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Philipp Felsch porträtiert den Philosophen Jürgen Habermas – ein Stück Mentalitätsgeschichte der alten und neuen Bundesrepublik
Auf dem Buchumschlag sehen wir eine weiße, schmucklose Hausfassade, zwei quadratische, blau gerahmte Fenster, dahinter weiße Blumentöpfe mit Kakteen und weiße Gardinen. Am rechten Fenster steht ein Mann im braungrauen Anzug mit hellblauem offenen Hemdkragen und schaut nach draußen. Ein Baurat vor seiner Bürogardine? Der Direktor einer Kreissparkasse? Es ist der Sozialphilosoph Jürgen Habermas, in diesem Jahr 95 geworden, in seinem Starnberger Privathaus.
Wie sein Haus, so der Denker. Habermas' intellektuelle Akrobatik ist ohne Zierrat, seine Texte kommen ohne das aus, was Platon dem Weisheitsheischenden auferlegt, nämlich Schönheit. Deshalb nennt Habermas seine Gedankenarbeit auch lieber Theorie, das klingt wissenschaftlich, gefühlsbereinigt im Stahlbad der Rationalität, ohne jedes Pathos. Habermas philosophiert wie ein Liebender, der das Küssen verschmäht.
Sinnstiftung war Habermas' Sache nie. Er beharrt darauf, „dass sich die Gesellschaftstheorie gegenüber individuellen Heilsbedürfnissen trostlos verhält“, und, im Sinne seines Lehrers Adorno, „dass Theorien, die über die geburtshelferische Praxis für die Entbindung neuer Gesellschaftsformen informieren sollen und dabei den religiösen Gesichtspunkt der Erlösung dementieren, das Bewusstsein radikaler Trostlosigkeit erst schaffen“. Hier wird die Kritische Theorie aus dem Schoße der Depression auf einen Nenner gebracht. Wen verwundert's, dass linke Projekte unsere Welt seit einem halben Jahrhundert höchstens fortschrittlicher, aber selten besser gemacht haben?
Der Kulturhistoriker Philipp Felsch, der an der Berliner Humboldt-Universität lehrt und mit seiner Monographie „Der lange Sommer der Theorie“ bereits eine materialreiche „Geschichte einer Revolte 1960 -1990“ vorgelegt hat, beschreibt in seinem Großporträt „Der Philosoph – Habermas und wir“ den eigenartigen Werdegang eines einst stramm marxistischen Gesellschaftsdeuters, der als beamteter Universitätslehrer an neuen Gesellschaftsformen bastelte, weil er die frühe Bundesrepublik für ausreichend faschistisch durchgiftet hielt, um damit über Jahrzehnte hinweg ein auskömmliches akademisches Geschäftsmodell zu betreiben. Als seine Studentengeneration 1998 erstmals in Bonn die rotgrüne Regierung stellte, wurde aus Habermas eine Art Nationalphilosoph, ganz so, als wäre nach 200 Jahren der preußische Staatsdenker Hegel in seinen Körper gefahren.
Die Geschichte von Habermas und uns, der deutschen Nachkriegsgesellschaft, ist die Erzählung einer wechselseitigen Gemütlichmachung. Der Mainstream rückte nach links, stieß auf Habermas und gemeindete ihn ein als linken Sozialdemokraten, wie er sich inzwischen beschreibt. An diesem Linksruck war Habermas im Hintergrund stets mitbeteiligt. Die Kritische Theorie der Frankfurter Schule wehte wie Saharasand bis in die Ritzen von Medien und Pädagogik, formte die Babyboomer und ihre Nachfahren. Politische Korrektheit, Selbstverwirklichung, Tabubrüche, Emanzipationsexzesse sind das Echo auf die Einflüsterungen von Habermas und seinen Schülern. Habermas kann als Urgroßvater und Stichwortgeber des linken Philistertums unserer Tage gelten. Der Alte in Starnberg wird heute von Frank Walter Steinmeier gelesen, von Sigmar Gabriel und Olaf Scholz.
Womöglich lesen diese Herren lieber Habermas' politische Schriften als seine philosophischen Bücher. Sein Hauptwerk „Theorie des kommunikativen Handels“ (1981) mit gut 1200 Seiten bleibt selbst hartgesottenen Groupies gedanklich überwiegend unzugänglich, weil geschrieben im Stile soziologischer Behördenprosa. Der Glutkern der Habermasschen Kommunikationstheorie wirkt bereits irrtumshaftet: Während wir bei Nietzsche lernen, dass wir zu lügen beginnen, sobald wir unter Menschen sind, postuliert Habermas, dass wir im zwischenmenschlichen Verkehr Wahrheiten hervorzubringen imstande sind.
Sich selbst bezeichnet Habermas als „religiös unmusikalisch“, das heißt, für ihn gibt es keinen Gott, kein Geheimnis, aus dem Welt und Mensch entstammen. Beim religiös höchst musikalischen Karl Jaspers indes erlangt Kommunikation einen metaphysischen Stellenwert: „Wahrheit ist, was uns verbindet.“ Bei Habermas steigt das Gerede selbst, geadelt als „herrschaftsfreier Diskurs“, zum Wahrheitsproduzenten auf. In der Praxis ist ein herrschaftsfreier Diskurs eine ebensolche Luftnummer wie jenes Reich der Freiheit, das Karl Marx delirierte.
Auffällig ist, dass Felsch darauf verzichtet, die Kindheit und das Elternhaus von Habermas auszuleuchten. Bei Kriegsende war Habermas 16, seine frühen Glaubensgewissheiten sind also in der Nazi-Zeit entstanden. Sein Vater Ernst war NSDAP-Mitglied seit 1933, wurde später als „Mitläufer“ eingestuft. Er sei ein „Produkt der Reeducation“, stellte Jürgen Habermas wiederholt fest, der Umerziehung nach 1945. Diese Selbsteinschätzung lässt aufhorchen. Welche Dämonen mussten Habermas wohl ausgetrieben werden, was mag sich in seiner Kindheit bei Jungvolk und Hitlerjugend eingenistet haben, was ist er aus dieser Schreckenszeit womöglich niemals ganz losgeworden?
Habermas' Mission war es, schreibt Felsch, „seine Landsleute zu Demokraten zu erziehen“. Ein löbliches Unterfangen, doch war der Vater des herrschaftsfreien Diskurses im Umgang mit seinen konservativen Gegnern nie zimperlich, wie nicht zuletzt der Historikerstreit zeigt, den Habermas 1986 anzettelte. Und wie bei so manchem Eiferer drängt sich auch bei Habermas die Frage auf: Hat der Mann etwas zu verbergen?
Das Verhältnis zwischen Vater und Sohn Habermas scheint „angespannt“ gewesen zu sein, deutet Felsch an. Gut möglich, dass der Mitläufer-Charakter des Vaters auf dem Sohn tonnenschwer lastet. Vermutlich hat sich Habermas sein Leben lang davon zu befreien versucht. Der Student begeisterte sich Anfang der 1950er Jahre noch für Heidegger, Schelling, den Mystiker Jakob Böhme und den Kabbalisten Isaak Luria, später fand er als Forschungsassistent von Horkheimer und Adorno zum Marxismus und gab der Studentenbewegung von 1968 entscheidende Impulse. Aber schon damals grenzte er sich von den Rabauken mit dem Begriff des „Linksfaschismus“ ab und entwarf die Position des „verfassungsloyalen“ Linken – eine Figur, die das Selbstverständnis des grünen Milieus in der Gegenwart verkörpert. Gewissermaßen ist der Furor des aktuellen Wokismus in der widersprüchlichen Persönlichkeit von Habermas vorgezeichnet.
Philipp Felsch
Der Philosoph. Habermas und wir
Propyläen, Berlin 2024, 256 Seiten, 24 Euro