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Vor 80 Jahren führte die junge Maria von Wedemeyer ihre Geschwister von dem elterlichen Familiengut östlich der Oder nach Westen. Nebenbei rettete sie ein Gedicht, das später zum Text eines der bedeutendsten Kirchenlieder unserer Zeit wurde
Von Maria von Wedemeyer ist in der allgemeinen Öffentlichkeit zumeist nur bekannt, dass sie die Verlobte von Dietrich Bonhoeffer war, dem evangelischen Theologen im Widerstand gegen Adolf Hitler. Doch die 1945 zwanzigjährige Frau war weit mehr: ein Beispiel für vorbildliche Courage in schlimmen Zeiten. In diesen Tagen jährt sich die von ihr geführte Flucht ihrer Familie aus dem Osten zum 80. Mal – wie auch die Hinrichtung Dietrich Bonhoeffers am 9. April 1945.
Noch bevor ihre Familie das Rittergut in Pätzig bei Schönfließ in der Neumark – das ist der heute polnische Teil Brandenburgs östlich der Oder – verlassen musste, hatte ihr Vater Hans von Wedemeyer, der als Regimentskommandeur an der Ostfront kämpfte, seiner Frau geschrieben: „Wenn die Russen kommen, dann schick' die Kinder rechtzeitig in den Westen.“ Alles weitere müsse sie Gott überlassen. Die Mutter entschied dann, dass die gerade erwachsene Tochter Maria den Treckwagen mit den Kindern anführen solle. Diese war seit Kindesbeinen mit Pferden vertraut, hatte die täglichen Ausritte des Vaters begleitet und galt als hervorragende Reiterin.
Der kalte Winter '45
Ende Januar 1945 war nun die letzte Möglichkeit, vor der heranrückenden russischen Front zu fliehen. Verbände der Nationalsozialisten hatten zuvor jede Flucht untersagt, vor allem, weil sie Straßen und Wege für militärische Operationen freihalten wollten. Auch das Wetter spielte eine entscheidende Rolle: Noch herrschte eisige Kälte, aber die Temperaturen konnten jederzeit umschlagen. Schnee und Eis oder auch Tauwetter konnten ein Fortkommen verhindern. Auf dem Weg in den Westen waren die Oderbrücken zu queren, von denen niemand sagen konnte, ob sie überhaupt benutzbar oder für zivile Trecks gesperrt waren. Für alle Fälle hatte die Mutter Ruth von Wedemeyer noch einen ortskundigen polnischen Kutscher gewonnen, den sie allerdings zum Dank für die riskante Fahrt neu einkleiden musste.
Der Treck der Familie bestand aus einem mit Planen bespannten Ackerwagen, drei Pferden, Ersatzgeschirren, Rädern, Wagenteilen und Handwerkszeug. Unentbehrlich auch das Pferdefutter, das mitgeführt werden musste. Jedes der vier Geschwister Marias durfte einen Koffer packen, darin ein persönliches Erinnerungsstück. Wenig Gewicht war dabei das Motto. Und doch: Als Maria das Tafelsilber der Familie sah, schüttete sie es kurzerhand in einen offenen Koffer. Fast alles, was die Familie später noch besitzen sollte, war dieser Entscheidung zu verdanken.
Rettung eines einzigartigen Schatzes
Maria war erst einen Tag zuvor aus Berlin, wo sie Bonhoeffer so oft wie möglich im Sicherheitsgefängnis der SS besuchte, nach Pätzig zurückgekommen, um den Treck zu führen.
Einen knappen Monat erst war es her, dass der 38-jährige Bonhoeffer ihr, seinen Eltern und seinen Geschwistern aus dem Sicherheitsgefängnis der Gestapo in der Berliner Prinz-Albrecht-Straße heraus das später berühmt gewordene Gedicht „Von guten Mächten“ geschrieben hatte. Heute liegt dort der Erinnerungsort „Topographie des Terrors“ vis á vis, und Besucher können die Reste der Gefängniszellen sehen. Das großartige Poem zum Weihnachtsfest 1944 sollte ein Weihnachtsgruß sein und hatte die Familie noch zum Fest erreicht:
„Von guten Mächten treu und still umgeben
behütet und getröstet wunderbar
so will ich diese Tage mit euch leben
und mit euch gehen in ein neues Jahr.
Noch will das Alte unsre Herzen quälen
noch drückt uns böser Tage schwere Last.
Ach Herr, gib unsern aufgeschreckten Seelen
das Heil, für das du uns bereitet hast.
Von guten Mächten wunderbar geborgen
erwarten wir getrost, was kommen mag.
Gott ist bei uns am Abend und am Morgen
und ganz gewiss an jedem neuen Tag.“
In den folgenden fünf Strophen erinnert Bonhoeffer an die Freude und das Licht, das Gott in die Dunkelheit der Welt sende. Es gelte das Vergangene dankbar zu erinnern und die Hoffnung nicht aufzugeben, dass alle wieder zusammengeführt würden.
„Von guten Mächten“ hatte Bonhoeffer in einen Brief vom 19. Dezember 1944 integriert. Denn auf einem gesonderten Blatt Papier hätte es die Gefängniszensur vielleicht gar nicht passieren lassen. Es wäre, so der Berliner Altbischof und Theologieprofessor Wolfgang Huber, kein Brief mehr gewesen, und „das Gedicht hätte die Nachwelt nie erreicht“, so der Bonhoeffer-Spezialist. Sicher ist, dass das Gedicht noch vor Weihnachten 1944 bei Maria von Wedemeyer ankam, die damals bei den Eltern Dietrichs in der Marienburger Allee in Charlottenburg wohnte.
Tage der Bewährung
Als die Front heranrückte, galt es, den Beweis zu liefern, dass die Familienbande untrennbar waren und die Bewahrung sich bewahrheitete: Mit Maria saßen neun weitere Menschen auf dem Wagen. Die Mutter blieb auf dem Gut zurück. Später schrieb sie über die gewagte Unternehmung: „Eine Aufgabe, die das menschliche Maß sprengte. Aber Maria – ihr konnte ich all meinen Reichtum in die Hände legen.“ Dass der christliche Glaube für alle eine wichtige Rolle spielte, wird aus einer anderen Quelle deutlich: Der eigens dafür aus der Nachbarschaft herübergeholte Pastor Reck reichte in der Dorfkirche allen das Abendmahl. Auch den Kindern, die noch nicht konfirmiert waren und für den Empfang des Sakraments an sich noch nicht berechtigt waren.
Die Reise startete bei nassem Schneesturm und 12 Grad Minus und sollte ein erstes Ziel nahe an der Oder erreichen. Dort war ein Quartier für alle Mitfahrenden zu suchen und nicht zuletzt das für die Pferde. Die Fahrt war in allem lebensgefährlich: Die Landstraßen waren verstopft mit Militärkolonnen, Jagdflugzeuge konnten jederzeit angreifen, sodass die Flüchtenden Schutz im Straßengraben oder unter den Wagen suchen mussten.
Tatsächlich setzte Tauwetter ein und verwandelte die Wegstrecke in gefährliche Eisesglätte. Die Pferde hatten Mühe, ihren Schritt zu halten. An jedem Morgen hielt Maria eine Andacht ab, ihre Lieblingslieder „Großer Gott, wir loben dich“ und der Choral „Lobe den Herren“ waren dabei. Sie betete ihren Lieblingspsalm 103, der die Barmherzigkeit Gottes besingt. Für die Kinder soll sie während der Fahrtpausen Clownerien aufgeführt und als Clown fürchterliche Grimassen geschnitten haben.
Doch der existentielle Ernst des Flüchtlingstrecks holte alle bald wieder ein. Sollten sie die Oder über die noch vorhandenen Brücken überqueren – oder war dies zu gefährlich? Schnell kam dem Tross aus Pätzig eine Flut von Fliehenden entgegen, die an den Brücken abgewiesen worden waren. Maria entschied, den Strom bei Güstebiese (heute Gozdowice) auf dem Eis zu überfahren. Niemand konnte garantieren, dass das Eis tragkräftig genug sein würde. Alle mussten absitzen und zwischen Eisschollen hindurch einen Weg suchen. In einer Quelle heißt es: „Die bibelkundigen Kinder fühlten sich dabei an die Durchquerung des Roten Meeres durch das Volk Israel erinnert. Bei jedem Knacken, Knirschen und Knistern zuckten sie zusammen.“ Zuletzt folgte Maria auf dem Wagen mit dem polnischen Kutscher. Sie erreichten nach etwa 160 Metern auf dem Eis tatsächlich das westliche Flussufer.
Ankunft im Westen und Rückkehr in das kriegszerstörte Berlin
Nun galt es zu entscheiden, wie es weitergehen konnte. In südwestlicher Richtung lag Berlin in etwa 60 Kilometern Entfernung. Maria entschied, die schon sehr zerstörte Hauptstadt nördlich zu umgehen. Lange Reisetage folgten. Endlich, nach 17 Tagen und 500 Kilometern erreichte der Treck das Dorf Oppershausen bei Celle in Niedersachsen. Es war der 13. Februar 1945. Fast unglaublich: Auf ihrem Gefährt gab es bei der Ankunft noch Proviant. Maria hatte sich als perfekte Verwalterin erwiesen.
Weit gefehlt, wenn man annimmt, Maria habe sich nun eine Ruhepause gegönnt. Umgehend brach sie nach Berlin auf, um schon am 14. Februar im Haus der Bonhoeffers anzukommen. Die junge Lebensretterin machte sich schon am folgenden Morgen auf, um ihren Verlobten Dietrich in der Prinz-Albrecht-Straße aufzusuchen. Nach den verheerenden Bombenangriffen vom 3. Februar lagen weite Teile Berlins in Trümmern, auch das Hauptquartier der Gestapo war schwer beschädigt. Hier erfuhr Maria von Kriminalkommissar Sonderegger, dass der Gesuchte nicht mehr in Berlin sei. Ziel für die Gefangenen sei vermutlich eines der Konzentrationslager Buchenwald oder Flossenbürg. Tatsächlich wurde Bonhoeffer im bayerischen Flossenbürg nach dem Urteil eines Schnellgerichtes am 9. April 1945 durch Erhängen hingerichtet.
Leben in einer neuen Welt
Für Maria von Wedemeyer schloss sich ein bewegtes Leben an. Nach dem Kriegsende übernahm sie als Hauslehrerin in Bayern mehrere Schulklassen. In der Folge studierte sie Mathematik in Göttingen, war zeitweise befreundet mit dem Mitstudenten Hartmut von Hentig, dem späteren Reformpädagogen. Sie verlobte sich mit dem Studenten Paul-Werner Schniewind (1923–2011), und 1948 zog Maria – ohne richtig Englisch zu können, in der Schule hatte sie Französisch und Latein gelernt – in die USA. In Pennsylvania an der amerikanischen Ostküste schrieb sie sich am Quäker-College Bryn Mawr, einer Hochschule für Mädchen, ein.
Beruflich zeigte Maria sich sehr erfolgreich: Beim Unternehmen Remington-Rand-Univac in Philadelphia avancierte sie zur Gruppenleiterin in der Abteilung „Angewandte Mathematik“. Doch ihre Ehe geriet in eine Krise, sodass sie sich 1958 trennte. Die beiden Kinder zog sie allein groß. 1959 heiratete sie erneut, doch scheiterte auch diese zweite Ehe 1965.
Maria wechselte nach Boston, wo sie beim Unternehmen Honeywell eine neue Abteilung für Computertechnik „System Analysis“ leitete. Ihr neuer Lebenspartner wurde Bob Graham, Professor für Computerwissenschaft am Massachusetts Institute of Technology. Unermüdlich setzte sich Maria für andere Menschen ein: „She was standing up for the people ... she did'nt wear it on her sleeve“ (Sie hat sich für die Menschen eingesetzt ... sie hat es nicht offen zur Schau gestellt), kommentierte es ein Zeitgenosse, der sie zudem ein Beispiel für die Gleichberechtigung der Geschlechter nannte: „very meaningful mixture between being a boss and being a caring women“ („eine sehr bedeutsame Mischung aus Chefin-Sein und Fürsorgliche-Frau-Sein“).
Wegen dieser Verantwortung im Leben und im Unternehmen verdrängte Maria wohl auch die Anzeichen ihrer ernsten Krebserkrankung. An dieser verstarb sie am 16. November 1977 in Boston.
Wer sich vertiefter mit dem Schicksal Maria von Wedemeyers befassen möchte, findet weitere Informationen in ihrem unter dem Titel „Brautbriefe Zelle 92“ herausgegeben Briefwechsel mit Dietrich Bonhoeffer, in der von Wolfgang Seehaber verfassten Biographie „Maria von Wedemeyer. Bonhoeffers Verlobte. Ein Lebensbild“, in den Erinnerungen „In des Teufels Gasthaus. Eine preußische Familie 1918–1945“ von Ruth von Wedemeyer, in dem Eintrag zu ihrer Person im Biographisch-bibliographischen Kirchenlexikon (BBKL) sowie im Nachlass 299 (D. Bonhoeffer) in der Staatsbibliothek zu Berlin.
Dr. Roger Töpelmann ist freier Journalist. Zuvor war der studierte Theologe Presse- und Öffentlichkeitsbeauftragter in der Evangelischen Militärseelsorge und in der Evangelischen Kirche in Hessen und Nassau, Lehrbeauftragter an der Universität Frankfurt und Abteilungsleiter im Medienhaus der EKD. www.rogertoepelmann.de
sitra achra am 16.02.25, 19:16 Uhr
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