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Unruhen

Chaostage in Seattle

Nach den Rassenunruhen etablierte sich ein rechtsfreier Raum in einem ganzen Stadtviertel

Friedrich List
25.06.2020

Nach dem Tod des Afroamerikaners George Floyd protestieren überall in den USA Menschen gegen Polizeigewalt und rassistische Übergriffe. In Seattle an der US-Westküste wurde der Stadtteil Capitol Hill zum Schauplatz gewalttätiger Auseinandersetzungen zwischen Demonstranten und Polizei. Capitol Hill ist von der alternativen Szene geprägt. Hier leben rund 32.000 Menschen.

Die Demonstrationen waren zunächst friedlich. Aber dann eskalierte die Gewalt. Antifa-Gruppen und Black-Lives-Matter-Aktivisten lieferten sich Straßenschlachten mit der Polizei. Die Polizeiwache am Capitol Hill wurde immer mehr zum Fokus der Proteste. Am Montag, dem 9. Juni, wurde sie geräumt. Bürgermeisterin Durkan rechtfertigte das als nötige Deeskalation. Die Protestler errichteten Barrikaden und okkupierten mehrere Straßenzüge samt Park. Dann riefen sie die „Capitol Hill Autonomous Zone“ (CHAZ) aus.

An den Barrikaden zogen Bewaffnete auf. Raz Simone, ein in der Stadt bekannter und populärer Rap-Musiker, rief dazu auf, die „CHAZ“ zu verteidigen und organisierte einen Schichtdienst. Auch der linke „John Brown Gun Club“ verkündete, die besetzte Zone schützen zu wollen. Weitere schlossen sich an. Im Bundesstaat Washington ist das offene Tragen von Waffen erlaubt, ebenso sind Milizen wie der „John Brown Gun Club“ legal. Also laufen nun Freischärler Streife.

Die Besetzer erheben zum Teil sinnvolle Forderungen. Sie wollen, dass die Stadt Seattle mehr gegen hohe Mieten, Obdachlosigkeit, Kriminalität und Drogenmissbrauch unternimmt. Aber sie fordern auch die Auflösung von Polizei und Justiz sowie die Abschaffung der Gefängnisse.

Sozialismus mitten in den USA

Die Stadt verhandelt inzwischen mit den Besetzern. Aber eine wirksame Strategie scheinen die Verantwortlichen nicht zu haben. Ein anonymer hoher Polizeibeamter sprach gegenüber der Presse von chaotischen Verhältnissen in der städtischen Führungsetage.

Berichte über die Situation im Viertel sind widersprüchlich. Neben mehreren hundert Besetzern wohnen dort rund 5000 Menschen. Die Besetzer haben freies Essen, medizinische Versorgung und Unterkunft, Kunstprojekte, Filmnächte und Gemeinschaftsgärten organisiert. Allerdings häufen sich Klagen über Diebstähle unter den Besetzern, über Wohnungseinbrüche und Überfälle. Die Polizei ist in der neuerdings „CHOP“ oder „Capitol Hill Occupation Project“ genannten Zone machtlos.

Die Besetzer wollen keine formale Führungsstruktur. Entscheidungen werden in öffentlichen Debatten getroffen. Also kristallisieren sich einzelne Wortführer heraus. Neben Raz Simone sind das die sozialistische Stadträtin Kshama Savant und die frühere Bürgermeisterkandidatin Nikkita Oliver. Anarchisten, Sozialisten und Black-Lives-Matter-Vertreter ringen miteinander.

Jüngst hat es eine tödliche Schießerei gegeben. Am 20. Juni fuhr ein Mann mit seinem SUV in die Zone und schoss auf Passanten. Es gab einen Toten und einen Verletzten. Aktivisten brachten den Verletzten ins Krankenhaus, hinderten aber die Polizei an Ermittlungen vor Ort.

Die Situation in Seattle lässt sich nur schwer auf deutsche Verhältnisse übertragen. Auch hierzulande gibt es gewaltbereite Extremisten. Aber Deutschland ist politisch nicht so polarisiert wie die USA. Die Waffengesetze sind strenger, und Bürgermilizen gibt es nicht. Trotzdem ist der ethnisch motivierte Protest mit der Entladung sinnloser Gewalt gegen die Polizei über den Atlantik bis hierher übergeschwappt, wie zuletzt die nächtlichen Krawalle in Stuttgart zeigten.


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