07.09.2025

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Die feierliche Einweihung des Lepraheims Memel im Jahr 1899, an der Ärzte wie Stadtvertreter teilnahmen
Bild: WikimediaDie feierliche Einweihung des Lepraheims Memel im Jahr 1899, an der Ärzte wie Stadtvertreter teilnahmen

Memel

Fürsorge unter strengem Ausschluss

Das Lepraheim im Osten des Reiches war das einzige in ganz Europa, in dem man sich aufopferungsvoll um Aussätzige kümmerte

Jens Eichler
07.09.2025

Es steht nach wissenschaftlicher Erkenntnis außer Zweifel, das im Jahr 1848 im Kreis Memel der erste bekannte Fall von Lepra in jüngerer Zeit verzeichnet wurde. Betroffen war eine Magd aus dem benachbarten Samogitien, das damals zum russischen Zarenreich gehörte. Sie hatte die Erkrankung nach Ostpreußen eingeschleppt und binnen von nur vier Jahren mehrere Menschen angesteckt. Weitere Ausbrüche folgten 1863 in Bommelsvitte sowie 1880 in Karkelbeck. Die Krankheit breitete sich langsam in Dörfern wie Wannaggen und Schmelz aus, wodurch ein Herd mit etwa 36 Erkrankten entstand; ein weiterer im Gebiet Wittauten verursachte zusätzliche 15 Infektionen.

Im Jahr 1892 berichtete der Dermatologe Eduard Arning auf einem internationalen Kongress über die Situation der Menschen im Memelgebiet. In der Folge veröffentlichte der Memeler Arzt Julius Pindikowski in der Deutschen Medizinischen Wochenschrift eine Übersicht über verstorbene und lebende Leprafälle und regte parallel zu seinen erklärenden Fachaufsätzen die Gründung eines Leprosenhauses an. „Wir müssen uns kümmern. Diese Menschen brauchen uns!“, appellierte er an seine Kollegen und an die Bewohner des Memelgebiets.

Auf Anweisung des Preußischen Kultusministeriums reiste im Jahr 1896 Alfred Blaschko in die Region und vermutete den Ursprung der Epidemie in den Gouvernements Kurland und Kowno. Robert Koch, der berühmte Mikrobiologe, folgte ihm kurz darauf – begleitet von Kreisphysikus Peter Urbanowicz – und bekräftigte, dass die effektivste Bekämpfung der Seuche nur durch eine konsequente Absonderung der hochansteckenden Erkrankten in einem medizinisch geführten Lepraheim möglich sei.

Nach intensiven Standortdebatten – Städte wie Königsberg, Prökuls oder Süderspitze fielen wegen ihrer Bevölkerungsdichte aus – wurde schließlich eine Schonung rund zwei Kilometer nördlich von Memel ausgewählt. Ein Ort, der sowohl abgeschirmt als auch ästhetisch ansprechend war. Das Gebäude entstand nach Entwürfen des Kunstgewerbemuseums Berlin und unter Ausführung von Otto March. Das Lepraheim wurde kurz darauf nach Plänen von Baumeister Josef Callenberg, Leiter des Hochbauamts in Memel, errichtet. Besonders auffällig war das Sgraffito über dem Verwaltungsbau: eine Darstellung von Christus, der einen Aussätzigen heilt – ein starkes, fast hoffnungsvolles Bild am Tor zur Isolation.

97.500 Mark kostete der aufwendige, bewusst nicht zu schlicht gehaltene Neubau, was etwa 4432 Mark pro Bett entsprach. Schon Mitte Juli 1899 wurde das Leprosenheim Memel offiziell eröffnet – 15 Kranke zogen tags darauf ein.

Zwischen Isolation und Zuwendung
Im 20. Jahrhundert blieb das Lepraheim Memel das einzige seiner Art in ganz Europa und avancierte somit regelrecht zu einem Auffanglager für an Aussatz erkrankte Menschen. Anfangs bot es Platz für je acht Männer und acht Frauen; ab 1909 konnten bis zu 22 Patienten untergebracht werden. Bis zum 30. September 1944 waren insgesamt 42 Männer und sogar 52 Frauen intern unter der Fürsorge des dortigen Fachpersonals.

Die ärztliche Leitung lag beim jeweiligen Amtsarzt – das war erst Urbanowicz, später dann Kurt Schneider. Ausgestattet mit chirurgischen Instrumenten und einem Reinkultur-Apparat für Mycobacterium leprae war das Heim für damalige Verhältnisse eines der modernsten seiner Art weltweit. Krankenschwestern aus dem Königsberger Diakonissen-Mutterhaus der Barmherzigkeit leisteten nicht nur Pflege, sondern organisierten auch den wirtschaftlichen Aufgabenbereich sowie die kompletten Abläufe des Heims. Erwähnenswert ist in diesem Zusammenhang die Diakonisse Emilie Uszkoreit, die ab 1907 über 37 Jahre hinweg für die Kranken geradezu hingebungsvoll sorgte.

Ein furchtbares Einzelschicksal
Ein bemerkenswerter Fall ist der Krankheitsfall von Urte Müller: ein junges Mädchen, das im Lepraheim anfangs als Beobachtungsfall aufgenommen wurde. Sie wurde mit den damals üblichen chaulmoograschen Ölen behandelt, die aber nur geringe Verbesserung brachten. Das kaltgepresste Chaulmoogra-Samenöl war schon damals für seine entzündungshemmenden, beruhigenden Eigenschaften auf der Haut bekannt. Es enthält eine einzigartige Zusammensetzung von Fettsäuren, darunter die Chaulmoograsäure, die als bakterizid speziell auf Leprabakterien wirkt. Doch bei dem jungen Mädchen schlug die Behandlungsmethode einfach nicht an. So versuchten es die Ärzte mit Röntgenstrahlen. Doch aus das blieb erfolglos, verschlimmerte das Leid Müllers sogar noch, bis sie schließlich 1904 im Lepraheim an der furchtbaren Krankheit verstarb. Ihr Schicksal steht symbolisch für viele, die im Dienste der Seuchenbekämpfung isoliert wurden – immer wieder machte der Terminus „lebendig begraben“ die Runde. Und das trotz aufopfernder Fürsorge des Pflegepersonals und medizinischen Fortschritts.

Im Ersten Weltkrieg wurde das Heim durch eindringende russische Truppen rücksichtslos geplündert. Gemäß des Versailler Diktats kam das Memelland zwar unter eine andere Verwaltung, doch das Königsberger Diakonissenhaus blieb weiter verantwortlich für diese einzigartige Institution in Europa. Mit der Rückgliederung 1939 war das Lepraheim dann wieder erneut Teil Ostpreußens.

Jahre später, im Oktober 1944, erforderte die Kriegsentwicklung die Räumung des Heims. Die restlichen Kranken wurden unter schwierigsten Bedingungen auf einem Prahm über drei Tage nach Königsberg überführt. Dort wurden sie weiter betreut. Man brachte die Überlebenden in die ehemalige Nervenklinik der ostpreußischen Hauptstadt.

Die hingebungsvolle Betreuung erfolgte insbesondere durch die zwei Diakonissen Eva und Käthe Leckschas – beide bereits aus Memel evakuiert. Doch fast alle Erkrankten starben in den folgenden Monaten wegen fehlender Medikamente, mangelnder Ernährung und allgemeiner Schwäche – einzig Carl Grimmeisen überlebte. Er hatte seine Infektion ursprünglich in auf einer Reise nach Brasilien erlitten, war über die Jahre hinweg völlig erblindet und wurde später nach Hamburg transportiert – dort durfte er schließlich ins Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf zur weiteren Behandlung. Er verstarb 1954 in Talsen (Lettland), wohin er nach seinem Hamburg-Aufenthalt freiwillig zurückgekehrt war. Ein bewegendes Zitat von ihm, das vor allem die herzliche Pflege im Lepraheim Memel beschreiben soll, lautet:

„Ich bin 47 Jahre krank; aber wenn ich gefragt werde, ob ich dieses Leben noch einmal durchstehen möchte, kann ich nur antworten: ja, auch mit der Lepra.“

Das Lepraheim Memel war kein Ort des bloßen Schreckens, sondern vielmehr Ausdruck medizinischen Pflichtbewusstseins seiner Zeit. Einer Zeit, in der wissenschaftliche Erkenntnis auf soziale Ächtung traf. Es verkörpert ein Kapitel, in dem das Seelenheil und das Zusammenleben von Kranken und Gesunden neu verhandelt wurden – und ein Ort, an dem Fürsorge zugleich Isolation bedeutete.

Das Lepraheim Memel ist bis heute ein wertvolles Beispiel dafür, wie eng Mitmenschlichkeit und Ausgrenzung in Zeiten epidemischer Bedrohung verwoben sein können.


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