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Der Frust der „So-eben-Bürger“

Wie die Politik die Mitte der Gesellschaft vernachlässigt – und somit der wachsenden Unzufriedenheit im Lande Vorschub leistet

Klaus-Peter Schöppner
24.01.2020

Die Zahlen zeigen klar nach unten: 41–34–27 und 25–22–14. Das sind die Fünf-Jahres-Fieberkurven von Union und SPD. Aus veritablen Volksparteien sind „Volksparteichen“ geworden. Der Verlust der politischen Bindekraft hat diejenigen Parteien erreicht, die Deutschland über 70 Jahre zu einer Wohlstandsrepublik gemacht haben. Im Bund kommt die einstmals „Große Koalition“ immerhin noch auf 41, in Thüringen kam sie im Herbst 2018 gerade noch auf 30 Prozent. Die politische Mitte hungert aus, die Ränder werden breiig dick! Was ist da los?

Ganz einfach: Deutschland ist voller Spalterthemen – und das wichtigste wird fast völlig ignoriert: „Was polarisiert unsere Gesellschaft am stärksten?“, fragte unlängst das Meinungsforschungsinstitut Mentefactum die Wähler. Die Antwort: nicht die Kluft zwischen Ost und West, Alt und Jung, nicht zwischen Stadt und Land. Mit 82 Prozent wurde die Spaltung der Gesellschaft in Wohlhabende und Abstiegsgefährdete am häufigsten genannt. Dabei bemängelten die Befragten weniger das faktische als vielmehr das mentale Auseinanderdriften in unserem Lande: auf der einen Seite die hart arbeitenden Leistungserbringer und auf der anderen die zwängefreien Leistungsempfänger.

Das Interesse der Politik, so die vielfache Wahrnehmung, gilt zuerst den Nehmern, kaum mehr den Gebern – und ignoriert damit die Lebensleistungen einer großen Zahl von Klein- und Mittelverdienern. Während die Zahl der Tafelnutzer gerade unter Beschäftigten in bedrohlichem Maße steigt, wird zur gleichen Zeit das Milliardenfüllhorn über Laute, Freche, Nimbys und Wirtschaftsimmigranten ausgeschüttet. Sie bestimmen die Politagenda und Mittelverteilung. Die Leisen, Redlichen, Angepassten spielen dagegen eine eher untergeordnete Rolle. Sie gehen oftmals leer aus.

Die redlichen Kleinbürger

Studien des DIW belegen die ungleiche Einkommensentwicklung in Deutschland: Trotz sehr guter Konjunktur ist es nicht gelungen, die untere Mittelschicht besser zu entlohnen und Einkommensungerechtigkeiten zu reduzieren. Deutlich stärker profitieren dagegen die Transferempfänger vom riesigen Leistungsbilanzüberschuss.

Daher sind es nicht nur die wirklich Armen, die Arbeitslosen oder Hartz-IV-Dauerempfänger, die sich vom Staat abwenden. Es sind vor allem die 30 Prozent „redlichen Kleinbürger“, die sich tagtäglich abrackern, die überforderten Alleinerzieher mit Kindern, Krankenschwestern, Niedrigrentner, Kassiererinnen, Taxifahrer, Altenpfleger, Paketauslieferer. Oder anders: die „So-eben-Gesellschaft“; alle diejenigen, die aus eigener Kraft gerade noch über die Runden kommen, für die der Kinobesuch aber schon schwierig und „Malle“ beinahe unerschwinglich wird. Diesen Bürgern ist noch eines gemeinsam: Ihnen fehlt der gesellschaftliche Respekt vor ihrer mühevollen Lebensleistung.

Vor allem diese „Wo-bleibe-ich?“-Bürger fühlen sich ausgegrenzt, obwohl der Staat sie unbedingt benötigt: diejenigen, die versuchen, ohne staatliche Alimentation auszukommen, die sich trotz allem intensiv um ihre Kinder kümmern, Strafmandate ehrlich begleichen, bei Steuererklärungen nicht tricksen. Die dann aber sehen, wie Staat und Gesellschaft ihnen ständig in die Tasche greifen: bei Mieten, Abgaben, Strom, bei der kalten Progression, bei Forderungen nach teurerem Fleisch, höheren Parkgebühren, Maut, steigenden Energiepreisen.

Im Gegenzug dürfen die Redlichen mitansehen, dass Banken-Boni als „systemrelevant“ gelten, dass beim Berliner Flughafen Zeitvorgaben und Kostenlawinen keine Rolle spielen und sich Ausländer ohne Bleiberecht auf Staatskosten hier einrichten dürfen. Sie erleben, dass das Anspruchsdenken vieler Migranten das eigene übersteigt – und Kritik an unflätigem Verhalten sofort mit dem Wort „Nazi“ gekontert wird. So werden die Migrationskosten in einem Labyrinth aus Zahlen und Zuständigkeiten weichgespült, vermutlich weil seriöse Rechnungen auf über 25 Milliarden Euro im Jahr kommen. Warum, so der Frust in der Mitte, bleibt da so wenig für die einheimischen Abstiegsgefährdeten? Und wer wie Carsten Linnemann im vergangenen Sommer Sprachanforderungen an die Einschulung von Migranten stellt, muss einen riesigen Shitstorm über sich erdulden. Obwohl über 70 Prozent der Deutschen seine Meinung vertreten.

Protest mit dem Stimmzettel

In dem hochexplosiven Gemisch aus Ignorieren, Verschweigen und Zurechtweisen sowie angesichts der wachsenden Sorgen um den Zusammenhalt unserer Gesellschaft sehen viele Deutsche derzeit keinen anderen Weg, sich bemerkbar zu machen, als ihre Stimme der AfD zu geben. Besonders die vor 25 Jahren zu uns gekommenen Russlanddeutschen, früher überzeugte Helmut-Kohl-Wähler, sind auf AfD-Kurs eingeschwenkt. Nicht weil sie rechtsradikal oder ausländerfeindlich wären, sondern weil das Gefühl der Ungerechtigkeit sie umtreibt: „Wir mussten für unseren kleinen Wohlstand sehr lange extrem hart arbeiten, während heute bei Migranten oftmals eine ‚Muss-nicht'-, ‚Will nicht'- und ‚Ich habe das Recht'-Stimmung herrscht“, ist von ihnen oft zu hören. Rückzug und Protest mit dem Wahlzettel sind die Konsequenzen dieser „stillen Revolution“ der „Ich schaffe, andere profitieren“-Wähler.

In der Folge wird stärker emotional und weniger rational gewählt. Protesthaltung und Populismus nehmen zu. Darunter leidet zuerst die Debattenkultur, dann die ernsthafte Auseinandersetzung mit Argumenten – und schließlich führt dies zu einem verstärkten egozentrischen Verhalten in einer stark fragmentierten Gesellschaft. Wo der offene Diskurs schwindet, wächst der Einfluss von Lobbygruppen, die die Politik als Erfüllungsgehilfen eigener Interessen betrachten.

Politik in Nebenräumen

In diesem Zusammenhang machen sich auch die wachsenden Möglichkeiten politischer Beeinflussung außerhalb der traditionellen Organisationen negativ bemerkbar. Anstelle von Parteien bestimmen zunehmend Influencer in den sozialen Medien, NGOs, „Pegida“, „Fridays for Future“ etc. die Agenda. Trillerpfeifendemokratie tritt an die Stelle des respektvollen Ringens um Argumente. Die desaströsen Wahlergebnisse von SPD und CDU sind auch darauf zurückzuführen, dass sich die klassische Mitte der Gesellschaft in den neuen Umgangsformen nicht zurechtfindet.

Diese Gemengelage aus Leben am Abgrund, Zukunftsängsten und fehlender Anerkennung macht auch die aktuelle Klimadebatte gefährlich: Weil hier gegen den wichtigsten Grundsatz einer fairen Politik, die Ambivalenz, verstoßen wird. In diesem Zusammenhang rächt sich auch, dass unsere Parlamente vornehmlich aus Beamten und Berufspolitikern bestehen. So bestimmen soziale und zunehmend auch ökologische Fragen die Debatten, während ökonomische Kompetenz oftmals fehlt und wirtschaftliche Aspekte entsprechend zu kurz kommen.

Wohin solch eine Lage führen kann, hat sich in Frankreich gezeigt. Dort haben sich die Proteste der „Gelbwesten“, die das Land seit über einem Jahr in Atem halten, am Benzinpreis, an hohen Lebenshaltungskosten, prekärer Beschäftigung und ländlicher Verödung entzündet. Gerade an denjenigen Fakten, die auch in Deutschland kritisiert werden. Ein Überschwappen der Gelbwesten nach Deutschland ist daher umso wahrscheinlicher, je regulativer etwa der Klimaschutz den Bürgern verordnet wird.

Wege aus der Krise

Was also muss die Politik tun, um eine Brücke zwischen den gesellschaftlichen Polen, den Gesicherten und Ungesicherten, den Hofierten und Frustrierten zu schlagen? Zum einen muss sie die Leistungen der breiten gesellschaftlichen Mitte wieder anerkennen. Dazu gehören vor allem akzeptable Lebensbedingungen. Wer hart arbeitet, muss von seinem eigenen Einkommen gut leben können.

Zudem muss die Politik Einstellungen wie Aufrichtigkeit auch mental anerkennen. Warum nicht hin und wieder einmal laut und vernehmlich „Danke!“ sagen und Korrektheit würdigen? Nicht zuletzt muss die Politik Aktivitäten und nicht das Nichtstun belohnen: keine Leistung ohne Gegenleistung. Jeder der kann, muss seinen Beitrag leisten – und sei er auch noch so gering. Sonst bleibt der Aktive der Dumme.

Über 70 Jahre gab es in der Bundesrepublik „sozialen Frieden“: Dieser steht auf der Kippe wie seit Kriegsende nicht mehr. Die nächste große Protestbewegung in unserem Lande würde wahrscheinlich aus der Mitte der redlichen Gesellschaft kommen. Und damit eine Flutwelle ungeahnten Ausmaßes zur Folge haben!

Klaus-Peter Schöppner ist seit 2014 Geschäftsführender Gesellschafter des Meinungsforschungsinstituts Mentefactum. Von 1990 bis 2013 war er Geschäftsführer von TNS Emnid. mentefactum.com


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