Preußische Allgemeine Zeitung Zeitung für Deutschland · Das Ostpreußenblatt · Pommersche Zeitung
Das Seminar der Landsmannschaft Ostpreußen bot einen vielschichtigen Blick auf eine komplexe Vergangenheit
Am letzten Wochenende im April fand in der Politischen Bildungsstätte Helmstedt das Kulturseminar „Ostpreußen Land, Geschichte – Kultur“ statt. Die Veranstaltung richtete sich an Teilnehmer aus ganz Deutschland, die auf unterschiedliche Weise mit Ostpreußen verbunden sind. So gab es in der Heimat Geborene, Teilnehmer mit familiären Wurzeln in Ostpreußen, angeheiratete „Beuteostpreußen“ oder an Kultur und Geschichte der Provinz interessierte Nichtostpreußen. Das Land wird und muss heute aus unterschiedlichen Perspektiven betrachtet werden. Viele Menschen blicken mit einer gewissen Nostalgie und Bewunderung auf Ostpreußen, seine reiche Kultur und beeindruckende Geschichte zurück. Dieser Blick auf Ostpreußen ist geprägt von einer positiven Einstellung und dem Wunsch, die kulturellen Wurzeln zu bewahren und weiterzugeben. Andererseits ist die Geschichte Ostpreußens auch von schweren Ereignissen geprägt. Die Flucht und Vertreibung der Bewohner nach dem Zweiten Weltkrieg hat tiefe Wunden hinterlassen. Viele Familien mussten ihre Heimat, ihre Häuser und Nachbarn verlassen. Diese tragischen Geschehnisse sind ebenso ein wichtiger Teil der Geschichte, der nicht vergessen werden darf. Hierzu zählen auch die Wolfskinder. Über deren Schicksal berichtete der erste Referent Günter Toepfer, genauer gesagt über eine Gruppe von ursprünglich 28 Wolfskindern in Tauroggen in Litauen, zu denen er nach dem Mauerfall Kontakt aufgenommen hatte.
Schicksal von 28 Wolfskindern
Eine treffende und kurze Definition auf www.wolfskinder-geschichtsverein.de lautet: „Wolfskinder ist die Bezeichnung für anhanglose deutsche Kinder und Jugendliche, die im Frühjahr 1947 dem drohenden Hungertod im nördlichen Ostpreußen zu entgehen versuchten, aus diesem Grund in Litauen in außerdeutsche Zusammenhänge gerieten und infolgedessen ihre Herkunft zeitweise oder mit Hilfe einer neuen Identität gar dauerhaft verschleiern mussten.“
Toepfer besuchte die Gruppe bereits 67-mal, bildlich dargestellt ist es eine Strecke von 3,5-mal um die Erde. In der Zeit konnte er wichtige Hilfe leisten und half vielen der Wolfskinder bei der Suche nach ihrer deutschen Identität. Ein nicht einfaches Unterfangen, hatte er oftmals nur einen Vornamen als Ausgangspunkt. Das gelang ihm auch bei Gisela, die nach 64 Jahren wieder ihre Geschwister im Arm halten durfte. Die Wolfskinder ließ er selbst zu Wort kommen. In einem 70-minütigen Film erzählten sie von den Entbehrungen ihrer Kindheit. Sätze wie: „Wir aßen Hunde und Katzen, die anderen aßen auch Ratten, aber Ratten aßen wir nicht...“ prägten sich tief in das Gedächtnis der Seminarteilnehmer ein.
Bitter ist, dass der Referent trotz umfangreicher Bemühungen bis heute keinen deutschen Sender gefunden hat, der die eindrücklichen Zeitzeugenberichte der Wolfskinder ausstrahlen will. Für seine humanitären Bemühungen wurde Toepfer mit dem Verdienstkreuz von Estland, dem Vytis-Kreuz von Litauen und dem Bundesverdienstkreuz ausgezeichnet.
Der erste Vortrag am Sonnabend handelte von den Prußen und den Ursprüngen Preußens. Hierfür konnte der Seminarleiter und Bundesgeschäftsführer der Landsmannschaft Ostpreußen, Dr. Sebastian Husen, den Historiker Prof. Dr. Jürgen Sarnowsky gewinnen. Der emeritierte Professor für Mittelalterliche Geschichte an der Universität Hamburg gilt als einer der besten Kenner der Entwicklung der geistlichen Ritterorden im mittelalterlichen Europa und der Geschichte des Deutschordensstaates.
In seinem Vortrag ging er zunächst auf das Bild der Preußen in der frühen Historiographie ein. Einen interessanten Aspekt bildeten die Darstellungen des Chronisten Peter von Dusburg über den Kampf der Prußen gegen den Deutschen Orden. Sein Hauptwerk „Chronik des Preußenlandes“ verfasste der Deutschordenspriester in Königsberg in der Zeit des Hochmeisters Werner von Orseln. Diesem händigte er auch sein Werk im Jahre 1326 aus. Einen weiteren Schwerpunkt des Vortrags stellte die Integration der Prußen in die Herrschaft des Ordens durch Christianisierung, schrittweisen Sprachverlust und Kulturtransfer dar. Der Referent verstand es, die komplexen Zusammenhänge trotz der schwierigen Quellenlage anschaulich zu erklären. Dazu sagte Sarnowsky, der auch Vorsitzender der Historischen Kommission für ost- und westpreußische Landesforschung ist, zum Abschluss mit einem Augenzwinkern: „Ob die verschiedenen Geschichten und Darstellungen der Prußen wahr sind oder erfunden sind, wird man vielleicht nie erfahren, aber zumindest sind sie schön erfunden worden.“
Die Ruhrmasuren
Der nächste Referent war Dieter Chilla. Er wurde 1950 in Gelsenkirchen geboren. Sein Vater war Landwirt in Fürstenwalde im Kreis Ortelsburg und nach seiner Rückkehr aus russischer Gefangenschaft im Bergbau in Gelsenkirchen tätig. Der ehemalige Vorsitzende der Kreisgemeinschaft Ortelsburg und pensionierte Schulleiter sprach zum Thema: „Zwischen Bibel und Bebel – Zur Geschichte der Ruhrmasuren.“
Zehntausende nachgeborene Bauernsöhne und Landarbeiter wanderten ab 1870 in das rheinisch-westfälische Industrierevier ab. So entstand eine masurische Gemeinde an Rhein, Ruhr und Emscher. Angelockt wurden sie häufig durch übertriebene Versprechungen. 1908 hieß es in der Bochumer Bergarbeiter Zeitung: „Masuren! In rein ländlicher Gegend, umgeben von Feldern, Wiesen und Wäldern, den Vorbedingungen guter Luft, liegt, ganz wie ein masurisches Dorf, abseits vom großen Getriebe des westfälischen Industriegebietes, eine reizende, ganz neu erbaute Kolonie der Zeche Victor bei Rauxel. Diese Kolonie besteht vorläufig aus über 40 Häusern und soll später auf etwa 65 Häuser erweitert werden. In jedem Hause sind nur 4 Wohnungen, 2 oben, 2 unten. Zu jeder Wohnung gehören etwa 3 oder 4 Zimmer.“
Sicherheit in der ungewohnten Umgebung im Westen fanden die gottesfürchtigen evangelischen Masuren in den Ostpreußischen Gebetsvereinen, deren religiöse Versammlungen häufig von Laien geleitet wurden. Dieses Spannungsfeld aus tiefer Religiosität, Heimatverbundenheit und der schrittweisen Zuwendung zur Sozialdemokratie schilderte der Referent teils aus seinen Beobachtungen aus der Kindheit.
Er beendete seinen Vortrag mit dem Hinweis, dass erst die Teilnahme der Ruhmasuren am Ersten Weltkrieg und vor allem das überwältigende Bekenntnis zu Deutschland bei der Volksabstimmung 1920, zu der Zehntausende Ruhrmasuren in die ostpreußischen Abstimmungsgebiete gefahren waren, um für den Verbleib des südlichen Ostpreußens beim Deutschen Reich zu votieren, dazu geführt hat, dass die Ruhrmasuren fortan dazu gehörten und nicht nur beim Fußball führende Positionen einnehmen konnten.
Nach der verdienten Essenspause und einem kurzen Spaziergang durch den im ersten Grün erstrahlten Lappwald wurde das Programm mit einer Sprechwerkstatt durch Lienhard Hinz über das Wappentier Ostpreußens, den Elch, fortgesetzt. Der freiberufliche Sprecherzieher war zum wiederholten Male als Referent dabei. Unter dem Motto „Elche stehen und lauschen“ wurden Gedichte über den Elch besprochen, darunter Werke von Heinrich Eichen, Ruth Geede, Erich Hannighofer und Fritz Kudnig. Es gibt in der ostpreußischen Dichtung zahlreiche Beispiele, in denen der Elch als Motiv zu finden ist. Gemeinsam ist ihnen, dass der Elch als ein Bindeglied zur Urzeit verstanden wird. Man interpretiert ihn als Verkörperung der Ewigkeit im Gegensatz zur Nichtigkeit des menschlichen Seins. (siehe dazu auch den PAZ-Beitrag https://paz.de/artikel/elche-steh-n-und-lauschen-a14337.html)
Über Elche sprechen
Am Anfang der Sprechwerkstatt stand die Sprechtechnik, die Aussprache der Vokale und stimmhaften Konsonanten sowie die Explosivlaute am Wortbeginn. Danach wurden verschiedene Elchgedichte in Kleingruppen einstudiert. Jeweils eine Person der Gruppe trug das Gedicht nach einer Vorabmoderation des Referenten vor. Dieser Prozess wurde aufgezeichnet und anschließend die Tonaufnahme allen Teilnehmern als Arbeitsergebnis vorgespielt. Fünfzig Literaturfreunde waren durch aktives Mitwirken begeistert von der wunderbaren Wirkung der Heimat- und Naturgedichte über den Elch.
Wenn es um Agnes Miegel geht, dann gibt es wohl nur wenige Menschen, die mit Leben und Werk der Dichterin so vertraut sind wie Dr. Marianne Kopp, Vorsitzende der Agnes-Miegel-Gesellschaft, und Jörn Pekrul, dem „Königsberger Wanderer“, wie ihn die unvergessene Ruth Geede zu nennen pflegte. Kopp war dieses Mal nur Seminarteilnehmerin, also Großleinwand frei für Pekrul. Und bilderreich war auch sein Vortrag über die Dichterin zwischen Zeiten und Welten. Ergänzt mit Hinweisen zu den Zeitumständen schilderte der Referent das Leben der großen Balladendichterin von der Geburt über die Schulzeit zu den frühen literarischen Versuchen.
Das erste Gedicht in einer Zoppoter Zeitung, Miegels Pariser Zeit, ihre Ausbildung zur Säuglingsschwester in Berlin, Aufenthalte in England und Italien und schließlich ihre Tätigkeit als Redakteurin des Feuilletons bei der Ostpreußischen Zeitung – das sind nur einige Etappen ihres Lebens. Bebildert hat Pekrul seine Zeitreise mit Aufnahmen der Dichterin, alten Stadtansichten und Gemälden, die den Betrachter in die Atmosphäre der damaligen Zeit versetzte und dem Vortrag eine besondere Note gaben. Im Jahr 1940 erhielt Miegel den Goethepreis der Stadt Frankfurt am Main verliehen, in der Zeit davor absolvierte die Schriftstellerin, Journalistin und Dichterin zahlreiche Vortragstermine. Die Flucht und Vertreibung führten sie über das Lager Oksbøl in Dänemark in das niedersächsische Bad Nenndorf. Mitte der 1990 Jahre erfolgte eine Neubewertung der Dichterin, plötzlich galt die Dichterin als dem Nationalsozialismus wohlgesonnen. Dabei bemerkte sie schon nach 1945 zu ihrer Haltung gegenüber dem Nationalsozialismus: „Dies habe ich mit meinem Gott alleine abzumachen und mit niemand sonst.“ Bitten wir Gott, dass wir aus diesem Teil unserer Geschichte lernen, um dadurch wacher zu sein im Blick auf die geistigen Verführungen unserer Zeit und nicht, dass wir die Geschichte nutzen, um Menschen zu verurteilen – wie und weil es uns so passt. Menschen sind in Ihrer Zeit gefangen, aber auch befangen – kommentierte Pekrul zum Schluss. Für seinen in freier Rede vorgetragenen Bildervortrag erhielt der Referent tosenden Applaus.
Abends führte der Weg in die Bierklause, die zum Kinosaal der Landsmannschaft Ostpreußen wurde. Die gesellige Atmosphäre und das gemeinsame Filmschauen haben eine verbindende Funktion. An diesem Abend stand der 2004 entstandene Film „Eigentlich sind wir (auch) von hier“ auf dem Programm, in dem die in der Schweiz lebenden Filmemacherin Margit Eschenbach auf den Spuren ihrer Familie ins heute polnische Braunsberg reist.
Den Sonntag leitete der Architekt Steffen Adam aus Berlin mit seinen Ausführungen zu „Ostpreußens Beitrag zum Wohnungsbau für jedermann – 100 Jahre GEHAG“ ein. Das 1924 vom Berliner Stadtbaurat Dr. Martin Wagner, einem gebürtigen Königsberger, gegründete Unternehmen verfolgte das Ziel, breite Schichten der Bevölkerung mit bezahlbarem, gesundem und nachhaltigem Wohnraum zu versorgen. Das Besondere bestand darin, dass die GEHAG eine Vielzahl von gemeinwirtschaftlich orientierten Organisationen wie Gewerkschaften, Genossenschaften, Ortskrankenkassen, Versicherungen, Konsumgesellschaft als Aktionäre in sich vereinigte.
Das wohl bekannteste Bauwerk der GEHAG ist die Hufeisensiedlung im Berliner Ortsteil Britz des Bezirks Neukölln, die zwischen 1925 und 1933 gebaut wurde. Die Bauten entstanden nach den Plänen des Architekten Bruno Taut. Taut, ebenfalls ein Königsberger, spezialisierte sich auf den Bau standardisierter Häuser, um die Kosten zu reduzieren und zeichnete mit seinen farbigen Bauten für die spezielle GEHAG-Qualität verantwortlich. Vier Siedlungen der GEHAG sind mittlerweile zum Weltkulturerbe der UNESCO erhoben worden.
Winter in Ostpreußen
Die langen Winter in Ostpreußen sind bis heute legendär, kälter als in Ostpreußen war es im Deutschen Reich nirgends. Ein halbes Jahr lang konnten stehende Binnengewässer unter Eis liegen. Und die Menschen, wie gingen sie um mit Schnee, Eis und Frost? Mit dem Vortrag über das „Leben auf dem Eis – Kurioses aus Ostpreußen“ versuchte Dr. Christoph Hinkelmann eine Antwort darauf zu geben.
Ausführlich erklärte der ehemalige wissenschaftliche Mitarbeiter des Ostpreußischen Landesmuseums die Eisfischerei. Einerseits das Klapperfischen mit Stellnetzen und andererseits die aufwendige Fischerei mit dem großen Wintergarn. Weit verbreitet war auch die Eisernte für die Kühlung. Dabei wurden große Eisblöcke aus der Eisfläche ausgesägt, mit Pferdefuhrwerken weitertransportiert und kunstvoll gestapelt. Mit Stroh und Sand abgedeckt, entstand so ein Eiskeller, der die kühlen Blöcke bis in den Sommer hinein konservierte. Auch Freizeit und Sport gab es im Winter, ob Eissegeln, Schlittschuhlaufen, Ski oder Eishockey. Eis und Kälte sind aber auch mit der schmerzhaften Vergangenheit unserer Landsleute verbunden. Bilder von nicht endenden Trecks bei der Flucht im Winter 1945 über das zugefrorene Haff, beschossen von russischen Tieffliegern, im Eis eingebrochene Pferde samt den Wagen, erschöpfte ausgehungerte Menschen.
Diese Bilder erinnern uns daran, wie komplex und schmerzhaft die Vergangenheit ist und fordern uns auf, das Gedenken an die Menschen und ihre Geschichten wachzuhalten. Hierzu leisten die Seminare der Landsmannschaft Ostpreußen mit der großen Bandbreite der behandelten Themen, den qualifizierten Referenten und den engagierten Zuhörern, die sich mit ihren Beiträgen und Fragen im Rahmen der Diskussionsrunden nach den Vorträgen aktiv in das Seminargeschehen einbringen, einen wertvollen Beitrag. Das Seminar wurde durch Mittel der Stiftung „Zukunft für Ostpreußen“ gefördert.