03.10.2025

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Deutschland 2025 - da schaut selbst der Bundesadler skeptisch 
Bild: ChatGPT / AI generiertDeutschland 2025 - da schaut selbst der Bundesadler skeptisch 

Gesellschaft

Das andauernde Unbehagen in Sachen deutsche Einheit

Trotz unzähliger Erfolge auf dem Weg des Zusammenwachsens zwischen Ost und West bleibt ein Gefühl von Unvollkommenheit. Eine Spurensuche

René Nehring
03.10.2025

Frei, vereint und unvollkommen.“ So heißt es im Titel der jüngsten Ausgabe des jährlichen Berichts des Ost-Beauftragten der Bundesregierung zum Stand der deutschen Einheit aus dem Jahr 2024. Ein Dreiklang, der in vielerlei Hinsicht treffend die Lage unseres Landes 35 Jahre nach der staatlichen Einheit von 1990 umschreibt.

Frei sind die Deutschen sowohl nach innen als auch nach außen. Trotz mancher autoritärer Anwandlungen in den letzten Jahren – Stichwort: deutsches Netzwerkdurchsetzungsgesetz oder Digital Service Act der EU, mit denen vorgeblich „Hass und Hetze“ im Internet bekämpft werden sollen, die aber auch geeignet sind, sukzessive die Räume des Sagbaren zu verengen – ist das vereinte Deutschland noch immer einer der liberalsten Rechtsstaaten der Welt. Wer daran zweifelt, möge sich ehrlich die Frage stellen, in welchem Land er lieber leben will.

Außenpolitisch erhielt Deutschland mit dem „Zwei-plus-Vier-Vertrag“ (Artikel 7, Absatz 2) die „volle Souveränität über seine inneren und äußeren Angelegenheiten“ zurück. Allerdings nimmt das Land diese Souveränität in mancherlei Hinsicht nicht mehr als alleinstehender Nationalstaat wahr, sondern geteilt in Bündnissen wie EU und NATO. Auch dort gibt es seit geraumer Zeit bedenkliche Tendenzen, etwa der Ignoranz gegenüber den Interessen einzelner Mitgliedstaaten wie Ungarn und der Slowakei. Gleichwohl hat der Brexit gezeigt, dass es einem Land freisteht, ein Bündnis auch wieder zu verlassen, falls es zu dem Ergebnis kommen sollte, dass die Nachteile einer Mitgliedschaft die Vorteile überwiegen.

Das Stichwort „vereint“ aus dem oben zitierten Dreiklang ergibt sich von selbst. Längst sind die Deutschen auf vielfältige Weise zusammengewachsen. Nachdem in den ersten Jahren vor allem „Ossis“ gen Westen zogen, haben sich inzwischen auch unzählige „Wessis“ zwischen Rügen und dem Thüringer Wald niedergelassen. Dass die Einheit im Alltag kaum noch Thema ist, liegt sicher auch daran, dass aus dem Osten stammende Fußballer wie Michael Ballack und Toni Kroos, Schauspieler wie Anna Loos und Jan Josef Liefers, Maler wie Neo Rauch und Norbert Bisky oder Schriftsteller wie Christoph Hein und Uwe Tellkamp zu prägenden Figuren gesamtdeutschen Lebens wurden. Nicht zuletzt spielt auch der Faktor Zeit eine Rolle. Wer heute 40 Jahre alt ist, also die ungefähre statistische Mitte seines Lebens erreicht hat, hat die Teilung entweder gar nicht mehr erlebt oder kann sich nicht mehr daran erinnern.

Irgendetwas fehlt
Und doch ist da dieses „Unvollkommene“, von dem nicht nur der Bericht zum Stand der Einheit spricht. Auch viele Landsleute empfinden so. Irgendetwas fehlt den Deutschen auch 35 Jahre nach jenen glücklichen Tagen und Wochen, in denen binnen weniger Monate die staatliche Einheit gelang, um mit sich und ihrem Land im Reinen zu sein.

Ein Grund für das Unbehagen sind zweifellos die Narben, die der Einigungsprozess erzeugte. Dass Millionen Menschen über Nacht arbeitslos und ganze Industrielandschaften abgewickelt wurden, hat im Osten den Jubel über die Einführung der D-Mark schnell abklingen lassen. Und dass an die Stelle der davongejagten SED-Kader schon bald Führungspersonen aus dem Westen kamen und fortan erklärten, wo es langging, sorgte vielfach für ein Gefühl feindlicher Übernahme. Im Westen wiederum machte sich ein Gefühl von Undankbarkeit breit. Bekamen die „Ossis“ nicht jährlich Hunderte Milliarden Mark und später Euro (insgesamt über zwei Billionen Euro) für neue Straßen, Bahnstrecken und Telefonleitungen sowie enorme Sozialleistungen für die Angleichung der Lebensstandards? Empfindungen wie diese können jede noch so gute Erfolgsbilanz nachhaltig vergiften.

Ein gewichtiger Grund für das Gefühl von Unvollkommenheit in Sachen Einheit ist sicherlich auch, dass die Deutschen trotz der Allgegenwärtigkeit des Themas wenig darüber nachdachten, welche Folgen ihr Zusammenschluss für das Bewusstsein von sich selbst haben würde. Schon dass der Begriff „Wiedervereinigung“ Unsinn war, weil das, was 1990 entstand, zuvor gar nicht existiert hatte, stimmte kaum jemanden nachdenklich. Was für eine Nation die Deutschen von 1990 ff. sein wollten – wohl nur den wenigsten Akteuren wäre darauf eine tiefsinnige Antwort eingefallen.

Hinzu kam, dass sich weite Teile der Eliten beider deutscher Staaten gedanklich längst aus der eigenen Nation verabschiedet hatten. Die alte Bundesrepublik war geprägt von kleinstaaterischen Regionen, denen Brüssel, Paris oder Rom geistig oft näherstanden als Berlin, Weimar oder Dresden. In der DDR wiederum hatte die dort herrschende Klasse den Fortbestand der Nation verneint, um ihren Separatstaat zu legitimieren. Obendrein bot Ost wie West die Flucht aus der eigenen Nation die Aussicht, dem Ballast der Geschichte (Stichwort: „Drittes Reich“) entfliehen zu können. Dass mit dem Fall des Eisernen Vorhangs zugleich das Zeitalter der Globalisierung anbrach, bestärkte die verschiedenen Milieus in ihrem Glauben, nationale Empfindungen wären ein Ausdruck längst vergangener Zeiten.

Doch dabei verdrängten sie nicht nur, dass niemand außerhalb der deutschen Grenzen gewillt war, die Deutschen aus ihrer Nation zu entlassen – sondern auch, dass die Nation eine wesentliche Grundlage echter Demokratie ist. Allein der Nationalstaat ermöglicht allen Bürgern die barrierefreie Teilhabe an politischen Debatten (ohne Elitensprache oder Übersetzer). Zudem ermöglicht das Gemeinschaftsgefühl einer gewachsenen Nation eine weitaus tragfähigere Solidargemeinschaft als multinationale Gebilde.

Und so ist das Nachdenken über das eigene Vaterland auch 35 Jahre nach der deutschen Einheit alles andere als politische Folklore vermeintlich Ewiggestriger. Es ist vielmehr die unerlässliche Selbstvergewisserung über zentrale Grundlagen unseres Gemeinwesens.


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