23.11.2025

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Erodierte Bürgerlichkeit: Thomas Mann Anfang der 1930er Jahre
Bild: picture-alliance/dpa/BifabErodierte Bürgerlichkeit: Thomas Mann Anfang der 1930er Jahre

Abschied von der alten Welt

In seiner neuen Arbeit schildert Bestsellerautor Florian Illies das Leben der Familie Thomas Mann im Exil an der Cote d’Azur im Jahr 1933. Wer das Buch gegen den Strich liest, entdeckt darin auch manche Unheilsbeschreibungen unserer Gegenwart

Holger Fuß
23.11.2025

Das Ende kann so unheimlich sein wie der Anfang. Nach Kriegsende 1945, als Deutschland in Trümmern lag, wollte keiner mehr Nazi gewesen sein. Der Führer hatte sich erschossen und seine vormaligen Anhänger waren um geschmeidige Anpassung an die neuen Verhältnisse bemüht. Die vergangenen zwölf Jahre sollten fortan als ein großes Missverständnis gelten. In seinen Jugenderinnerungen „Granatsplitter“ beschreibt der Essayist Karl Heinz Bohrer, Jahrgang 1932, wie sich im Umfeld des damals 13-Jährigen die Nazis und die Mitläufer des Regimes mit den NS-Gegnern erstaunlich schnell auf einen Waffenstillstand und ein Schweigekartell einigten. Der Schlüsselsatz bei Bohrer lautet: „Hätte man die Kluft aufgerissen, dann hätte man sich trennen müssen.“ Ein solcher Schnitt aber kam nicht in Frage. Alles musste ja irgendwie weitergehen.

In dieser Kumpanei der Beschwichtiger, von der uns Bohrer berichtet, schwingt etwas zutiefst Spukhaftes, das uns noch heute frieren macht. Das Böse, so hören wir heraus, kommt immer wieder auch davon. Die Hauptkriegsverbrecher wurden in Nürnberg verurteilt zu Strang oder Gefängnis, aber Heerscharen ziviler Mittäter tauchten unter in der Anonymität des Alltags und lebten weiter, als sei nichts geschehen. Noch einmal ging es in dieser Weise nach 1989 zu, als die zweite deutsche Diktatur in der DDR zusammenbrach. Abermals ertönte das gruselige Echo der davongekommenen Mitmacher.

Über Nacht in einer anderen Welt
Das unterschwellige Grauen, das Bohrer uns vom Ende der Hitlerei anno 1945 überliefert, schildert Florian Illies in seinem neuen Buch „Wenn die Sonne untergeht“ als eine seltsam verwandte Stimmung im Jahre 1933. Die Nationalsozialisten ergreifen die Macht in Deutschland und der prominenteste Repräsentant des deutschen Geisteslebens, der Literaturnobelpreisträger Thomas Mann, flüchtet mit seiner Familie ins Exil – und landet in den Sommermonaten an der Côte d'Azur im Fischerdorf Sanary-sur-Mer.

Mit seiner erprobten anekdotischen Collagetechnik leuchtet Illies nicht nur die mit Verzweiflung tapezierten Abgründe der Mitglieder der Familie Mann aus, sondern entfaltet zugleich ein Epochengemälde in der Nussschale weniger Monate. Wir heutigen Leser wissen, welches Unheil dem Schicksalsjahr 1933 noch folgen wird, und beäugen die handelnden Personen mit einer dem Wissensvorsprung geschuldeten Empathie auf ihrem Gang ins Unausweichliche. Illies hat einen untrüglichen Sinn fürs Groteske, für das Nichtzueinanderpassen von Mensch und Situation, das zutage tritt, wenn in unaufhaltsamer Zeitlupe ein Zeitalter zerbricht, wenn Menschen in der einen Welt schlafen gehen und in der nächsten Welt aufwachen.

Schon der erste Absatz setzt den Ton: „Der Zug nach Amsterdam geht schon um sechzehn Uhr, und Katia hat den Chauffeur für Viertel nach drei bestellt. Warum hat denn weder die Deutsche Reichsbahn noch seine eigene Frau daran gedacht, dass er, der Nobelpreisträger, genau dann gewöhnlich für eine Stunde ruht?“ Da will einer Deutschland verlassen und stellt fest, dass der Gang ins Exil all seinen Lebensgewohnheiten zuwiderläuft. Diese Slapstik-Qualitäten begegnen uns immer wieder. Thomas Mann lebt, als hätte Loriot ihn für einen Sketch erdacht.

Seine ganze Familie tyrannisiert der Großschriftsteller mit intellektueller Ambitioniertheit und hermetischem Ordnungssinn: „,Ru-he' – er teilt das Wort immer fein säuberlich in zwei Silben, wenn ihn eine unnötige Störung des Betriebsablaufs erzürnt.“ Die sechs Kinder zittern vor dem Vater. Das Mittagessen gerät zum täglichen Stresstest, Sohn Golo bereitet sich „auf das Essen manchmal wie auf eine regelrechte Prüfung vor, auf einem Zettel notiert er Themen, die den Vater interessieren könnten“. Sein Bruder „Michael gesteht ihm irgendwann, dass er es genauso macht“. Thomas Mann sagte einmal: „Erziehung ist Atmosphäre.“

Aus dem Bürgertum
In dieser Familie fehlt es nie an Geld, aber stets an Zuwendung. Illies nennt die Familie eine „verstörende Kältekammer“, in der jeder „das brackige Wasser der Einsamkeit“ in sich spürt. Die Kinder buhlen um die Gunst des Vaters, Ehefrau Katia ist mit einem Mann verheiratet, dessen erotisches Feuer nicht ihr, sondern adretten Jünglingen gilt; sie tröstet sich im Glanz des künstlerischen Weltruhms ihres Gatten. „Wir sind eine erlauchte Versammlung – aber einen Knacks hat jeder“, notiert Thomas Mann dazu im Tagebuch.

Während dieser begabte Clan der Verrückten auf einigen Umwegen schließlich das Sommerdomizil einer standesgemäßen Villa mit Mittelmeerblick erreicht und mit Aldous Huxley, Bert Brecht und Lion Feuchtwanger in dem Dörfchen Sanary die heißen Monate verlebt, geht im heimischen München Thomas Manns heimische Welt zugrunde.

Der Rotary Club München trennt sich im April von seinem bis dahin hoch verehrten Freund Thomas Mann: „Sie dürften aber die Entwicklungen in Deutschland genügend verfolgt haben, um zu verstehen, dass wir es für unvermeidlich halten, Sie aus unserer Mitgliederliste zu streichen“, heißt es in einem Brief. Mann hatte schon vor der Machtergreifung vor den Nazis gewarnt, zudem stammte seine Frau Katia aus einer jüdischen Familie, die jedoch zum evangelischen Glauben konvertiert war – nach der NS-Ideologie galten sie dennoch als jüdisch und gefährdet.

Katia, eigentlich Katharina, ist eine Pringsheim. Ihr Vater Alfred ist Mathematikprofessor und vermögender Sproß eines deutsch-jüdischen Eisenbahn- und Kohlegrubenunternehmers in Schlesien. Alfred heiratete die Berliner Schauspielerin Hedwig Dohm, Tochter der gleichnamigen Frauenrechtlerin. Als Hedwig Pringsheim nahm sie Abschied von der Bühne und zog ihre fünf Kinder groß. Die Familie residierte in einer Neo-Renaissance-Villa in der Arcisstraße, dem Palais Pringsheim. Das Ehepaar war mit seiner Kunstsinnigkeit ein gesellschaftlicher Mittelpunkt der Isar-Metropole.

1933 halten viele den Nationalsozialismus anfangs für einen vorüberwehenden Spuk, und schon hier dürfte dem Leser ein erstes Frösteln ereilen. Oma Hedwig, mit Opa Alfred für ein paar Wochen bei den Manns in Sanary zu Gast, liest vor dem Einschlafen Hitlers „Mein Kampf“, sie will sich auf dem Laufenden halten. Dennoch reisen die Alten, beide jenseits der 80, wieder zurück nach München. Unvorstellbar ist es für sie, dass sich die SA-Schergen an einer der ersten Familien der Stadt vergreifen könnten.

Zeit der Zwielichtigkeit
Doch Mitte Juni stehen die Nazis im Palais und kündigen an, die Pringsheims zu enteignen, der Palast werde niedergerissen, um Platz für ein neues Parteigebäude zu schaffen. Bis Ende September sei das Haus zu räumen. Als Hedwig und Alfred im September ihr Haus leerräumen und noch einmal in die Oper gehen, in Smoking und Abendkleid in ihrer Loge sitzen, werden sie kaum noch von jemandem gegrüßt.

Dies ist wohl eine der schauerlichsten Szenen in Illies' Buch. Nicht nur, weil die Pringsheims die diskreten Sympathieträger in dieser Chronik sind, sondern weil die Winde der Niedertracht in unbarmherziger Geschwindigkeit jegliche Stabilität hinwegfegen. Eine Zeit der Zwielichtigkeit beginnt, auf einmal scheint alles wie von Lügen durchglüht. Marion Gräfin Dönhoff wird später in ihren Erinnerungen von einer Gewöhnung mit „den Absurditäten der Nazis zu leben“ sprechen – derart, „dass man, ohne es eigentlich recht zu merken, auf zwei verschiedenen Ebenen dachte und handelte“.

Und hier spannt das Buch von Florian Illies eine weitere Dimension auf. Wenn wir gewissermaßen gegen den Strich lesen und beiseite lassen, dass wir uns durch das Jahr 1933 blättern, dann kommen uns viele Stimmungen, Gesten und Vorkommnisse erschreckend vertraut und gegenwärtig vor. Nicht etwa, weil uns ein zweites 1933 droht, eine neue Diktatur vor der Tür steht – weder ein weiteres NS-Deutschland, noch eine DDR 2.0 steht uns ins Haus.

Brüchige Gewissheiten
Aber wir erleben, wie anfechtbar die Demokratie ist und wie brüchig unsere Gewissheiten sind, die uns noch vor wenigen Jahren als unumstößlich erschienen. Selbstermächtigte Verteidiger „unserer Demokratie“ schicken sich an, die größte Oppositionspartei, die AfD, zu verbieten, als wüssten wir nicht, dass eine Demokratie, die keine konservative Politik mehr zulässt, keine Demokratie mehr ist. Die öffentlich-rechtlichen Medien berieseln das Land ungeniert mit Regierungspropaganda und – als Israel-Kritik getarnter – judenfeindlicher Hetze. Staatlich finanzierte Denunziationsagenturen bewachen einen stetig enger werdenden Meinungskorridor, und Teile der Justiz beteiligen sich durch Hausdurchsuchungen bei unbescholtenen Bürgern an Einschüchterungsversuchen der Öffentlichkeit. Der Bundespräsident, von Amts wegen zur Neutralität verpflichtet, beendet eine sozialdemokratische Wahlkampfrede zum 9. November gegen die AfD mit einer fast mafia-artigen Formulierung: „Tun wir, was getan werden muss!“

Tage zuvor hatten in vorauseilendem Gehorsam Antifa-Attentäter einen Brandanschlag auf das Auto des AfD-Bundestagsabgeordneten Bernd Baumann im Hamburger Westen verübt. Eine Woche später sagte die Fraktionschefin der Grünen in der Hamburgischen Bürgerschaft: „Solidarität ist ein Gefühl – und das teilen wir nicht mit der AfD.“

Es ist dieses eisige Ausmaß an Bosheit, dieses luziferische Geheuchel und das ewig-menschlich Infame, was die aktuellen Nachrichten durchzieht und woran wir bei der Lektüre von Illies' Buch erinnert werden. Schon in den Corona-Jahren meinten aufmerksame Beobachter angesichts der rasanten mentalen Gleichschaltung der Impf- und Maßnahmen-Opportunisten, nun besser verstehen zu können, wie die Gleichschaltung der Bevölkerung anno 1933 wohl vonstatten gegangen sei. Die freiheitlich-demokratische Gesittung scheint als ein dünner Firnis über einem höchst manipulierbaren Untergrund im Menschen zu liegen. Wie schnell biedere Zeitgenossen mit den geeigneten Mitteln in schlimmste Eiferer verwandelt werden können, erleben wir, mal links blinkend, mal rechts winkend, stets aufs Neue.

Als Schriftsteller hat uns Thomas Mann die Fluchtwege des Humors aus diesem anthropologischen Irrsinn aufgezeigt. Als Mensch scheint er sie regelrecht vorgelebt zu haben, wie Illies erzählt. Auch wenn Mann sich in Sanary mitunter gefühlt hat, „als sei er ins Paradies vertrieben worden“, sind er und seine Frau „in den Monaten des Exils immer besorgt, unter ihrem Niveau zu leben, haben Angst, dass etwas ihrer nicht würdig ist, es ist die Sorge vor ,deklassierter Existenz', die Thomas Mann schon immer in den Knochen sitzt und die nun plötzlich wieder akut wird“. Bei Thomas Mann muss die ganze Existenz von einem intrinsischen Gelächter erfüllt gewesen sein.

Holger Fuß ist freier Autor und schreibt regelmäßig für zahlreiche Zeitungen und Zeitschriften über das Zeitgeschehen. 2019 erschien „Vielleicht will die SPD gar nicht, dass es sie gibt“ (FinanzBuch Verlag). www.m-vg.de/finanzbuchverlag 


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