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Der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine reißt die Deutschen aller politischen Lager aus ihren jeweiligen Wunschvorstellungen – und zwingt sie zur Anerkennung lange verdrängter Realitäten
Der Angriff des russischen Präsidenten Wladimir Putin und seiner Streitkräfte auf die Ukraine am 24. Februar 2022 hat viele Gewissheiten der vergangenen Jahrzehnte zerstört. Zum ersten Mal seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs versucht der Machthaber eines europäischen Staates einen Nachbarstaat von der Landkarte zu tilgen. Militärische Konflikte samt Grenzverschiebungen und Vertreibungen der Bevölkerung gab es immer wieder (man denke nur an die Balkankriege in den 1990er Jahren), doch dass ein Aggressor einer souveränen Nation im Ganzen die Berechtigung abspricht, ihre politischen Geschicke selbst bestimmen zu können, hat es lange nicht gegeben.
Noch ist nicht ansatzweise abzusehen, wie lange der Krieg dauern und wieviele Menschenleben er kosten wird – und ob andere Länder mit hineingezogen werden. Klar scheint indes, dass der russische Präsident diesen Krieg nicht gewinnen kann. Selbst wenn – wonach es beim Schreiben dieser Zeilen nicht aussieht – die russischen Invasionstruppen schon bald den Widerstand der tapferen Ukrainer brechen sollten, droht den Russen ein langer, zermürbender Partisanenkrieg. Sicher wäre Putin und seinen Invasoren nur die jahrzehntelange Verachtung der Ukrainer – und die nahezu vollständige Isolation in der internationalen Staatengemeinschaft. Wer will in Zukunft diesem Präsidenten auf dem diplomatischen Parkett noch die Hand schütteln?
Für die Deutschen – und zwar in allen politischen Lagern – markiert der 24. Februar 2022 das jähe Ende vieler Wunschvorstellungen und Selbsttäuschungen. Diejenigen, die sich trotz der KGB-Vergangenheit des russischen Machthabers, trotz seines brutalen Umgangs mit abtrünnigen Gebieten, trotz unzähliger ungeklärter Morde an oppositionellen Politikern und Journalisten und trotz der gewaltsamen Abtrennung der Krim im Jahre 2014 nicht vorstellen konnten, dass Wladimir Putin so weit gehen würde, sehen sich nun eines Schlechteren belehrt. Der Ehrlichkeit halber muss auch der Autor dieser Zeilen eingestehen, dass er einen solchen Akt der Aggression nicht für möglich gehalten hat.
Gleichwohl: Vielen der in den vergangenen Jahren als „Russland-Versteher“ Gescholtenen ging es jedoch nicht um die Person Putin, sondern – nicht zuletzt vor dem Hintergrund der jüngeren Geschichte – um die Verständigung zweier großer europäischer Nationen. Ein solches Ansinnen kann niemals falsch sein, und es ist auch nicht falsch.
Sicherheitspolitische Kehrtwende
Generell hat der Ausbruch des Krieges in der Ukraine die Deutschen in brutaler Weise auf den Boden schmerzlicher Realitäten zurückgeholt. Die Bundesregierung etwa bekannte sich in ihrem Koalitionsvertrag zwar zur „Aufrechterhaltung eines glaubwürdigen Abschreckungspotenzials“ – um dann jedoch gleich im folgenden Absatz eine „abrüstungspolitische Offensive“ anzukündigen. Während in dem Dokument der Sicherheitspolitik gerade einmal dreieinhalb Seiten gewidmet sind (auf denen das Wort Bundeswehr nicht einmal vorkommt), umfasst allein das Kapitel „Klimaschutz in einer sozial-ökologischen Marktwirtschaft“ stolze 21 Seiten!
Immerhin: Bundeskanzler Scholz hat in seiner Rede am Sonntag eine fundamentale Kehrtwende angekündigt und als ersten Schritt die Einrichtung eines 100 Milliarden Euro umfassenden „Sondervermögen Bundeswehr“ verkündet. Auch Außenministerin Baerbock, die noch vor zwei Wochen alle deutschen Auslandsvertretungen zu „Agenturen des Kampfes gegen den Klimawandel“ erklärte, ist nun sichtbar bemüht, der veränderten Lage gerecht zu werden. Abzuwarten bleibt, ob das gleichsam verkündete Bestreben, Deutschland unabhängiger von ausländischen Energielieferungen zu machen, auch zu einer Abkehr von der einseitigen Fixierung auf die Erneuerbaren Energien führt, die allein nicht in der Lage sind, unser Land zuverlässig mit Strom und Wärme zu versorgen.
Die angekündigte Kehrtwende kann jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass der sicherheitspolitische Zustand Deutschlands kein Naturereignis ist, sondern das Ergebnis einer jahrzehntelangen bewussten Vernachlässigung. Deshalb hat auch die oppositionelle Union keinen Grund zur Selbstzufriedenheit, stellte sie doch seit dem Ende des Kalten Krieges die meiste Zeit über die Bundeskanzler, Verteidigungsminister und Finanzminister. Trotz einer beispiellosen Ausweitung der Aufgaben der Bundeswehr, die die deutsche Armee unter anderem ans Horn von Afrika, auf den Balkan und an den Hindukusch führte, strich der Bund Jahr für Jahr die „Friedensdividende“ ein – bis Deutschland noch nicht einmal bedingt abwehrbereit war. Für die Bundeswehr interessierte sich die Politik zumeist nur dann, wenn irgendwo im Lande ein Standort geschlossen wurde und die Bürgermeister vor Ort empört fragten, wie sie den damit verbundenen Verlust an Arbeitsplätzen kompensieren sollen.
Die Rückkehr des Ostens
Eine weitere Folge der neuen Zeit ist die Wiederkehr des europäischen Ostens als politische Landschaft. Seit den ersten Tagen des Kalten Krieges, als führende Intellektuelle des Westens der eigenen Hemisphäre eine zivilisatorische Höherstellung bescheinigten, galt alles Östliche als vormodern und rückständig – und wurde entsprechend vernachlässigt. Selbst als mit dem Zerfall von Warschauer Pakt und Sowjetunion zahlreiche neue Nationalstaaten entstanden und viele von ihnen Richtung NATO und EU strebten, änderte dies an der Haltung im Westen wenig. Es wurde erwartet, dass sich Polen, Tschechen, Ungarn und Balten an den westlichen Maßstäben orientierten – für ihre Anliegen interessierte man sich jedoch nicht.
Nur vor diesem Hintergrund lässt sich erklären, dass der Westen die Existenz einer ukrainischen Nation und deren Wunsch nach Souveränität viel zu lange nicht ernst genommen hat. Mögen Kiew und Odessa, Lemberg und Czernowitz zu anderen Zeiten auch bedeutende europäische Kulturstädte gewesen sein – für die meisten Westeuropäer waren es bestenfalls Orte kurz vor dem Ural.
Wie obsessiv die Verdrängung der historischen Landschaften im Osten betrieben wurde, zeigt sich an der vielfachen Missachtung der alten deutschen Orts- und Landschaftsnamen. Zu diesen gehören auch Königsberg und das nördliche Ostpreußen, die nun gleichsam zum aktuellen Krisengebiet gehören. Obwohl Königsberg die Heimat bedeutender Persönlichkeiten der europäischen Geschichte war (allen voran der Philosoph Immanuel Kant), gebrauchen unzählige Deutsche heute lieber den Namen „Kaliningrad“, ganz so, als könnten sie sich damit einer störenden historischen Last entledigen. Nun kommen einige dieser östlichen Landschaften mit Gewalt zurück – allerdings nicht als mögliche Ziele einer Studienreise, sondern als Kriegsgebiete.
Bei allen anstehenden Debatten der nächsten Zeit, die kommen werden und auch notwendig sind, sollten wir nicht vergessen, dass es die Menschen in der Ukraine sind, die derzeit am meisten unter den neuen Realitäten zu leiden haben: die Väter und Söhne, die sich an allen Fronten den Aggressoren entgegenstellen; die unschuldigen Zivilisten, die in den Straßen von Kiew, Charkiw, Mariupol und andernorts im Hagel russischer Raketen sterben, sowie die hunderttausenden Mütter und Kinder, die gerade auf der Flucht gen Westen sind.
Ilmio Nome am 04.03.22, 22:42 Uhr
Ich sehe nicht, und es zeigt sich auch in den Kommentaren, dass alle politischen Lager ein Einsehen hätten. Die, ich will sie einmal als "Russenknechte" bezeichnen, Politiker in Linkspartei und AfD rechnen sich womöglich schon ihr gutes Leben unter neuer russischer Besetzung aus? Ich hoffe, dass Sie auch diesen freimütigen Kommentar aus zutiefst Deutschem Herzen veröffentlichen werden.
D. Jahnke am 04.03.22, 10:10 Uhr
In der Preußischen Allgemeinen sollte sich man sich doch etwas mit der preußischen Geschichte auskennen.
Die Militäraktion, die Putin jetzt in der Ukraine befohlen hat, hat in ähnlicher Weise der preußische König Friedrich II., genannt Friedrich der Große, durchführen lassen. Um einen Angriff der verbündeten Österreicher und Sachsen zuvor zu kommen, ließ er am 29. August 1756 Sachsen besetzen.
sitra achra am 03.03.22, 18:38 Uhr
Wer diesem paranoiden, blutbefleckten Massenmörder und dessen Lügenparolen glaubt und hinter seinen widerlichen Einlassungen hehre Motive vermutet, ist nicht nur naiv, sondern schlicht und einfach dumm.
Es reicht doch, wenn der Deutsche im letzten Jahrhundert schon einem Scharlatan hinterhergelaufen ist. Aber offensichtlich hat der Deutsche nichts dazu gelernt, leider.
Man kann dem ukrainischen sowie dem russischen Volk nur wünschen, dass es diesen Nubuk und seine Dämonen
loswird.
Sonja Dengler am 03.03.22, 09:03 Uhr
Dringend empfohlen: im internet unter George Friedman schauen, wer er ist und welche Rede (und Antwort)er in 2015 hielt. Dann versteht man, was in der Ukraine läuft.
Ich bin ein sog.Putin-Versteher, aber ich halte es für ganz falsch, (einige?) unschuldige Opfer in Kauf zu nehmen, um künftige viele Opfer zu vermeiden. Krieg ist immer falsch, auch wenn die Motive verständlich sind.
Ich gebe aber zu: Putin nutzt voll die Gunst der Stunde, um zu retten, was aus seiner Sicht gerettet werden muss. Er wird aufwachen wie so viele Kriegsbeginnes....
Waffenstudent Franz am 02.03.22, 14:06 Uhr
Mit Entsetzen nehme ich die bodenlose Kulturlosigkeit aller Berichterstattungen aus der Kornkammer Europas wahr! Selbst bei Meldungen über Steinzeitmenschen erfährt der BRD-ling mehr über deren Gebräuche und Historie als aktuell über unsere Nachbarn, die Ukrainer.
Dazu passen die "Lokusparolen" zum Aktuellen Krieg mit seinen herbeiphantasierten Schlachten. Die Verluste der Russen entsprechen gerade mal den Toten im normalen Straßenverkehr, und nirgendwo wird ein verlassenes blutdurchtränktes Schlachtfeld der Ukrainer gezeigt.
Mit beispielhafter Eindringlichkeit wird uns vorgeführt, wie Osteuropa zur asozialen EU-Kolonie verkommt, wenn die Vorstellungen der West Medien obsiegen! Jeder Deutsche Wehrmachtssoldat sprach mit allergrößter Hochachtung vom Land, seinen Menschen und seinen Erlebnissen. Heute sind Deutsche selbstverschuldet mit Blindheit geschlagen!
E. Berger am 02.03.22, 10:16 Uhr
Erstaunlich, wie man Putins Verhalten und den gegenwärtigen Ukraine-Krieg beurteilen kann, ohne zumindest die jüngere Vorgeschichte (ab 2014) miteinzubeziehen.
Wenn man auf die legitimen Sicherheitsinteressen Russlands (kein NATO-Beitritt der Ukraine) Rücksicht genommen hätte, wäre alles friedlich geblieben.
Aber genau das wollen die Amerikaner natürlich nicht. Sie wollen stattdessen Russland wirtschaftlich vernichten und Europa (insbesondere Deutschland) schwächen. Genau das haben sie jetzt erreicht.