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Rentenexperte Bernd Raffelhüschen macht im Gespräch mit der PAZ deutlich, woran es in Deutschland und dem Rentensystem krankt: mangelnder Reformwille
Vor Kurzem sorgte Bundeswirtschaftsministerin Katherina Reiche für Wirbel, als sie die Erhöhung des Renteneintrittsalters forderte. Wie bewerten Sie die Forderung? Hat sie recht?
Die Vorschläge, die Frau Reiche gemacht hat, liegen ja seit 40 Jahren auf dem Tisch, sie sind also nicht wirklich neu. Nichtsdestotrotz hat sie natürlich recht. Wenn ein Mensch länger lebt, kann er nicht gleichzeitig die Zeit, die er länger auf der Erde verweilt, als Rentenbezugszeit bezahlt bekommen. Er muss anteilig zur längeren Lebensdauer auch länger arbeiten. Das ist eine Frage der Logik. So haben wir Anfang der 90er Jahre in Skandinavien – in der Zeit war ich schon in Teilzeit lehrender Professor in Norwegen – begonnen, das Ganze als Lebenserwartungsfaktor umzusetzen, indem wir das gesetzliche Rentenbezugsalter an die entsprechende Lebenserwartung anknüpften. In Deutschland hingegen wurde diskutiert, und zu guter Letzt sind wir die vorliegenden Lösungsansätze nur halbherzig angegangen. Franz Müntefering hatte 2006 als Arbeitsminister in der Großen Koalition die Rente mit 67 eingeführt, was ihm viel Ärger, insbesondere in seiner eigenen Partei, eingebracht hat. Wir hatten zudem als Rürup-Kommission vorgeschlagen, Lebenserwartung und Rentenbezugsalter miteinander zu verknüpfen. Das war letztendlich nichts anderes als die Renten-Agenda 2010 des früheren Bundeskanzlers Schröder.
Warum leiten wir in Deutschland nicht endlich die notwendigen Schritte?
Es sind die Interessenkonflikte, die als Bremse arbeiten. Die politische Mehrheit liegt derzeit bei denjenigen, die aktuell älter als 55 Jahre jung sind. Wären die gleichen Verantwortlichen in den 90er Jahren aktiv geworden, dann hätten sie die politische Mehrheit bei den noch Erwerbstätigen gehabt. Rückblickend kann man somit sagen, die notwendigen Schritte wären damals viel leichter umsetzbar gewesen – auch in der Argumentation – als es das jetzt ist. Aber eines ist klar, und darüber brauchen wir nicht mehr zu diskutieren: Wenn wir jetzt nicht bereit sind, die notwendigen Schritte zu gehen, dann brauchen wir es gar nicht mehr zu machen. Heißt: Wenn wir das Renteneintrittsalter jetzt nicht erhöhen, und ich meine wirklich bis 2026, dann können wir es sein lassen. Dann können wir wieder auf die nächste Regierung und die nächsten vier Legislaturjahre warten, die auch wieder für dieses Thema ein oder zwei Jahre Einarbeitungszeit benötigt, und dann reden wir in der konkreten Einführung von 2035, 2036. Also der Zeitraum, wann das Ganze überhaupt erst greifen und spürbar werden würde. Das ist ein Datum, wo alle aus den geburtenstarken Jahrgängen bereits in Rente sind. Eine Erhöhung des Rentenzugangsalters, wenn das Problem sich bereits negativ auswirkt, spielt dann gar keine Rolle mehr. Das gilt auch für den Nachhaltigkeitsfaktor, der ja die Beiträge konstant auf erträglicher Höhe halten und das Rentenniveau abschmelzen soll. Wenn wir das weiterhin aussetzen, wie es die jetzige Arbeitsministerin Bärbel Bas angekündigt hat, dann ist alles überflüssig geworden. Nach 2035 wirken die jetzt diskutierten Schwerter nicht mehr. Dann bleibt uns nichts anderes mehr übrig, als die Rente nach jeweiliger Kassenlage zu definieren.
In welchem Zustand befindet sich Ihrer Ansicht nach die Rente in Deutschland?
Der Zustand von einem umlagefinanzierten Rentensystem hängt davon ab, wie die demographische Situation ist und wie man sich dieser anpasst. Es gibt viele Länder, die dies nicht haben. Spanien, Italien, Griechenland und in Frankreich ist es noch schlimmer. Überall herrschte Stillstand zu den parallel laufenden demographischen Prozessen, die diesen Stillstand nicht zuließen. Deshalb schaffte man es nicht, von der komplett demographieabhängigen Umlage- mehr hin in die Kapitaldeckung zu gehen, die diese besagte Abhängigkeit nicht besitzt. Wenn man zwei Beine hat, dann sollte man auch auf beiden Beinen stehen – das haben damals die Skandinavier begriffen und die Amerikaner erst recht – nur wir nicht.
Ein Begriff in der deutschen Rente sind die „versicherungsfremden Leistungen“. Werden damit auch andere politische Bereiche querfinanziert, allen voran die Migrationspolitik?
Die Migration, die wir hier in Deutschland erleben, ist vor allem zu alt und viel zu unqualifiziert. Diese beiden Faktoren führen dazu, dass sie die Rentenkasse nicht belasten werden, aber dafür die Kassen, aus denen die Grundsicherung bezahlt wird. Dort landen sie nämlich, und das bedeutet: Die ungesteuerte Migration bezahlt der Steuerzahler. Somit ist es kein internes Rentenproblem, sondern ein Steuerungsproblem, das man sich in Deutschland nicht traut anzugehen, indem klar definierte Steuerungsfaktoren geschaffen werden. Noch ein Fakt mehr, den Rentenexperten seit 40 Jahren einfordern, und was wiederum in skandinavischen Systemen mittlerweile angegangen und umgesetzt worden ist. Es ist stets das gleiche leidige Thema: Woanders reagiert man und handelt richtig und vernunftgesteuert, während man in Deutschland viel zu behäbig ist. Es ist, als ob wir auf einem großen Tanker sind, den wir mit dem kleinen Paddel eines Ruderboots voranbringen wollen. Ein vergebliches Unterfangen. Wir steuern auf einen Eisberg zu, und ein Ruder hilft da nicht. Man sollte lieber schnellstmöglich mit der planlosen Ruderei aufhören und einen Aufprallschutz in Form eines Fenders installieren, damit der Aufprall nicht zu heftig wird. Aber Notwendigkeit auszusprechen und entsprechend zu handeln, das traut sich in Deutschland keiner, vor allem kein Politiker. Der einzige, der das getan hat, hieß Gerhard Schröder, der genau dafür seine Quittung bekommen hat. Man muss es so klar aussprechen: Schröder hat damals die größte Rentenreform in der Geschichte der Bundesrepublik durchgeführt, die parallel dazu auch die größte Arbeitsmarktreform und die größte Steuerreform in der Geschichte der Bundesrepublik war. Aber die Ernte hat Frau Merkel eingefahren, während Schröder abgestraft und vom Hof gejagt wurde. Das Resümee ist eindeutig: Das Richtige zu tun, wird in Deutschland offensichtlich bestraft.
Norbert Blüm hat einst beschworen „Die Rente ist sicher“ – ist das noch so?
Ja, wir können von einer sicheren Rente ausgehen. Es ist nur die Frage, von welchem Rentenniveau wir sprechen. Wir haben ja auch in Zukunft Beitragszahler, die in das Rentensystem einzahlen. Aber es muss klar sein: Die Rente der Zukunft ist eine Basisversorgung, und jeder weiß heutzutage, dass er privat oder betrieblich mit vorsorgen muss, um seine Zukunft abzusichern. Wer untätig geblieben ist, der hat das Nachsehen. Wir reden da von maximal einem Viertel der Bevölkerung, das schätzungsweise herunterfallen wird und nur mit der Basisversorgung auskommen muss. Denen wird auch kaum noch geholfen werden können. Denn weitere Beitragszahler, die diesen Menschen hätten helfen können, sind ja nicht geboren worden. Zu viele Rentenempfänger und zu wenig geborene Kinder, die Beiträge einzahlen – das ist die Lage. Daher: Es wird eine Grundsicherung sein, die als sicher betrachtet werden kann. Aber mehr nicht.
Wir hören stets, was nicht geht. Aber was geht überhaupt noch?
Wir tun seit Jahren exakt das Gegenteil von dem, was rational wäre. Ministerin Reiche wollte das Rentenzugangsalter auf 70 Jahre erhöhen, weil es notwendig und richtig wäre. Stattdessen tun wir alles dafür, dass die Menschen früher in Rente gehen. Alles läuft in die falsche Richtung. Wir haben abschlagsfreie Rentenzugänge nach 45 Jahren, die versicherungsmathematisch komplett unsinnig sind. Wir haben einen Abschlagssatz von 0,3 Prozent pro Monat, der absurd klein ist. Unterm Strich subventionieren wir den vorgezogenen Ruhestand bis zum Abwinken. Wir verbieten sogar, dass unsere Beamte nach dem 68. Geburtstag noch arbeiten dürfen. Obwohl viele gerne möchten. Wir tun alles dafür, dass die Menschen früh beziehungsweise zu früh aufhören zu arbeiten und im Rentensystem ankommen. Dümmer geht es nicht. Damit wären wir beim zweiten heißen Eisen, nämlich dem subventionierten Rentenzugang. Der gehört abgeschafft. Stattdessen diskutieren wir darüber, diesen noch weiter zu subventionieren. Was wir auch tun, wir tun es falsch.
Ist das also eine rein politische Frage?
Es ist ein Dilemma. Soll man es so machen wie einst Schröder? Also das richtige tun und sich dann einen neuen Job suchen müssen? Oder macht man es wie Frau Merkel, indem man sich gut mit den positiven Erträgen des Vorgängers durchwurschtelt. Insofern ist es doch eindeutig: Ein Politiker geht den Weg, der ihm den Job sichert. Genau das haben alle bislang getan – mit der einen besagten Ausnahme namens Schröder, der seinen Job daher auch verloren hat.
Wir müssen also auf die Einsicht der Wähler vertrauen?
Ja, die Menschen müssen begreifen, dass sie länger arbeiten müssen, um nicht zu wenig Rente zu bekommen. Bevor sie nicht akzeptieren, dass es Gesundheit nicht kostenlos gibt, sondern Leistungen mit Eigenbeteiligungen bezahlt werden müssen, dass man für eine vernünftige Pflege erst einmal etwas selbst finanzieren muss, statt sich alles vom Staat bezahlen zu lassen – bevor diese Einsicht nicht stattfindet, wird es auch keinen Politiker geben, der das Notwendige fordert und als Politiker überleben kann. Wollen die Wähler alles kostenfrei haben, aber parallel nichts mit zur Wertschöpfung beitragen, dann geht die Rechnung nicht mehr auf. Wer sich einmal in den USA umsieht, der wird schnell bemerken, wie es dort brummt. Ja, wir bauen hier noch ein paar Autos, aber die Zukunft, wie zum Beispiel die KI-Technologie, wird in den USA oder China gemacht. Und bei uns? Wir freuen uns darüber, dass wir jetzt Flaschen haben, an denen man die Deckel nicht mehr vollständig abnehmen kann. Und das feiern wir auch noch als genial-große Innovation. Es hat schon etwas Absurdes an sich, wie wir hier gerade ticken. Wir müssen uns darüber klar werden: Deutschland ist kein reiches Land mehr. Das war es einmal. Aber aufgrund einer völlig falschen Energie- und Wirtschaftspolitik, einer völlig falschen Sozialpolitik ist das vorbei. Wir hatten Zeiten, wo der Sozialetat maximal 25 Prozent der Wertschöpfung ausmachte, jetzt sind wir bei über 30 Prozent angelangt. Unser Land ist von einer sozialen Marktwirtschaft zu einer marktorientierten Sozialwirtschaft geworden. Wir tun viel für sozial Benachteiligte, aber wir tun nichts mehr für diejenigen, die all das erwirtschaften, um diesen bedürftigen Menschen helfen zu können. Wir beschimpfen die Eliten, vergraulen sie, aber das sind die Initiatoren, die etwas bewegen, die etwas können, die ein Land erfolgreich machen, während wir diejenigen hofieren, die nichts dazu beitragen, dass es uns allen gut geht. Wahnsinn.
Sind Lösungsideen von früher noch aktuell oder von der Entwicklung überholt worden?
Einer meiner ersten Artikel, die ich verfasst habe, erschien Anfang 1990 und war ein Petitum dafür, Kapitaldeckung in Deutschland hoffähig zu machen. Das Konzept ist nichts anderes, als was unser letzter Finanzminister 2024 als Lindner-Depot vorgeschlagen hatte. Ich hatte das nachweislich 35 Jahre früher vorgeschlagen. Und deswegen hat Norwegen damals das größte Kapitaldeckungsverfahren der Menschheitsgeschichte durchgeführt. Mit dem Ergebnis, dass jetzt alle neidisch auf Norwegen blicken. Man hätte das alles heute auch in Deutschland haben können, aber man wollte nicht, weil man nicht bereit war, das zu tun, was nötig ist. Und man ist es bis heute nicht.
Ist denn ein umlagefinanziertes Rentensystem überhaupt noch zeitgemäß?
Unsere Rentenversicherung ist ein fantastisches System. Auch heute noch. Wir haben ein Lebensleistungsprinzip, dazu eine Einfrierung einer relativen Einkommensposition für das Alter – dieses Prinzip ist nicht schlecht. Wir sollten es sogar beibehalten. Aber bitte für die Grundversorgung, für die das eben dargestellte Prinzip wirkungsvoll und effizient ist.
Lässt sich Versäumtes noch nachholen?
Für ein Viertel der Babyboomer ist es zu spät. Denn Kapitaldeckung dauert im ausgereiften Zustand mindestens 30 Jahre. Wenn ich heute einem 60-Jährigen sage, dass er, wenn er 90 Jahre alt wird, in 30 Jahren die Früchte seines heutigen Konsumverzichts ernten wird, dann werde ich nichts außer Kopfschütteln ernten. Junge Menschen hingegen werden ihre Grundversorgung haben und müssen dann nur noch privat vorsorgen. Die junge Generation muss nur eins fürchten: Nämlich, dass wir ihnen die Beiträge so hochtreiben, dass sie von ihrem verdienten Einkommen nicht mehr viel übrig behalten werden. Und das nur, weil wir derart hohe Forderungen haben, die wir auch erfüllt haben wollen, ohne aber die notwendigen Kinder in die Welt gesetzt zu haben Insofern: Die Rente ist sicher – aber nur für die Jungen, wenn sie alles richtig machen.
Das Interview führte Jens Eichler
Prof. Dr. Bernd Raffelhüschen ist der deutsche Rentenexperte schlechthin. Der Wirtschaftswissenschaftler lehrte an der Universität Bergen, ist seit 1995 Professor für Finanzwissenschaft an der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg und Mitglied in diversen Aufsichtsräten.