27.07.2024

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Anormale Gesundheitsvorfälle

Dem Havanna-Syndrom auf der Spur

Mysteriöse Krankheiten bei Botschaftspersonal – Kollektive Hysterie oder gezielte feindliche Anschläge?

Wolfgang Kaufmann
16.05.2024

Im Herbst 2016 klagten Mitarbeiter der US-Botschaft in der kubanischen Hauptstadt Havanna erstmals über eine ganze Reihe unangenehmer Symptome. Diese reichten von Kopfschmerz, Schwindel und Schlaflosigkeit über Gedächtnisverlust, Sehstörungen und Ohrgeräusche bis hin zum Gefühl schmerzvoller Vibrationen im ganzen Kopf. Manche der Betroffenen wurden deshalb dienstunfähig oder litten jahrelang unter den Beschwerden.

Dieses sogenannte Havanna-Syndrom trat parallel auch bei US-Diplomaten in anderen Ländern auf. Zu diesen zählten China, Taiwan, Vietnam, Indien, Deutschland, Österreich, die Schweiz, Frankreich, Litauen, Serbien, Russland, Australien und Kolumbien – und gelegentlich ereigneten sich die sogenannten „Anormalen Gesundheitsvorfälle“ (AHI) sogar bei Beschäftigten im Weißen Haus in Washington. Insgesamt soll es jetzt bereits
1500 Geschädigte geben.

Am 1. April dieses Jahres berichtete das Nachrichtenmagazin „Der Spiegel“ unter Verweis auf gemeinsame Recherchen mit dem lettischen Investigativportal „The Insider“ und dem US-Fernsehmagazin „60 Minutes“, dass das Havanna-Syndrom vermutlich aus dem Einsatz einer Mikrowellen- oder Schallwaffe durch die berüchtigte Sondereinheit 29.155 des russischen Militärgeheimdienstes GRU resultiere. Als Beleg für diese Behauptung dienten unter anderem Aussagen über die Sichtung angeblicher russischer Agenten vor einigen US-Botschaften und -Konsulaten im Ausland.

Damit widersprachen der „Spiegel“ und die beiden anderen Magazine der Leiterin der United States Intelligence Community, Avril Haines, welche die Tätigkeit aller 18 Geheimdienste der USA koordiniert und eine Auslösung des Havanna-Syndroms durch gezielte Attacken „gegnerischer Staaten“ erst kürzlich als „höchst unwahrscheinlich“ bezeichnet hatte. Vielmehr seien die AHI die Folge von „Vorerkrankungen, gewöhnlichen Krankheiten und Umweltfaktoren“.

Allerdings gibt es Skeptiker, die Haines' Einschätzung nicht teilen und darauf verweisen, dass das US-Außenministerium seit 2021 Entschädigungen an Betroffene nach einem Opferhilfe-Gesetz zahle, das abgekürzt wohl nicht zufällig „Havana“ heißt (Helping American Victims Afflicted by Neurological Attacks). Vor diesem Hintergrund hielt der Schweizer Geheimdienstexperte Adrian Hänni eine gezielte Vertuschung der wahren Ursachen der AHI für möglich, weil die Angriffe – so sie denn tatsächlich stattfanden – vom Unvermögen der US-Geheimdienste künden, Washingtons diplomatische Vertretungen im Ausland zu schützen.

Nur zwei plausible Erklärungen
Dem stehen jedoch zwei Fachartikel entgegen, die beide am 18. März im „Journal of the American Medical Association“ erschienen. Im ersten Beitrag berichtet ein Team um Leighton Chan vom renommierten Bethesda Hospital der US-Marine über akribische Untersuchungen an 86 Personen mit dem Havanna-Syndrom. Dabei fanden die Ärzte keinerlei Hinweise auf objektive körperliche Veränderungen. Offenbar führen die AHI bei den Probanden also lediglich zu subjektiven Beschwerden, welche nicht durch Biomarker im Blut oder an den Organen verifiziert werden können.

Ganz ähnlich lautet die Diagnose im zweiten Artikel der Arbeitsgruppe von Carlo Pierpaoli, die ebenfalls am Bethesda Naval Hospital tätig ist. Hirnscans von 81 Betroffenen des Havanna-Syndroms zeigten „keine signifikanten Unterschiede ... der Gehirnstruktur oder -funktion“ im Vergleich zu den Personen in einer Kontrollgruppe. Und das schließe die Verwendung von Mikrowellen aus, denn diese würden klar erkennbare Spuren im Körper hinterlassen.

Ebenso unwahrscheinlich ist, dass die Agenten der GRU-Sondereinheit 29.155, die auch für den mysteriösen Giftgasanschlag auf den Überläufer Sergeij Skripal verantwortlich gemacht wird, mit einer Schallwaffe arbeiteten. Zwar gibt es solche Systeme, doch diese erzeugen ex­tremen Lärm und lassen sich daher nicht unbemerkt zum Einsatz bringen. Möglich wäre das nur im Fall von Infra- oder Ultraschallkanonen, die für Menschen unhörbare Frequenzen nutzen. Tieffrequenter Infraschall ruft aber andere Symptome hervor, die zudem sofort abklingen, wenn die Exposition endet. Und hochfrequenter Ultraschall verbreitet sich kaum durch die Luft oder andere Medien, weswegen medizinische Ultraschalluntersuchungen auch direkten Hautkontakt erfordern.

Somit gibt es nur zwei plausible Erklärungen für die Entstehung des Havanna-Syndroms, wenn man bestehende neurologische Vorerkrankungen ausschließt: Entweder liegt hier ein Fall von kollektiver Hysterie vor, die zu psychosomatischen Beschwerden führt und vielleicht aus der besonderen mentalen Belastung während der Auslandseinsätze in einem oftmals feindseligen Umfeld resultiert. Oder aber die Symptome sind die Folge der Einwirkung bestimmter schädlicher Substanzen, zu denen beispielsweise Insektizide gehören.


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Kommentare

Ralf Pöhling am 24.05.24, 15:47 Uhr

Negativer Placebo-Effekt. Man kann gesunde Menschen durch gezielte Manipulation, genauer: durch verdecktes Einreden auf verschiedensten Kanälen, zu Hypochondern machen, die dann echte Krankheitssymptome entwickeln.

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