausarbeiteten, von Moskau durchaus erwünschte Anbahnung eines verbesserten westdeutsch-sowjetischen Verhältnisses seit Adenauers Moskau-Besuch 1955 und der Aufnahme diplomatischer Beziehungen verdunkeln.

Insbesondere dürfen Brandts und Bahrs von Washington anfangs skeptisch beäugten Schritte die ostpolitischen Markierungen nicht verdecken, welche der von 1961 bis 1966 im Amt befindliche Außenminister Gerhard Schröder (CDU) bereits unternommen hatte. Wie aus dem Buch hervorgeht, hielten sich die beiden sozialdemokratischen Ostpolitiker denn auch weitgehend an Leitlinien, wie sie seit der Endphase der Kanzlerschaft Adenauers sowie während der Großen Koalition aus CDU/CSU und SPD unter Kanzler Kurt Georg Kiesinger und Außenminister Brandt gewissermaßen vorgegeben waren.

Moskaus Motive

Als entscheidende Beweggründe für Breschnews Kurswechsel sind ganz überwiegend wirtschaftliche Motive zu nennen. Im Gegensatz zu Nikita Chruschtschow (dem KPdSU-Parteichef von 1953 bis 1964) und der von ihm provozierten Kuba-Krise im Oktober 1962 mit den USA unter John F. Kennedy, vor allem jedoch im Unterschied zu dessen Vorgänger Josef Stalin, denen die von Partei- und Staatsgründer Wladimir Iljitsch Lenin propagierte Weltrevolution vorschwebte und die alles taten, um bei Einsatz des militärisch-industriellen Schwer-industrie-Komplexes der Sowjetunion der marxistisch-leninistischen Weltanschauung den Siegeszug um den Globus zu ermöglichen, konzentrierte sich Breschnew auf den gesellschafts- wie innenpolitisch für ihn absoluten Vorrang genießenden Ausbau der Konsumindustrie. Dabei musste er innere (in Politbüro und Zentralkomitee) sowie blockinterne Widerstände (in den „Bruderländern“) überwinden.

Es kam daher nicht von ungefähr, dass just unter Breschnews Ägide als Partei- und Staatschef (1964–1982) die nach ihm benannte Doktrin von der begrenzten Souveränität der Satellitenstaaten oberste Maxime war und sich nicht allein auf die Außen- und Militärpolitik beschränkte, sondern auch weithin auf wirtschafts- und gesellschaftspolitische Fragen erstreckte und dabei besonders Polen und Ungarn sowie die DDR berührte. Insbesondere in Pankow/Ost-Berlin fürchtete die Partei- und Staatsführung – trotz Niederschlagung des „Prager Frühlings“ durch Sowjettruppen 1968 – den von Breschnew eingeschlagenen „Westkurs“, in Sonderheit dessen Offerten an Brandt. Walter Ulbricht, der stalinistisch geprägte Erste Sekretär des ZK der SED und Vorsitzende des DDR-Staatsrats, sah darin die Gefahr einer Schwächung der sozialistischen Staaten, vor allem der DDR – sowie seiner eigenen Position. Und das nicht zu Unrecht, denn bereits 1971, nur ein Jahr nach Unterzeichnung des Moskauer Vertrags, wurde er auf maßgebliches Betreiben Moskaus respektive Breschnews durch Erich Honecker ersetzt.

Ironie der Geschichte: 1983, elf Jahre nach Unterzeichnung des Grundlagenvertrags zwischen der Bundesrepublik und der DDR, misstraute wiederum die Moskauer Führung unter Breschnews Nachfolger, dem vormaligen KGB-Chef Juri Andropow, den „deutsch-deutschen Sonderbeziehungen“, welche sich just aus Breschnews Westpolitik sowie dem deutsch-sowjetischen und dem deutsch-deutschen Vertragswerk bis hin zur KSZE-Schlussakte von Helsinki 1975 überhaupt erst hatten ergeben können – und blockierte Honeckers Plan eines Besuchs in der Bundesrepublik. Dieser konnte erst 1987 stattfinden, als in Moskau der Reformer Michail Gorbatschow mit „Glasnost“ und „Perestroika“ das seit Breschnews Saturiertheits-Phase in Erstarrung geratene System letztlich erfolglos zu retten versuchte.

Breschnew war seinerzeit indes nicht nur an einer stärkeren Konsumorientierung interessiert, sondern wollte sich just im kapitalistischen Westen gegenüber dem ideologisch von Moskau abgewichenen maoistischen China und dessen zunehmender Bedrohung (durch Bevölkerungswachstum und militärische Stärke) im zentralasiatischen Raum (sowjetische Teilrepubliken Kasachstan, Kirgisien, Tadschikistan) sowie im Fernen Osten (Amur-Ussuri-Grenzkonflikte) sozusagen den Rücken freihalten. Bei moderaterem Gebaren gegenüber dem Westen erstrebte Breschnew mittels Vereinbarungen „zu Vorteil und Nutzen beider Vertragsparteien“ zugleich die Sicherung des infolge des Zweiten Weltkriegs errungenen sowjetischen Vorhofs bis zur Elbe. Wichtige Bausteine dabei waren die De-facto-Anerkennung der Oder-Neiße-Grenze – die DDR hatte dies längst getan – sowie der DDR selbst durch die sozial-liberale westdeutsche Bundesregierung.

Der KSZE-Prozess

Mit dem 1970 von Brandt und Scheel sowie dem sowjetischen Regierungschef Aleksej Kosygin und Außenminister Andrej Gromyko unterzeichneten und alsbald ratifizierten Moskauer Vertrag kam ein Prozess in Gang, der schließlich über die Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (KSZE; Helsinki 1975) und sieben Nachfolgekonferenzen zur OSZE (Budapest 1994) führte und als eine Art „institutionalisierte Entspannung“ gelten kann. Der berühmte „Korb 3“ der Beratungsthemen, der den „Austausch von Informationen und Meinungen“ vorsah, den Breschnew und Moskau sowie die Warschauer-Pakt-Vasallen aufgrund ihrer Praxis gelenkter Medien und Kommunikationsmittel für leicht beherrschbar erachteten, sollte letztlich erheblich zur Systemimplosion und Auflösung des Ostblocks beitragen.

Die aus den bis dato verschlossenen Akten, in Sonderheit aus Dokumenten von Breschnews archivalischem Nachlass, gewonnenen neuen Erkenntnisse und deren Publikation wären, das muss abschließend hervorgehoben werden, ohne die Zugänge und Kontakte, die der Grazer Historiker Stefan Karner, Gründer und langjähriger Leiter des „Ludwig-Boltzmann-Instituts für Kriegsfolgenforschung“ (https://bik.ac.at/), in Russland eröffnete und kontinuierlich ausbaute, nicht möglich gewesen. Hierin zeigt sich, wie schon seinerzeit beim Zugang zu den Akten der in sowjetische Kriegsgefangenschaft geratenen österreichischen Wehrmachtsangehörigen und Zivilinternierten sowie deren gänzlich computerisierter Erfassung sowie Exploration, dass die zielführenden Wege just von diesem österreichischen Historiker und seiner Schule eröffnet wurden.
Man fragt sich jedoch auch, warum das seit 2005 in Moskau tätige – und personell sowie materiell nicht eben schlecht ausgestattete – Deutsche Historische Institut in Moskau daran keinerlei Anteil hat.

• Prof. Dr. phil. Dr. h.c. Reinhard Olt war von 1985 bis 2012 Redakteur der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ und von 1994 bis zu seinem Ausscheiden deren politischer Korrespondent in Wien. Er hatte Lehraufträge an diversen deutschen, österreichischen und ungarischen Hochschulen inne.


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Kommentare

sitra achra am 17.09.20, 09:51 Uhr

Ja, Nikita hätte besser reinen Tisch machen sollen, statt die Raketen in ihren Silos auf Kuba schmoren zu lassen. Wäre uns einiges erspart geblieben. Wirklich schade!

E. Berger am 14.09.20, 10:49 Uhr

Chruschtschow hat die Kuba-Krise provoziert? Es war wohl eher eine Reaktion darauf, dass die USA "mit nuklearen Sprengköpfen bestückte Jupiter-Raketen" (Wikipedia) in der Türkei und Italien stationiert haben, wodurch sich die Sowjetunion unmittelbar bedroht fühlen musste.

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