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Eriwans Kompass zeigt Richtung Westen – Vom postsozialistischen Mauerblümchen zur erblühenden Metropole
Armenien, armes Land? Armut hat viele Definitionen und Berechnungen. Nimmt man die Megastaus auf Eriwans vier- bis fünfspurigen Straßen – in jeder Richtung! – zum Maßstab, dürfte das Wort Armut kaum anwendbar sein. Blickt man auf die ruinösen, zum größten Teil wohl verlassenen kleinen Häuser am Stadtrand und die Industriebrachen, dann trifft der Begriff unübersehbar zu.
Eriwan mit über einer Million Einwohnern (Gesamt-Armenien hat nach Schätzungen von 2024 rund drei Millionen) besitzt nach Armeniens Neustart am 21. September 1991 als unabhängige Republik überraschend viel buntes Großstadtflair. Die Richtung zeigt nach Westen. Erste Fremdsprache ist Englisch. Bei der Jugend sowieso, und bei der älteren Generation wird Russisch heute gern schon einmal überhört.
Die eindrucksvolle Hauptachse führt von Nord nach Süd quer durch das Zentrum der Stadt. Beginnend bei der großen Kaskade, vorbei an der Oper und über den Nördlichen Boulevard, Eriwans glamouröse Luxusmeile, bis zum Platz der Republik und von dort weiter durch eine von den armenischen Geschäftsleuten Mikael und Karen Vardanyan mit Hilfe der Familienstiftung erstellte neue Parkanlage.
Es war ein Geschenk an die Eriwaner zum 2800. Stadtgründungs-Jubiläum im Jahr 2018. Mit kleiner Verzögerung wurde der 5420 Quadratmeter große Park mit 250 neu angepflanzten Bäumen 70 verschiedener Arten im Mai 2019 der Öffentlichkeit übergeben. Hinzu kam ein mit 2800 Düsen bestückter Brunnen, Bronzeskulpturen und ein eindrucksvolles Mosaikpflaster.
Seitdem verbindet der Vardanyan-Park den Republikplatz mit dem neuen Rathaus, ein imposanter moderner Bau aus roten Tuffquadern von 2005. Endpunkt der Nord-Süd-Achse ist die Kognakfabrik Ararat, die jenseits des Stadt-Flusses Hrazdan am Berghang thront.
Wer diese knapp fünf Kilometer lange Route „abarbeitet“, ist bei einem Städtetrip schon gut beschäftigt. Das erfahren wir auch von Maria. Die Italienerin kam vier Mal nach Eriwan, dann entschloss sie sich zu bleiben. Die Rentnerin gab vor gut vier Jahren ihre Wohnung in Mailand auf, um sie durch ein möbliertes Appartement in Eriwan zu ersetzen. Bereut hat sie diesen Schritt bis heute nicht. Mailand sei ihr zu hektisch, zu voll, zu überfremdet und zu unsicher geworden. In Eriwan habe sie diese Ängste nicht.
Dabei nutzt sie weidlich das Angebot im Kombi-Bau aus Oper und Philharmonie. Schon für umgerechnet sechs Euro versinkt man bestens platziert in den bequemen breiten Plüschsitzen der Konzerthalle, um bei hervorragender Akustik dem Staatlichen Armenischen Sinfonieorchester zu lauschen. Das tun vor allem die Armenier selbst. Jung und Alt hören mit großer Kennerschaft zu und applaudieren entsprechend – heftig oder verhalten. Eine Kleiderordnung gibt es nicht.
In wasserloser Schönheit erstarrt
Alle Zelte abgebrochen hat Maria in ihrer alten Heimat vorsichtshalber nicht. Sie baut im Ernstfall doch mehr auf die italienische Gesundheitsversorgung als auf die armenische. Maria sieht sich selbst als Einzelfall. Doch wer hätte selbst mit diesem hier gerechnet?
Die Vardanyan-Brüder sind nicht die einzigen Mäzene, die Eriwan ihren Stempel aufgedrückt haben. Eine echte Landmarke im Stadtbild ist die große Kaskade mit ihrer über hundert Meter hohen Kalkstein-Treppe. Sie wurde schon während der Sowjetzeit begonnen und ist genau genommen noch immer nicht fertig. Anfang der 2000er Jahre übergab man das Projekt Gerard Cafesjian, einem amerikanisch-armenischen Magnaten und Sammler moderner Kunst.
Aus „Armeniens Guggenheim“ ist bisher zwar nichts geworden. Doch die Cafesjian-Sammlung neben den Rolltreppen innerhalb der Kaskade und der Skulpturenpark zeitgenössischer Bildhauer wie Fernando Botero oder Lynn Chadwick zu ihren Füßen verdeutlichen immer noch den ambitionierten Plan.
Während die Kaskade in wasserloser Schönheit erstarrt, schießen die Fontänen am Republikplatz von Mai bis Oktober jeden Abend von etwa 21 bis 23 Uhr computergesteuert als Wasser-, Licht- und Musikshow in die Höhe. Nachdem die Wasserorgel jahrelang defekt war, wurde sie von der französischen Firma Aquatique Show International für 1,4 Millionen Euro saniert und Ende 2007 wieder in Betrieb genommen. Auch die altehrwürdige Kognakfabrik Ararat ging 1998 an die französische Pernod-Ricard-Gruppe. So reihen sich die deutschen Touristen nach Taxifahrer-Meinung auch erst hinter den Franzosen ein: „Germans are very good, French people are very, very good.“
Der Löwe und der Bulle am Eingang zum Vardanyan-Park sind alte urartäische Motive. Archäologen haben sie gefunden, als sie am südöstlichen Stadtrand die im Jahr 782 v. Chr. von dem urartäischen König Argischti I. gegründete Stadtfestung Erebuni entdeckten. Die gewaltige Festung war die damals wichtigste Zitadelle an der Nordgrenze des riesigen, lange vergessenen Königreichs Urartu, das im 9. Jahrhundert v. Chr. aus dem Dunkel der Geschichte auftauchte und im 7. Jahrhundert v. Chr. wieder darin verschwand.
Diesem spannenden Stück altorientalischer Historie kommt man auf die Spur, wenn man die Festung und das gleichnamige Museum zu ihren Füßen sowie – unbedingt – das Historische Museum am Republikplatz besucht. In der Archäologischen Abteilung ist Urartu dort ein ganzer Saal gewidmet. Mit dem Erebuni-Yerevan-Festival feiert Eriwan jeden Oktober die Gründung der Stadt.
Zur Stadt gehört der Blick auf den Ararat. Leider verbirgt sich Armeniens Nationalsymbol, das heute in der Türkei liegt, meist hinter Wolken. Bei klarem Wetter hat man vom Zizernakaberd-Hügel mit dem Denkmalkomplex zum Gedenken an den Völkermord durch die Türken 1915 die beste Sicht. Ob Angela Merkel am 24. August 2018 diesen Paradeblick auf den
5137 Meter hohen Vulkankegel hatte? Wie François Hollande, Emmanuel Macron und andere Politiker pflanzte sie bei ihrem Besuch am Mahnmal zum Gedenken an die Opfer ein Tannenbäumchen.
Führung mit Verkostung in der Kognakfabrik: www.araratbrandy.com