Preußische Allgemeine Zeitung Zeitung für Deutschland · Das Ostpreußenblatt · Pommersche Zeitung
Das Bernsteinland, wie Agnes Miegel es erlebte – Gedanken über die Natur der Samlandküste
Als Agnes Miegel in der dänischen Verbannung die Verse „Daheim am Dünenstrand“ schrieb, hat sie vom Bernstein, dessen Leuchten durch so manche ihrer Geschichten und Gedichte geht, nichts gesagt. Aber auch sie hat als Kind, so wie wir und unsere Kinder es getan haben, mit ungeduldigen braunen Händen kleine Bernsteinstückchen aus Algen und Tang geklaubt, tiefer und tiefer einsinkend in mahlenden Sand, übersprüht von salzigem Nebel, windzerzaust, wie Strandhafer. Sicher hat auch sie ihren Schatz ängstlich versteckt, wenn der Vater sagte, man dürfe den Bernstein nicht behalten, er müsse abgeliefert werden!
Vielleicht hat sie schon früh etwas geahnt von der dunklen Tragik vergangener Zeiten, wenn zur Schummerstunde in der Küche Gespenstergeschichten erzählt wurden von Bernsteinhexen und von den Galgen, die einmal auf den Seebergen des Samlandes standen. Agnes Miegel, die sich zeit ihres Lebens angezogen fühlte von „O-chens langer, glänzender Bernsteinkette, feurig glühend, purpurn und scharlachrotbraun und goldendurchströmt“, hat wohl schon früh den Vater gefragt: „Woher kommt er, der Stein?“
Und der Vater, der seiner wissensdurstigen Tochter auf eine kluge, verstehende Art die Augen zu öffnen wusste für alles Leben in der Natur und damit auch für die Schönheit der Heimat, der Vater wird ihr gezeigt haben, wie aus Kiefern am Strand goldklares, klebriges Harz heruntertropfte, und er wird ihr erzählt haben, dass auch der Bernstein einmal solch klebriges Harz gewesen und dass er nun tief in der See und tief in der Erde des Samlandes ruhe, in einer Fülle, wie sonst nirgends in der weiten Welt.
Agnes Miegel konnte nicht anders, als aufmerksam und liebend alles zu sehen und in sich aufzunehmen, was von den Eltern und den Ihren so andächtig und liebend verehrt wurde, da ihr die kostbare Gabe verliehen war, alles Schöne und Frohe mit heiterstem Sinne zu genießen und dankbar im Herzen zu bewahren. So hat sie uns, als sie noch daheim war, vom Bernstein und vom Bernsteinland erzählt:
„Ostpreußen vorgelagert wie ein ungeheurer Wachtturm, ragt das Samland in die Ostsee. Wie an· Ketten hängt es in den langen, schmalen Dünenzügen der Nehrung: Funkelnde Wallgräben, breiten sich die beiden Haffe, das Kurische und das Frische Haff, vor das Festland – vor die flache Elchküste der Memelniederung und vor die gesegneten Obsthänge der waldigen Elbinger Höhen. Hier, quer durch die Frische Nehrung, schnitt das Tief, durch das die bunten Drachenboote der Nordlandleute nach Trus9 fuhren, unserer ältesten Stadt, wo Gotennachkömmlinge und Aisten, hellhaarig, rotwangig und tapfer, mit ihnen Handel trieben. Sie sind gekommen und andere kamen auch und kommen immer mehr in unser Samland, an unseren Strand, der uns Königsbergern so vertraut ist, dass wir in der Sicherheit unseres Besitzes, wie ein Kind mit einer besonders schönen Mutter, denken: Es muss so sein, und erst über der Begeisterung der anderen recht merken, wie wir bevorzugt sind ohne unser Verdienst! Es kommt uns kaum zum Bewusstsein, so wenig wie die Kostbarkeit unseres Bernsteins. Die See gab, der Sand gab, sie werden geben in Ewigkeit!
Es ist gut fürs Zahnen, ein Bernsteinkettchen um den zierlichen Kinderhals zu legen, es ist für Große unfehlbar gegen Gliederreißen. Die eine ist für klare und runde Perlen und die andere für längliche und wolkige, es schenkt sich nichts so gut wie Bernsteinsalzfässchen und nichts funkelt wie eine Bernsteinklingel, – aber eigentlich lernen wir erst jetzt, was für eine Schatzkammer dieser Wachtturm Samland birgt. „Es ist das alles noch an unserem Strand wie in Vorväterzeiten –auch wenn die Samländer heute im tuckenden Motorkutter und im Besitz eines Grammophons auf Lachsfang, ausziehen. Auch wenn ihre Häuser seit Generationen Schornsteine haben, und in den Badeorten sich gern „Villa“ nennen und die alte, holzsäulengetragene Vorlaube des baltischen Küstenhauses sich zur „Glasveranda“ ausgewachsen hat, – das meiste, das Grundlegende, die Urmächte des Lebens, sind zwischen Palmnicken und Nidden noch dieselben wie zu den Tagen, als Babylon alt und Rom jung war. Und wenn der ehrenwerte „Boad-Gast“ (den man so gern kommen und auch ganz gern wieder· ziehen sieht, wie Schwalbe und Storch) – wenn also dieser von uns hochgeschätzte Zugvogel sich einmal auf eine der bequemen Bänke an den hübsch gehaltenen Wegen oben bei Georgenswalde oder Rauschen setzt – so wird er in zehn Minuten der Versenkung in diese Landschaft fühlen, was es für uns meint, – seit Menschengedenken in diesem Land zu wohnen, diese See zu befahren, aus diesem Wasser, aus dieser Erdkrume uns zu nähren, auf diesem Boden erzeugt zu werden, ihm unsere Hülle zu geben – oder der weiten kristallnen Fläche dort, der brüllenden Brandung, die uns zerschmettert –, aber die uns, nach altem Glauben, nicht behält, sondern zurückträgt in ihrer Strömung!
Süß ist es, wie ein Wiegenliedchen, das Grillenzirpen von der Wiese – über dem ewigen Lied der Brandung. Und süßer als alles, beruhigend, stärkend, dich erhebend, wie er dir die Gewissheit deines irdischen Leibes wiedergibt – ist der braune, frisch umgepflügte Acker im Abendschein. Seine Schollen liegen wie erstarrte Weilchen, tiefviolett sind die Furchen, goldbraun seine weiche Krume. Der warme Tierdunst der nährenden Erde steigt aus ihm auf, sagt, wie er bereit ist, die neue Saat zu empfangen, das nährende Brot, es durch den harten Winter zu bergen, wenn der Schneesturm durch die kahlen Strandhecken pfeift, wenn die Brandung unten unter graugrüner Eisdecke erstickt – hinein in den späten Frühling, wenn drüben am Schluchthang verharschte Schneeplacken liegen, wenn Tauwasser aus der Lehmwand gurgelt und jenen Erlenbusch drüben, die winterfahle Grasnarbe, den alten Pfahl hinabreißen wird in den Grund – wenn aus dunstigem Gewölk erstes Lerchenlied klingt, zart und süß über dem gleichförmigen Dröhnen der Brandung, die unten weiß und kochend im Weststurm gegen den Steilstrand stürmt ...
Aber noch steht er mit lehmgelber Wand, der Wachtturm unserer Heimat, noch ragt er in die Ostsee, der große Wikinger Friedhof, der Block des Samlands. Verankert im Seegrund, von den Ketten der Dünen beschirmt, mit den Wallgräben der Haffe liegt er vor dem Lande Preußen, die unerschöpfliche Schatzkammer seines Wunderhorts, dem nur er, und niemand sonst, zum Hüter gesetzt ist, von weißen Möwen umflattert, von weißen Segeln umschwärmt, von weißer Brandung umschäumt.“
So erzählte Agnes Miegel, als sie noch daheim war. Dieser Samlandblock aber, den sie einen „Wachtturm der Heimat“ nennt, ist seiner Entstehung nach zurückzuführen auf gewaltige Veränderungen der Erdoberfläche zur Zeit des Diluviums. Gleichzeitig mit einer Landsenke, die unter anderem zur Bildung des Kurischen Haffes führte, fanden Faltungen und Hebungen statt, in deren Folge jetzt am Fuß der Steilhänge älteste geologische Schichtungen bis zurück ins Tertiär offen zutage treten. Die fruchtbare Erde des Diluviums, die auch noch auf dem Grunde des Haffs und sockelartig in Rossitten auf der Nehrung feststellbar ist, ist von entscheidender Bedeutung für das ganze fruchtbare Samland geworden. Wo immer man das Land durchfuhr, überall traf man groß,e, kultivierte Güter, blühende Dörfer und mehr oder weniger ausgedehnte Waldungen.
Fuhr man mit der Bahn von Königsberg nach Cranz, kam man durch die einsame, etwas moorige Fritzener Forst, wo man schon dem Elch begegnen konnte. Man kam in der Nähe von Rudau vorbei, dem ehemaligen Schlachtfeld der Ordensritter, und an der Kaup bei Cranz, dem tausend Jahre alten Gräberfeld der Wikinger.
Wenn man quer durchs Samland nach Neukuhren fuhr, kam man in das Gebiet der großen Teiche von Wargen und Wiekau, die schon zur Ordenszeit durch den „Landgraben“ mit Königsberg verbunden waren und bis zu unseren Tagen das gute, klare Wasser für die Landeshauptstadt lieferten. Man durchkreuzte das Alkgebirge mit dem 110 Meter hohen sagenumwobenen Galtgarben, sturmumbraust und nebelverhangen, für die alten Preußen einst Sitz und Heiligtum der Götter – für die ostpreußische Jugend der letzten Friedensjahre ein rechtes Schneeschuhparadies.
Rundweg mit atemberaubenden Ausblicken
Wer aber am Frischen Haff der See entgegenfuhr, nach Pillau oder Neuhäuser, vorbei an der alten Ordenskirche von Juditten, vorbei an der Ruine der Lochstädter Burg, wo der Hochmeister Heinrich von Plauen einst gefangen gehalten wurde, überall sah er das Samland in seiner Fruchtbarkeit.
Man brauchte Tage, um diesen Samlandblock von Pillau über Neuhäuser und Brüsterort bis nach Cranz zu umwandern, aber „Es ist ein ganz hübscher Weg, du wanderst dort stundenlang – und es ist ein hübscher Weg – es ist, ich will wetten um die größte glückbringende Räucherflunder, um einen steifen Eiergrog – ich will wetten mit die um das glückbringende Flämmchen, das dem Sonnenuntergang nachzüngelt, wenn die glanzlose glühende Scheibe dort nach Nidden zu versank – es ist der schönste Weg, den du je gegangen bist.“ So wettete Agnes Miegel.
Vor Sorgenau an wird die Küste langsam steiler, in Palmnicken sieht man von der See aus noch nicht viel vom Bernsteinwerk, aber durch die viele Schlemmerde die sich von den Abwässern der Bernsteinwäscherei abgesetzt hat, ist der Strand dort breit und weit in die See vorgeschoben. Bei Groß-Dirschkeim treffen wir auf eine der ersten tief ins Land einschneidenden eiszeitlichen Schluchten, sehen wir die Reste des die Küste weit überragenden Galgenberges. Hinter der Spitze von Brüsterort erreicht die Steilküste mit dem Wachbudenberg (60 Meter) ihre größte Höhe. Bei Großkuhren finden wir den eigenartigen, freistehenden „Zipfelberg“, in dessen Schichtungen man zum Entzücken aller Geologen das Wirken der aufbauenden Kräfte offen und klar aufgezeichnet findet und wie in einem Bilderbuch ablesen kann.
Und wieder eine gewaltige Schlucht, eichendurchbraust, umsäumt von der Warnicker Forst, mit einem herrlichen Wanderweg und einer Holztreppe den Steilhang empor, von der Agnes Miegel schreibt: „Sehr steil ist die Holztreppe, so hoch und schmal, dass wir als Kinder glaubten, so müsste die Himmelstreppe sein, wenn wir sie atemlos glühend vom salzigen Wind emporklommen, kleine, flache bunte Steine, Tang und Seemoos oder gar ein Bröckchen Bernstein in den sandigen, braunen Pfoten. Oben an dem wackligen Bänkchen, um das der Wind sauste, – das war der Himmel!“ Ja, und unter diesem weiten Himmel mit dem Blick auf die weite See, da reihte sich nun ein Badeort an den anderen, einer schöner als der andere. Das waren die schnell zu erreichenden sonntäglichen Ausflugsziele für viele Königsberger.
Wer könnte je die Namen vergessen: Georgenswalde mit seinen Götterhainen und alten Steingräbern, Rauschen mit seiner langen Promenade und der Drahtseilbahn, mit seinem Mühlenteich und seinem „Zauberwald“ und den weiten „Katzengründen“. Da war das stille Loppöhnen mit dem dichten Gewirr von Sanddombüschen, da war Neukuhren mit dem romantischen Lachsbachtal, von jeher Ausgangspunkt der bedeutsamen Lachsfischerei, mit einem Hafen, von dem Agnes Miegel schreibt: „Mensch, sag selbst – wenn du ein Ostpreuße bist –, hast du es dir träumen lassen, dass hier an dieser sturmgejagten Küste mal so ein Hafen sein würde? Wenn du das vor 50 Jahren behauptet hättest – in den Lachsbach hätten wir dich gestukt, durch den Borstenstein hättest du gehen müssen, zerdrückt hätte er dich für dein Flunkern! Wir hätten gedacht, du krengelst toller wie die Drehkreuze hier an den Feldwegen, durch die du deine ostdeutsche Gewichtigkeit durchklemmst!“
Ja, es war ein schöner weiter Weg rund um das Samland herum, und überall auf diesem Weg konnte man den Bernstein finden. Oft zeichnete er in blitzend kleinen Stücken die fein geschwungenen Linien nach, die die Flutwelle in den feuchten Sand gezogen, oft, besonders nach starken Nordwestwinden, lag er in großen Stücken zwischen Tang und trockenem Sprockholz versteckt. Ungeheure Mengen von Bernstein sind im Laufe der Zeit an Ostpreußens Küste geborgen worden. Es gibt Berichte, nach denen im Jahre 1862 in einer einzigen Sturmnacht bei Palmnicken in einem Umkreis von etwa sieben Kilometern 40 Zentner Bernstein ausgeworfen und ganze Wagenladungen davon fortgefahren wurden.
Wenn die Erträge aus dem Meere in jüngster Zeit auch zurückgegangen sind, so sind doch immer wieder beträchtliche Mengen festzustellen: 1914 in einer Nacht 18 Zentner, 1931 in wenigen Tagen mehr als 15 Zentner. Ist es angesichts eines solch schier unerschöpflichen Segens des Meeres verwunderlich, wenn Agnes Miegel den Block des Samlands als einen Wachtturm bezeichnet, in dessen Tiefe der goldene Wunderhort ruht? Und dass sie als Kind gefragt hat, wie alle Kinder fragen: .,Was ist das für ein wunderlicher Stein?“
Aus: Margarete Kudnig „Vom Bernsteinland“, Arbeitsbrief der Landsmannschaft Ostpreußen