Preußische Allgemeine Zeitung Zeitung für Deutschland · Das Ostpreußenblatt · Pommersche Zeitung
Der Königsberger Junge versteckt sich in Sowjet-Litauen und geht einen Leidensweg durch die Hölle in die Freiheit – 2. Teil
Von 1948 bis 1951 habe ich bei einer Bauernfamilie auf dem Lande gelebt, nicht weit von der Stadt Schaulen [Shiauliai] entfernt, und das sind vielleicht die dunkelsten Jahre in meinem Leben gewesen. Zu dieser Zeit war das Zusammentreiben der litauischen Landbevölkerung in Kolchosen und Sowchosen noch nicht abgeschlossen. In den Sommermonaten hatte ich hier das Vieh zu hüten und im Winter den anfallenden Besorgungen um Haus und Hof nachzugehen.
An dieser Familie, in der ich nebenbei mitlebte, denn mehr war es nicht, waren auch all die politischen und sozialen Lasten und Widersprüche zu sehen, die dem Land durch die beiden Weltkriege aufgebürdet wurden. Einer der Söhne dieser Bauernfamilie hatte sich mit der sich zu-rückziehenden Wehrmacht in den Westen abgesetzt, und die Mutter wusste jahrelang nicht, ob er am Leben geblieben war. Ein zweiter Sohn wiederum hatte sich –wohl mehr aus der Not heraus – von den sowjetischen Okkupanten für die Organisation „Kämpfer gegen die Volksfeinde“ anwerben lassen („Narodnye istrebiteli“, die Litauer hatten den russischen Begriff in das verächtlich klingende Attribut „Skribukai“ umgewandelt). Diese besagte Organisation war gezielt für die Verfolgung und Vernichtung der sogenannten „Waldbrüder“ [Mishkiniai] gegründet worden, die sich dem engagierten unerbittlichen Partisanenkampf gegen die sowjetischen Besetzer der baltischen Staaten verschrieben hatten.
Verborgen bei sich Verbergenden
Der Bauernhof wurde unterdessen allmählich durch immer höhere Steuern dermaßen stranguliert, dass die Bäuerin – der Familienvater lebte nicht mehr – sich 1951 gezwungen sah, bei den zuständigen Behörden einen Antrag zu stellen, damit das Land mit dem Hof in „gesellschaftliches Eigentum“ überführt werden könnte, was in der Praxis die entschädigungslose Enteignung des ganzen Landes, an die 15 Hektar, und des kompletten Hofes bedeutete. Also wurde auch ich jetzt sozusagen „arbeitslos“, und kehrte wieder in die Stadt Schaulen zurück. So kam ich wieder zu den Leuten, die mich bereits vom Frühsommer 1947 bis Frühjahr 1948 beherbergt hatten.
Nun wurde es für mich mehr und mehr akut, endlich auch irgendeinen Schulabschluss zu bekommen, wenn ich noch eine Zukunft haben wollte. Meine sogenannten Pflegeleute konnten mir in dieser Hinsicht aber nicht behilflich sein. Denn sie lebten in der Stadt Schaulen selbst mehr oder weniger im Verborgenen. Waren sie doch seinerzeit aus Kaunas, der „provisorischen Hauptstadt“ von Litauen zwischen den Weltkriegen, geflüchtet, um dem Zugriff der nach Litauen eingedrungenen sowjetischen Okkupanten zu entgehen. Und da sie in Kaunas ein Restaurant für eher reicheres Klientel besessen hatten, gehörten sie somit also zu der von der Sowjetmacht abgestempelten Ausbeuterklasse.
Wenn der Eistod in Sibirien droht
Außerdem lebte bei ihnen im Versteck auch noch ein Bruder meines „Pflegevaters“, der zeitweise zu den „Waldbrüdern“, den litauischen Partisanen, gehörte, die aus den Wäldern heraus gegen die sowjetischen Okkupanten kämpften, auch durch die amerikanischen Rundfunksendungen aus München angestachelt. Das allein hätte schon ausgereicht, um meine Pflegeleute, wie tausende andere Litauer, als „Feinde des Volkes“ abgestempelt irgendwo in die unwirtlichen Weiten von Sibirien zu deportieren, was einem Todesurteil auf eisigen Raten gleichgekommen wäre. Auch die Eltern meines Pflegevaters waren bereits als „Großbauern-Kulaken“ (Kulak = Russisch: die Faust, also Ausbeuter der arbeitenden Bevölkerung, den man mit der geballten Faust droht) nach Sibirien deportiert worden.
Eine neue Identität per Stempel
Neben meinen „Pflegeeltern“ hatte es in der Nachbarschaft auch andere gegeben, die ihre schützende Hand über mich hielten, sei es auch nur, dass sie als frisch getaufte Sowjetbürger eigentlich nicht hätten übersehen dürfen, dass ich als deutsches Flüchtlingskind im Verborgenen unter ihnen lebte. Nun nahm mich eines Tages eine Nachbarin an die Hand und meldete mich unter fremder Identität und unter fremdem Namen bei der litauischen Schulbehörde an. Und da ich mich bereits im 13. Lebensjahr befand und über die Zeit hinweg gezwungenermaßen gewisse Vorkenntnisse, auch von der Litauischen Sprache, mir erarbeitet hatte, kam ich ad hoc in die zweite Schulklasse.
Also war ich nun plötzlich in einer litauischen Grundschule, bei der meine tatsächliche Herkunft geheim gehalten werden musste. Zugleich drohten meine Deutschkenntnisse, die ich als Neunjähriger nach Litauen mitgebracht hatte, allmählich zu versanden. Mit Dankbarkeit erinnere ich mich auch heute noch an meine erste Lehrerin in dieser Grundschule. Auch sie tat so, als wüsste sie nicht Bescheid, auf welche Weise ich bei der Schule angemeldet worden war. Sie hatte ein feines Gespür und ahnte daher, dass es so, wie es erzählt wurde, nicht stimmte. Immer wieder war sie verpflichtet, mich daran zu erinnern, dass ich meine Geburtsurkunde vorbeibringen sollte, und immer wieder übersah sie es, wenn ich es angeblich „vergessen“ hatte.
In Sowjet-Litauen bestand eine staatliche Schulpflicht für einen Jugendlichen bis zur siebten Schulklasse, an der sich dann, wenn man es wollte, die Mittelschule bis zum elften Schuljahr mit einem Abiturabgang anschloss, das offiziell die Berechtigung zur späteren Bewerbung an einer Hochschule ermöglichte. Also habe ich mich mit meiner falschen Identität und unter falschem Nachnamen bis zum Abschluss dieser siebten Klasse mehr oder weniger erfolgreich durchgemogelt. Was sich auf den ersten Blick aber eher wie ein harmloser Streich anhört, war jedoch in Wirklichkeit eine dauernde Gefahr und eine ebenso permanente Angst erwischt zu werden.
Tagsüber Textilfabrik – danach Abendschule
Nun kehrten nach Stalins Tod am 5. März 1953, nach dem XX. Parteitag der Kommunistischen Partei der UdSSR vom 14. bis zum 25. Februar 1956 in Moskau, leicht humanere Zeiten ein, die als „Tauwetter-Periode“ bezeichnet wurden.
Nach der recht erfolgreich absolvierten Hauptschule, also der Beendigung der 7. Schulklasse, wechselte ich anschließend zur weiterführenden Abend-Oberschule. Das war für mich gleichbedeutend mit einer doppelten Belastung. Denn tagsüber ging ich einer geregelten Arbeit nach, um etwas Geld zu verdienen, auch um überhaupt leben oder besser gesagt überleben zu können, – zuerst als Hilfsarbeiter in einer Druckerei, später in der Verpackungsabteilung einer vor Ort exklusiven Textilfabrik, „Verpstas“ – und abends drückte ich dann die Schulbank, um mein nächstes Klassenziel zu erreichen. Nein, das war keine Jugend, die ich als ehemaliges Wolfskind hier erleben konnte, sondern hartes Überlebenstraining.
Mittlerweile hatte ich meinen ganzen Mut zusammengefasst und riskierte es sogar, bei der Milizbehörde einen Personalausweis zu beantragen – und das auch noch auf meinen richtigen Namen. Daraufhin erhielt ich ein Dokument mit der Benennung „Kurzfristiger Ausweis“, in dem unter dem Vermerk Nationalität tatsächlich „deutsch“ eingetragen stand. Und damit war ich auch wiederum zum „weißen Raben“ abgestempelt, im schlechten, aber wie sich später herausstellen sollte, auch im guten Sinne. Der gute Sinn lag darin, dass mich, als ich meinem Alter entsprechend zur Sowjetarmee hätte eingezogen werden sollen, dieser „kurzfristige Ausweis“, der alle sechs Monate von der Milizbehörde verlängert werden musste, nämlich genau vor diesem Einzug zum Militär bewahrte.
Als ich später bei der Milizbehörde den Antrag stellte, nach der Bundesrepublik Deutschland ausreisen zu wollen, wurde ich verpflichtet, dies auch meiner Arbeitsstelle zu melden.
Ausreise in die Bundesrepublik
Ich machte mein Abitur und hatte nun vor, mich für ein Philologiestudium an der Universität in Wilna zu bewerben. Die Macht des Schicksals wollte es, dass ich an der Hochschule die Aufnahmeprüfung schaffte und zum Studium an der Historisch-Philologischen Fakultät zugelassen wurde, an der ich dann zwei Semester lang, vom September 1961 bis Oktober 1962, einem Studium der Germanistik und vergleichender Sprachwissenschaft nachging. Nach meinen nun fünfzehn verbrachten Jahren im damaligen Sowjet-Litauen erhielt ich kurz darauf endlich die ersehnte Erlaubnis zur Übersiedlung in die Bundesrepublik Deutschland.
Und das in einer Zeit, als die Welt bereits am dünnen, seidenen, zerreißbaren Faden eines Atomkriegs baumelte, von dem aber die Milizbehörde in Schaulen nichts wusste oder nichts mitbekommen hatte, sonst hätten sie mir das bei ihnen bereits im Sicherheitsschrank befindliche Ausreisevisum wahrscheinlich eher nicht ausgehändigt.
Im Oktober 1962 war es dann soweit: Ich überquerte im Alter von 24 Jahren mit dem Zug die Grenze zu Westdeutschland, – es war der Eintritt in ein Land, das mir bis dahin völlig fremd war, von den Menschen, von der Mentalität und auch ein Stück weit von der Sprache her. Und dennoch war ich angekommen – ein ehemaliges Wolfskind auf der anderen Seite des Eisernen Vorhangs im Westen.
Wolfgang Toerner, geboren 1938 in Königsberg, studierte in Wilna, Münster und Kiel slawische Philologie, osteuropäische sowie Mittlere und Neuere Geschichte. Von 1971 bis 1998 war er Leiter Fachbereich Fremdsprachen an der Volkshochschule Kiel. Er leitete dort unter anderem Kurse in Russisch und Litauisch. Zudem veranstaltete er Vortragsreihen zur Geschichte Osteuropas, Ostpreußens, Litauens und Russlands sowie über russische und russisch-sowjetische Literaturgeschichte.
A. Lorenz am 12.04.25, 09:02 Uhr
Hallo,
ich danke dem Autor für den sehr persönlichen Bericht. Es ist etwas, was wir Nachgeborenen uns überhaupt nicht mehr vorstellen können, was aber wichtig ist, nicht vergessen zu werden.
Mich würde interessieren, ob er jemals wieder etwas von seiner Schwester oder gar Großmutter erfahren hat.