06.09.2025

Preußische Allgemeine Zeitung Zeitung für Deutschland · Das Ostpreußenblatt · Pommersche Zeitung

Suchen und finden
Altstadtkirche: An der Stelle des 1882 bis 1884 errichteten und im Zweiten Weltkrieg zerstörten neugotischen Baus (kleines Foto) steht heute ein Neubau
Bilder(2): picture alliance/imageBROKER/Wilfried Wirth; Wikimedia (kleines Foto)Altstadtkirche: An der Stelle des 1882 bis 1884 errichteten und im Zweiten Weltkrieg zerstörten neugotischen Baus (kleines Foto) steht heute ein Neubau

Königreich Preußen

Wie Gelsenkirchen masurisch wurde

Ostpreußische Zuwanderer: Erwartungen, Erfahrungen, Integration und warum sie „richtig Deutsch“ lernen sollten – 2. Teil

Dieter Chilla
06.09.2025

Ein deutliches Zeichen des Interesses der Amtskirche setzte die umfängliche Visitationsreise des evangelischen Oberkonsistorialrats Hermann Pelka aus Königsberg, die er in Zusammenarbeit mit Kirchenvertretern mehrerer protestantischer Kirchengemeinden vom 6. bis zum 15. Oktober 1898 im Ruhrgebiet durchführte. Sein am 30. November 1898 dem Evangelischen Kirchenrat zu Berlin vorgelegter handschriftlicher Bericht zeigt, dass Pelka ein scharfes Auge und ein sensibel-realistisches Verständnis für die Lebensweise der Ruhrmasuren, deren religiöse und sprachliche Bedürfnisse sowie die Sorgen der für sie verantwortlichen Geistlichen hatte. Von Gutsbesitzern in Masuren hatte Pelka den Auftrag erhalten, die Masuren zur Rückkehr in ihre Heimat zu bewegen, da dort der Mangel an Arbeitskräften Teile der Landwirtschaft zum Erliegen brachte. Kaum einer der Angesprochenen dachte jedoch an eine Rückkehr. Die Lebensverhältnisse im Ruhrgebiet boten die deutlich attraktivere Alternative.

Die Beteiligung an den Visitationsgottesdiensten war außerordentlich stark. So erschienen am 6. Oktober 1898 in der Gelsenkirchener Altstadtkirche etwa 2000 Menschen, die teilweise draußen warten mussten. In den Gesprächen nach den Gottesdiensten stellte der Oberkonsistorialrat fest, dass die Erwachsenen Deutsch sprachen, die Älteren teilweise noch Polnisch verstanden. Eindeutig war sein Eindruck von den sprachlichen Fähigkeiten der jungen Generation: „Die Kinder sprachen durchweg deutsch und nur deutsch, dabei war es geradezu ergötzlich, aus ihrem Munde reinen westfälischen Dialekt zu vernehmen.“

Kontrollbesuch aus Königsberg
Besonderes interessierte sich der Geistliche für die politischen Verhältnisse: „Eine Freude war es mir zu hören, daß die Masuren im Ganzen und Großen bisher den Verlockungen der Sozialdemokratie widerstanden und ihre patriotische königstreue Gesinnung sich bewahrt haben, obgleich es in der industriellen Umgebung an Verlockungen zu einer entgegengesetzten Haltung nicht fehlt. In einem Fall fanden wir (...) ein sozialdemokratisches Blatt, ohne daß die Leute eine Ahnung von der Tendenz des Blattes zu haben schienen. Sie versprachen, es abzuschaffen.“ Pelka berichtet von einem Gespräch mit dem Gelsenkirchener Landrat, der ihm freudig erzählte, dass die Ruhrmasuren bei den letzten Reichstagswahlen mit ihren Stimmen den Ausschlag für den nationalliberalen Kandidaten gegen den „regierungsfeindlichen Kandidaten“ der SPD gegeben hatten.

Pelkas Optimismus sollte durch die Wirklichkeit bald nach seiner Abreise widerlegt werden. Die folgenden Reichstagswahlen zeigten eine deutliche Steigerung der Stimmen für die Sozialdemokraten. 1903: SPD 35,0 Prozent; Zentrum 34,7 Prozent; Nationalliberale 26,0 Prozent; Stichwahl: SPD 54 Prozent; Nationalliberale 46 Prozent.

Anteil an den Wahlerfolgen hatte auch das Auftreten und der Habitus August Bebels. Er war ab 1892 Vorsitzender der SPD, hatte vom optischen Erscheinungsbild Ähnlichkeit mit Kaiser Wilhelm II.

Die SPD wurde zur Herausforderung
Wenngleich die Ergebnisse schwankten, blieb die SPD in Folgezeit ein Schwergewicht in der politischen Landschaft. Erst am Ende der Weimarer Republik nahm ihr Anteil zugunsten der NSDAP spürbar ab, 1949 wurde die SPD bei den ersten Bundestagswahlen in Gelsenkirchen auf Anhieb mit 36,94 Prozent stärkste Partei, erreichte ihren Höhepunkt 1987 mit 60,31 Prozent.

Der spätere Gelsenkirchener Pfarrer Oskar Mückeley wurde bereits Ende des 19. Jahrhunderts als Synodalvikar in Gelsenkirchen tätig. Seine Aufgabe war es, sich gezielt um die Masuren zu kümmern. Die Amtspfarrer fühlten sich hinsichtlich der Sprache und Mentalität mit dieser Aufgabe überfordert. Mückeley stammte aus Westpreußen, konnte schnell einen zugewandten, respektvollen Zugang zu seinen ostpreußischen Gemeindemitgliedern entwickeln. In einer programmatischen Schrift setzte er sich bereits 1910 analytisch und weitschauend mit der Situation der Ruhrmasuren auseinander:

„Viel gefährlicher als die Umwerbungen des Polentums sind für die Masuren im Industriebezirk die Lockungen der Sozialdemokratie. (...) Ich habe da während meiner hiesigen 14jährigen Tätigkeit zu meiner großen Betrübnis einen schwerwiegenden Umschwung wahrnehmen müssen.“ 1898 hätten die königstreuen, vaterlandsliebend gesinnten Masuren ihren guten Ruf noch vollends gerechtfertigt. Bei der Wahl im Jahre 1906 erschien ihm der Damm gebrochen. Er müsse „im größten Schmerze“ gestehen, dass viele von ihnen in die Reihen der Roten übergegangen seien. Eine Hauptursache dieses Wandels ist für Mückeley die starke und stetige Abnahme des masurischen Elements und eine lebhafte Verdeutschung. Solange sich die deutsche Sprache der Masuren auf den Alltagsgebrauch beschränkte, waren sie gegenüber der Sozialdemokratie nicht anfällig. Je besser sie lernten, auch anspruchsvolleres Deutsch zu verstehen, „näherten sich ihnen in wachsendem Maße die Wortführer der roten Partei, und ihre bestrickenden Auseinandersetzungen fanden darum bei unseren Masuren so guten Eingang, weil diesen doch zu größten Teil die Fähigkeit fehlt, die Berechtigung der sozialdemokratischen Behauptungen nachzuprüfen.“

Mückeley sieht vor allem in der zugewandten Umgangsweise der Sozialdemokraten einen Schlüssel für politische Akzeptanz: „Ein Masure empfindet es immer schmerzlich, wenn er von den hier angesessenen Deutschen angesehen und mißachtet wird, und er weiß es sehr zu schätzen, wenn man freundlich mit ihm redet und sich um ihn bemüht. Weil nun die ,Genossen' mehr und mehr anfingen, diese Ostpreußen (...) als Mithelfer zur Erreichung ihrer Ziele anzuwerben, fanden sie geneigtes Gehör, und man muß wohl bedenken, daß diese Umwerbungen von Seiten der Sozialdemokratie stetig anhielten, während leider von anderer Seite den Masuren Freundlichkeiten gewöhnlich nur gesagt wurden, wenn etwa eine Reichstagswahl bevorstand.“

Mückeleys folgender Appell an die Obrigkeit kann vor dem Hintergrund des damaligen Obrigkeitsstaates Zeit als durchaus regierungskritisch gewertet werden: „Wann endlich wird man in den wohlgesinnten, national- und königstreu denkenden Kreisen es lernen, daß auch die Masuren nicht mit einem gelegentlichen Aufwallen des Wohlwollens für die Dauer gewonnen werden können, sondern daß dies nur möglich ist, wenn eine stetig sich gleichbleibende Fürsorge den Masuren nachgeht und ihrer eigentümlichen Nothlage nicht ungeduldig drängend, sondern willig und tatkräftig helfend sich annimmt?!“

Schlüsselerlebnis Volksabstimmung
Seitens der Obrigkeit erfolgten jedoch keine wirksamen Maßnahmen. Zu einem geradezu schockhaften Erwachen führten die Bestimmungen des Versailler Vertrags nach dem Ende des Ersten Weltkriegs, der Gebietsabtretungen des Deutschen Reiches vorsah. Polen forderte die Einverleibung Ermlands und Masurens in sein Staatsgebiet. Eine von den Siegermächten kontrollierte Volksabstimmung bot hier den Ausweg. Wahlberechtigt waren auch die Menschen im Ruhrgebiet, die in Ostpreußen geboren waren. Der große Saal des Gelsenkirchener Neustädter Vereinshauses wurde neben sechs anderen Gelsenkirchener Vereinshäusern zur Zentrale für die Vorbereitung der abstimmungswilligen Ostpreußen im Ruhrgebiet. Aus Gelsenkirchen fuhren 73 000 Menschen zur Volksabstimmung an die Orte ihrer Geburt in Masuren und im Ermland. Von den insgesamt 1699 Ortschaften stimmten 1695 für den Verbleib in Ostpreußen und damit im Deutschen Reich. Das machte einen Stimmenanteil im Abstimmungsbezirk Allenstein von 97 Prozent aus. Der sozialdemokratische Reichspräsident Friedrich Ebert ließ über die Presse verkünden: „Das ganze Volk blickt stolz auf die Masuren und Ermländer, das Land, das so ein gewaltiges Bekenntnis zum Festhalten an das Deutsche Reich am 11. Juli abgelegt hat.“

Die Abstimmung vom 20. Juli 1920 trug endgültig dazu bei, den Damm zu brechen. Die Ruhrmasuren gehörten fortan dazu und nahmen zunehmend führende Positionen ein, nicht nur im Fußball. In Masuren und im Ruhrgebiet hatten sich die Turbulenzen der ersten Zuwanderungwelle und der Abstimmungszeit gelegt. Frieden kehrte ein, vorläufig.


Hat Ihnen dieser Artikel gefallen? Dann unterstützen Sie die PAZ gern mit einer

Anerkennungszahlung


Kommentar hinzufügen

Captcha Image

*Pflichtfelder

Da Kommentare manuell freigeschaltet werden müssen, erscheint Ihr Kommentar möglicherweise erst am folgenden Werktag. Sollte der Kommentar nach längerer Zeit nicht erscheinen, laden Sie bitte in Ihrem Browser diese Seite neu!

powered by webEdition CMS