02.06.2025

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Einst Sitz der Familie: Das heute zerstörte Gut Kukehnen, hier vor 1945. Und die Großmutter des Autors im Alter von 18 Jahren
Bilder: BuchsteinerEinst Sitz der Familie: Das heute zerstörte Gut Kukehnen, hier vor 1945. Und die Großmutter des Autors im Alter von 18 Jahren

Auf den Spuren von Elses Bericht

Über die Annäherung an eine weitgehend vergessene Heimat und das Gefühl einer seltsamen Vertrautheit

Im Gespräch mit Jochen Buchsteiner
01.06.2025

Achtzig Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg ist es still geworden um Ost- und Westpreußen, Pommern und Schlesien. Mit dem Abgang der Erlebnisgeneration hat auch die Zahl der Publikationen darüber merklich abgenommen. Und doch gibt es sie. So wie nun das Buch des FAZ-Journalisten Jochen Buchsteiner. Ein Gespräch über die Annäherung an eine einst prägende Kulturlandschaft und das Gefühl von Heimat in einer Zeit vielfacher Identitäten.

Herr Buchsteiner, Ihr Buch „Wir Ostpreußen“ trägt den Untertitel „Eine ganz gewöhnliche deutsche Familiengeschichte“. Vielleicht mögen Sie zum Einstieg kurz skizzieren, was dies für ein Buch ist?
Das Buch erzählt die Flucht meiner Familie aus Ostpreußen und ist gleichzeitig ein Porträt dieser vergessenen deutschen Provinz. Grundlage ist ein Bericht meiner Großmutter Else, den sie mehr als vier Jahrzehnte nach der Flucht angefertigt hat. Ihr Bericht umfasst sechzig Seiten, und er schien mir so detailliert und in seinen Schilderungen so exemplarisch, dass ich ihn für eine breitere Öffentlichkeit aufbereiten wollte. Im Buch geht es aber auch um die Bedeutung Ostpreußens für die deutsche Geschichte, die enorme geistige Ausstrahlungskraft Königsbergs und die Frage, was davon geblieben ist, überhaupt um die deutsche Erinnerungskultur. Nicht zuletzt sind persönliche Begegnungen mit und im alten Ostpreußen in die Erzählung eingeflossen.

Wie kam es zum Bericht Ihrer Großmutter?
Sie hat, wie viele in ihrer Generation, wenig über den Krieg und die Flucht erzählt. Ich habe sie immer wieder gebeten, eigentlich gedrängt, ihre Erlebnisse niederzuschreiben. Lange Zeit wollte sie das nicht, auch weil sie Angst davor hatte, dass alles, was sie fest in sich verschlossen hatte, wieder hochkommen würde. Ihre Flucht war dramatisch. Kurz zuvor war ihr Mann an der Ostfront gefallen. Dann hatte sie auf der Flucht ihre Kinder verloren und erst nach einer Odyssee wiedergefunden. Der Neuanfang im Westen war auch alles andere als einfach gewesen. Insofern ist es verständlich, dass sie sich nicht gern an diese traumatische Zeit erinnerte. Doch sie hat sich schließlich überwunden. Und ihre Enkel sind heute dankbar dafür.

Wie erfolgte Ihre eigene Annäherung an das Thema? Wenn Sie Ihre Großmutter gebeten haben, ihre Erinnerungen aufzuschreiben, bedeutet das ja, dass Sie sich zuvor bereits damit befasst haben.
Mein Vater war acht Jahre alt, als er Ostpreußen verlassen musste, und er hat intensive Erinnerungen an seine Kindheit. Auch wenn die Flucht selbst kein großes Thema in unserer Familie war, so tauchten doch immer wieder Geschichten auf: Wie es war auf den Gütern, wie sich der Alltag gestaltete, wie es wohl gewesen wäre, wenn die Familie dort geblieben wäre. Insofern bin ich aufgewachsen mit diesen Ostpreußen-Geschichten. Und spätestens als ich Journalist wurde, kam zu meinem persönlichen Interesse das politisch-historische dazu.

Wie kam es zu dem Titel „Wir Ostpreußen“? Man könnte dahinter eher einen Sammelband erwarten als das Porträt einer einzelnen Familie.
Der Titel soll ausdrücken, dass unsere Familie trotz des Verlustes ihrer Heimat auf gewisse Art ostpreußisch geblieben ist. Natürlich ist sie es nicht mehr zu hundert Prozent, und ich – als in Westdeutschland geborener – schon gar nicht, aber ein Stück Ostpreußen lebt eben auch in der zweiten und dritten Generation weiter. Ich bin in meinem Leben ein bisschen herumgekommen: im Rheinland aufgewachsen, später Tübingen, Hamburg, Berlin, dann zwanzig Jahre Auslandskorrespondenz in Delhi, Jakarta und London – von all diesen Stationen habe ich etwas mitgenommen und mit den Jahren, wenn man so will, eine bunte Identität entwickelt. Aber das Ostpreußische ist immer Teil davon geblieben.

Der Buchtitel formuliert aber auch etwas Allgemeineres: Er will darauf hinweisen, dass wir als Nation geprägt sind von der Erfahrung, über Jahrhunderte hinweg in Ostmitteleuropa beheimatet gewesen zu sein, dass diese politische Geographie nachwirkt und wir uns vielleicht weniger davon abgekoppelt haben, als uns das bewusst ist.

Wie meinen Sie das?
Nehmen Sie unser spezielles Verhältnis zu Russland, das sich von dem der meisten anderen Nationen unterscheidet. Zum Teil lässt sich das sicher mit der Erfahrung erklären, Russland über Jahrhunderte geographisch so nah gewesen zu sein – wir waren ja nach den Teilungen Polens sogar Nachbarn und verkehrten als Großmächte auf Augenhöhe. Warum haben wir bis zuletzt, bis Februar 2022, nicht sehen wollen, wie aggressiv sich Russland unter Putin entwickelte? Weil wir das Verhältnis zu Russland, subkutan, als zentral begreifen und die Nationen dazwischen, ihre Sorgen, Empfindlichkeiten und Warnungen nicht ernst nahmen, wie früher.

Bei der Präsentation Ihres Buches gab es gleich mehrere Journalisten, die sich ebenfalls als Ostpreußen „outeten“ und erklärten, dass sie immer Schwierigkeiten damit hatten, dies in der Öffentlichkeit zu erwähnen. Haben Sie eine Erklärung dafür?
Wahrscheinlich scheuen viele, sich zu ihren Wurzeln jenseits der heutigen Grenzen zu bekennen, weil sie fürchten, dass ihnen Deutschtümelei, wenn nicht ein Rütteln am Status quo unterstellt werden könnte. Ich finde, dass wir mit diesem Kapitel deutscher Geschichte achtzig Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs entspannter umgehen können. Das Erinnern unserer Vergangenheit, auch die Wehmut, hat nichts Revanchistisches mehr. In meiner Londoner Zeit habe ich beobachtet, dass viele Briten einen faszinierten Blick auf unsere Geschichte werfen und in Richtung Deutschland fragen: „Warum redet Ihr eigentlich so wenig über Eure preußische Vergangenheit? Preußen hatte doch eine sehr prägende Rolle für die deutsche Geschichte!“ Dieses Staunen hat mir gezeigt, dass man auf Preußen und natürlich auch auf Ostpreußen ganz anders blicken kann, mit Interesse, vielleicht sogar mit ein wenig Stolz, auf jeden Fall mit Neugier. Warum sind wir so wenig neugierig?

Wann haben Sie die Heimat Ihrer Vorfahren zum ersten Mal besucht?
Die beiden Güter meiner Familie lagen knapp fünfzig Kilometer südlich von Königsberg, ziemlich nah an der heutigen Grenze zwischen der Oblast Kaliningrad und Polen, aber gerade noch auf russischem Territorium. Ich bin das erste Mal im Jahr 2000, im Rahmen einer Journalistenreise, dort gewesen. Damals habe ich mich absentiert von der Gruppe, um mir anzusehen, wo meine Familie gelebt hat. Später, als das Buch Gestalt annahm, reiste ich noch zweimal mit meinem Vater dorthin, damit er mir und meinem ältesten Sohn nochmal alles aus erster Hand zeigen kann. Das waren sehr eindrucksvolle Reisen.

Wie haben Sie sich gefühlt, als Sie in die Heimat Ihrer Vorfahren eingetaucht sind?
Es gab da einen eigentümlichen Moment. Eines unserer Güter lag an den Ufern des Alle-Stausees, von dem viel erzählt wurde in unserer Familie, weil dort im Sommer gebadet wurde und im Winter Eissegel-Fahrten und Treibjagden stattgefunden hatten. Obwohl von den Häusern fast alles verschwunden war, hatte ich schon beim ersten Besuch das Gefühl einer seltsamen Vertrautheit und den Eindruck, als würde ich das alles kennen. Ich bildete mir ein, so etwas wie eine innere Stimme zu hören: Hier gehörst du hin, bleib hier. Ich habe mich dann, als geübter Selbstironiker, über meine Gefühlsregungen amüsiert. Trotzdem waren sie in dem Augenblick real.

In den Gesprächen, die ich für das Buch führte, habe ich dann von vielen gehört, dass sie sich bei der ersten Reise in die Heimat der Eltern oder Großeltern auf eine sonderbare Art zu Hause fühlten. Dabei hat es keine Rolle gespielt, ob es sich um eine Stadt oder ein Dorf handelte, oder ob die Orte der Familiengeschichte intakt oder zerstört waren.

Gab es in der Befassung mit Ihrer Familiengeschichte Momente, die Sie besonders bewegt haben?
Da gab es einige. Als wir uns die alte Gutsanlage in Götzlack angesehen haben, sind wir dem neuen Eigentümer begegnet, genauer dessen Verwalter. Er war verständlicherweise erstmal misstrauisch. Als er erfuhr, dass mein Vater auf dem Gut als Kind gelebt hatte, änderte er plötzlich seinen Ton. Er rief den Eigentümer an, einen Duma-Abgeordneten aus Kaliningrad, und der war so begeistert, dass er gleich alles wissen wollte von meinem Vater. Er bat um die alten Karten und alte Fotos und sagte, er wolle alles so wieder aufbauen, wie es jahrhundertelang gewesen war, nur in modernerer Form, als nachhaltiges Natur-Ressort mit Hotelbetrieb. Zum Abschied drückte er uns eine Tüte in die Hand und sagte: „Nehmt das mit, es sind Heimatäpfel.“

Eingebrannt hat sich mir auch ein Bild meiner Großmutter, als sie Anfang der 90er Jahre zum ersten und einzigen Mal in ihre Heimat zurückkehrte. Sie stieg, zusammen mit meinen Eltern in einen Sonderzug in Berlin, ich habe damals beim Einstieg geholfen, und sie war mit ihren mehr als 80 Jahren sehr aufgeregt. Sie hatte einen Blumenstrauß für ihren Mann dabei, der auf dem Gutsfriedhof begraben worden war. Sie hat das Grab dann leider nicht mehr finden können, was sie sehr bekümmert hat. Es war, glaube ich, der Hauptgrund dafür, dass sie noch einmal zurückwollte und diese anstrengende und schmerzhafte Reise auf sich nahm. Irgendwann hat sie einfach auf einen Punkt auf dem Gutsgelände gezeigt und gesagt: „Vielleicht war es hier!“ und dort die Blumen abgelegt.

Ich denke oft daran, wie die alte Dame im Zug verschwand, mit dieser Tasche, aus der die Blumen rausguckten.

Hat es für Ihr Buch eine Rolle gespielt, dass Ostpreußen wieder Brennpunkt der Weltpolitik ist? Die russisch-polnische Grenze, die das alte Ostpreußen teilt, ist ja auch Grenze zwischen Russland und der NATO.
Ja, Ostpreußen ist während des Schreibens zu einem überraschend aktuellen Thema geworden. Wir haben das ja eher für einen versunkenen Teil deutscher und europäischer Geschichte gehalten, und plötzlich ist das Gebiet zurück auf der geopolitischen Landkarte! Meine letzte Reise ging nach Olsztyn, ins frühere Allenstein, das war im Sommer 2024. Von dort ist die Grenze zu Russland nur rund achtzig Kilometer entfernt, und die Sorge, dass die Russen innerhalb eines Tages da sein könnten, schien mir das dominante Thema in der Stadt. Bemerkenswert fand ich, zum Beispiel beim Besuch der Allensteiner Gesellschaft Deutscher Minderheit, dass der aktuelle Konflikt mit Russland auch den Blick auf das belastete Verhältnis zwischen Polen und Deutschen verändert hat, weil nun beide Nationen ein neues, gemeinsames Problem haben: Putin. Die Allensteiner haben heute wieder Angst vor den Russen – nur diesmal als Polen, nicht mehr als Deutsche.

Welchen Raum sollte Ostpreußen in der deutschen Erinnerungskultur einnehmen?
Mich würde es freuen, wenn Ostpreußen dort überhaupt einen Platz hätte. Die Landschaften östlich von Oder und Neiße wirken ja fast wie getilgt aus dem kollektiven Bewusstsein. Natürlich ist es richtig, dass die NS-Verbrechen die zentrale Rolle in unserer Erinnerungskultur einnehmen. In meinem Buch erinnere ich ausführlich an den Judenmord von Palmnicken, das wohl größte Massaker auf deutschem Boden – es fand parallel zum Exodus der Ostpreußen statt, in den Tagen also, als Zehntausende Flüchtlinge von der Roten Armee unter Beschuss genommen wurden. Wer wollte da etwas aufrechnen? Kaum jemand bezweifelt doch, dass es ohne die unbeschreiblichen Verbrechen in deutschem Namen nicht zur ethnischen Säuberung der deutschen Ostgebiete gekommen wäre.

Aber muss das bedeuten, dass das, was unseren Eltern und Großeltern an Leid widerfahren ist, in Vergessenheit gerät? Dass man darüber möglichst nicht oder nur verschämt spricht? Ich wünsche mir ein breiteres, wenn man so will inklusiveres Geschichtsbild, also eins, das alle Aspekte unserer Vergangenheit in den Blick nimmt. Dazu gehören übrigens nicht nur Flucht und Vertreibung, sondern auch die Jahrhunderte vor 1933, in denen in den Gebieten des deutschen Ostens große kulturelle Leistungen erbracht wurden.

Das Interview führte René Nehring.


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Kommentare

Kersti Wolnow am 01.06.25, 09:33 Uhr

In der Auflösung von Preußen nach dem II.WK sehe ich einen tiefen historischen Sinn, weil sich mit der 2. Welle, den 68ern die innere Auflösung preußischer Werte, vollzog.
Das war nicht zufällig, sondern Absicht. Das Verächtlichmachen von Volksliedern, die Vernichtung der Rolle der Frau, das zielgerichtete Zerstören unserer einst vorbildlichen Bildungseinrichtungen bis heute zu dem Quatsch von Gender. Wir wurden zielgerichtet verhausschweint und werden es mit ganz Westeuropa weiterhin, wenn uns Rußland als Nachfolger der UdSSR und die USA nicht schleunigst die Souveränität zurückgeben, die uns in Potsdam 1945 für jetzt 80 Jahre genommen wurde. Ohne Wahrheit kein Frieden, schon gar nicht im Herzen. Auch meine Vorfahren waren betroffen, ich jedoch fuhr zur Besichtigung nicht nach Polen. Unser Haus wurde abgetragen, wurde mir erzählt.

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