26.10.2025

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Martin Luther: Gemälde aus der Werkstatt Lucas Cranachs des Älteren von 1528
Bild: WikimediaMartin Luther: Gemälde aus der Werkstatt Lucas Cranachs des Älteren von 1528

Reformation

Als der Latein-Nebel sich endlich lichtete

Ein Blick auf jenen Tag vor 500 Jahren, an dem die heilige Messe erstmals in deutscher Sprache gelesen wurde

Bernhard Knapstein
26.10.2025

Der Donnerstagmorgen des 29. Oktober 1525 in Wittenberg ist ein kühler Morgen. Der Nebel hängt vermutlich tief über den Fachwerkhäusern der Stadt. Martin Luther notiert dieser Tage in einem Brief, dass er oft friere, wenn er zur Predigt gehe. Auch an diesem Tag ist wieder morgendliche Eucharistie-Messe. Viele Menschen machen sich auf den Weg zur Stadtkirche St. Marien, andere gehen gedankenverloren direkt zur Arbeit.

Es ist ein schlimmes Jahr. Noch immer sind die Spuren des vergangenen Sommers zu spüren, in dem das Land in Aufruhr stand. Nur wenige Monate zuvor hatten Bauern Heerlager gebildet und Klöster gestürmt. Und Prediger wie Thomas Müntzer hatten zum Aufstand aufgerufen. Von Franken bis Thüringen stiegen Rauchfahnen in den Himmel. Die Kunde vom „heiligen Zorn des Volkes“ war durch alle Dörfer gedrungen. Doch der Aufstand war gescheitert — und mit Müntzers Hinrichtung im vergangenen Mai war eine blutige Zäsur gesetzt. Luther zeigte sich wenig begeistert über den Blutrausch der Aufständigen. „Man muss sie wie tolle Hunde zerschlagen, erwürgen und stechen“, schrieb er. Es sind Worte scharf wie Stahl, die ihn als den Seinen gegenüber entfremdet zeigen. Vielleicht ist es auch die Irritation über das Geschehen, das ihn dazu treibt, die gemeinsame Sprache als Bindeglied zwischen dem Willen Gottes und dem Handeln der Menschen noch stärker in den Blick zu nehmen. Schon seit einigen Jahren wird an verschiedenen Orten damit experimentiert, die Messe in Teilen auf Deutsch zu lesen.

Generalprobe für Weihnachten
Im Inneren der St.-Marien-Kirche bereitet sich einer der stillen Priester der Reformation auf den Gottesdienst vor: Georg Rörer, Schreiber Luthers, gebürtig aus Deggendorf. Wie gewohnt legt er die liturgischen Gewänder an, doch in seiner Hand liegt kein lateinisches Messbuch. Die Seiten sind in deutscher Sprache beschrieben, in klaren, verständlichen Sätzen. „Am 29. Oktober probierten wir die Messe in deutscher Sprach, auf dass die Ordnung zu Weihnachten öffentlich gehalten werde“, notiert Rörer später in seinen Notizen. Ein unscheinbarer Satz, beinahe bürokratisch, und doch liegt in ihm der stille Beginn einer kirchlichen Revolution. Während draußen noch viele die Narben des Aufstands tragen und die Fürsten über Strafen und Abgaben verhandeln, Kaiser Karl V. über die Gefangennahme des französischen Königs triumphiert und das Reich politisch erdrückt, geschieht hier etwas Unspektakuläres und doch Umwälzendes: Die Messe wird vollständig auf Deutsch gelesen.

Die Menschen in den Bänken und die dahinter Stehenden verstehen jedes Wort. Kein geheimnisvolles Murmeln mehr, kein Klang fremder Sprache, das wie Nebel zwischen Altar und Gemeinde liegt. Luther hatte wenige Tage zuvor erklärt: „Wir wollen, dass das Volk weiß, was gebetet wird, und nicht wie bisher mit fremden Worten murmele, die niemand versteht.“ Inmitten eines Reiches, dessen Kaiser gegen Frankreich Krieg führt und dessen Bauern vor wenigen Monaten auf den Feldern erschlagen wurden, wird hier im Gottesdienst zu Ordnung aufgerufen – nicht zu Unterwerfung, sondern zu Verständlichkeit. Es ist, als wolle man nach der Raserei des Frühsommers dem Glauben wieder eine Form geben, die trägt.

Luther selbst besteigt später die Kanzel. Keine Manuskriptblätter rascheln. Er spricht frei. „Gott will kein Geflüster hinter Vorhang und Altar, sondern das klare Wort vor den Ohren der Menschen.“ Es ist ein Satz, der wie ein Gegensatz zu den letzten Monaten klingt, in denen so viele durch das Schwert reden wollten. Kirchenmusik erklingt – aber nicht wie üblich aus dem Chorraum. Die Gemeinde singt mit. Lieder in deutscher Sprache, mit Melodien, wie Luther sagte, „aus rechter Muttersprach und Stimme“. Die Stimmen klingen zögerlich, unsicher, und doch entsteht etwas Neues im Raum — Gemeinschaft nicht durch Gehorsam, sondern durch Sprache.

Die Gemeinde singt mit
Draußen vor der Kirche bleiben Menschen nach dem Gottesdienst stehen, ungewöhnlich lange. Man spricht miteinander. Rörer und Luther bekommen mit, wie die neue Art Gottesdienst ankommt. Es war eine Generalprobe für Weihnachten. Es ist ein Tag der fortgesetzten Distanzierung zu Rom. Wenige Monate zuvor hat der Priester Luther dem Zölibat entsagt und Katharina von Bora geehelicht.

Während Karl V. in Augsburg dem katholischen Reichstag neue Instruktionen sendet und Philipp Melanchthon in Wittenberg an der Schulordnung arbeitet, während sich nach dem Bauernkrieg die Machtverhältnisse neu ordnen, setzt sich hier in Wittenberg ein anderer Gedanke durch: Dass Glaube und Alltag nicht durch Sprache getrennt sein sollen.

Vielleicht ist es dieser Moment, in dem die Reformation aufhört, nur Streit unter Gelehrten zu sein, und beginnt, Volksgeschehen zu werden. Nicht im Sturm der Bauernlager, nicht auf den Schlachtfeldern der Fürsten, sondern hier – im Klang der Muttersprache, in einem Gottesdienst, der verstanden werden kann.

Weihnachten, heißt es bald, werde man die neue Ordnung offiziell einführen. Luthers Archivar Rörer wird sich schon bald an die Vervielfältigung der Gottesdienst-Ordnung setzen.

Und während die Gemeinde sich nach dem Besuch der Messe vom 29. Oktober vor 500 Jahren langsam zerstreut, könnte der Nebel über dem Kirchplatz von St. Marien ein wenig heller geworden sein.


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