Preußische Allgemeine Zeitung Zeitung für Deutschland · Das Ostpreußenblatt · Pommersche Zeitung
Jahrelang bereits als Aspirant gehandelt, erhält der in Berlin lebende László Krasznahorkai in diesem Jahr die begehrte Ehrung
Der diesjährige Literaturnobelpreis geht an den 71-jährigen Ungarn László Krasznahorkai. Er ist damit nach Imre Kertész der zweite ungarische Preisträger dieser renommierten Auszeichnung. 2023 wurden Katalin Karikó (Medizin) und Ferenc Krausz (Physik) ebenfalls mit einem Nobelpreis geehrt. Ungarn hat der Welt überproportional viele Nobelpreisträger geschenkt, doch entfalteten viele von ihnen im Ausland ihr Wirken. Der heuer Ausgezeichnete lebt zwar schon seit Jahren in Berlin, doch verbrachte er Kindheit und Universitätsjahre in seinem Heimatland, auch die ersten Werke schuf er dort. Gerade darum ist man in Ungarn stolz auf den Drehbuchautor und Schriftsteller, das ganze Land gratulierte ihm unisono. Und auch wenn Krasznahorkai als bekennender politischer Gegner der Orbán-Regierung gilt, ließ es sich der Ministerpräsident nicht nehmen, dem Nobelpreisträger persönlich zu gratulieren.
Ein fesselndes wie visionäres Werk
Das Nobelpreiskomitee würdigte den Ungarn mit folgenden Worten: „ ... für sein fesselndes wie visionäres Werk, das inmitten apokalyptischen Schreckens die Macht der Kunst bekräftigt“. Die erste Reaktion von Krasznahorkai auf diese Ehrung war bezeichnend für seinen schalen Humor: Dem schwedischen Radio erklärte er, dass er ruhig und unruhig zugleich sei, denn: „Es ist bisher der erste Tag, an dem ich den Nobelpreis erhalten habe.“
Der Erfolgsautor wurde am 5. Januar 1954 in der südosteuropäischen Kleinstadt Gyula nahe der rumänischen Grenze geboren. Diese entlegene Gegend wird in Ungarn als „Sturmecke“ bezeichnet, weil sie dem Land stürmische Umbrüche und wetterfeste Charaktere bescherte. Krasz-nahorkai ist ein ebensolcher sturmerprobter und erdverwachsener Schriftsteller. Seine Werke sind voller Wucht und von erschlagender Stärke, erzählerischer Klarheit und tiefen Gedanken.
Sein Erstlingswerk „Satanstango“ erschien vor 40 Jahren. Darin beschrieb Krasznahorkai auf fabelhafte Weise die inneren Brüche und Spannungen in einer südostungarischen Siedlung, in die das kommunistische Kolchosenwesen Verfall und Trostlosigkeit gebracht hatte. Das Werk ist eine Absage an Ideologie und Verheißung und war in den späten 1980er Jahren des ungarischen Kádár-Regimes eine unerhörte literarische wie politische Meisterleistung, die zu Recht in viele Sprachen übersetzt wurde.
Den deutschen Lesern dürfte das Wirken Krasznahorkais nicht ganz verborgen geblieben sein. Neben „Satanstango“ liegen in deutscher Sprache auch andere Werke des Ungarn vor, allen voran der in Deutschland handelnde Roman „Herscht 07769“. Diese Erzählung spielt in einer fiktiven Thüringer Kleinstadt namens Kana, deren Postleitzahl im Werk 07769 ist. Es bedarf kaum großer Ortskenntnisse, um zu erkennen, dass sich der Schriftsteller an dem fast gleichnamigen Städtchen Kahla südlich von Jena mit der fast identischen Postleitzahl 07768 orientiert. In den letzten Jahren für seine aus Jena herausgedrängte Neonaziszene bekannt, steht Kahla für eine im Osten des Landes angeblich grassierende Xenophobie und Kleingeistigkeit. Auch der Autor bedient sich dieses Klischees, indem er Kana symbolisch für den in seiner Lesart rückwärtsgewandten und fremdenfeindlichen Osten stellt.
Der Protagonist Florian Herscht ist ein einfacher wie behäbiger Hilfsarbeiter, der sich mit schlecht bezahlter Fassadenreinigung über Wasser hält. Dabei stehen er und die anderen Putzmänner wohl als Chiffre einer vorgeblichen Säuberung nicht nur der Hauswände, sondern auch abweichender Meinungen. Der Vorgesetzte, einfach nur „Boss“ genannt, nutzt Herscht nicht nur wirtschaftlich wie existenziell schamlos aus, sondern will ihn auch politisch instrumentalisieren. Dessen plumpes Werben um den Eintritt in die „Einheit“, eine Neonazi-Schlägertruppe und das fast schon fanatische Eifern um diese Gesinnung auch optisch feiernde Tattoos lassen den Boss in den Augen von Florian Herscht zur furchterregenden Allmacht wachsen. Nomen non est omen: Herscht herrscht nicht, sondern wird beherrscht. Umso mehr verwundert, dass der aus prekären materiellen wie intellektuellen Verhältnissen stammende Herscht sich ein Herz fasst und der Bundeskanzlerin Angela Merkel einen Brief aufsetzt, vor der nahenden Apokalypse warnend. Als Absender schreibt er lediglich seinen Nachnamen und die Postleitzahl aufs Couvert, in der wohlweislichen Annahme, dass ihn im Örtchen wohl jedermann kennt. Doch eine Antwort lässt auf sich warten.
Aus dem beflissenen Absendercode ist der zunächst verwirrende Titel des ganzen mehr als 400 Seiten starken Werkes geworden, das aus einem einzigen Satz besteht. Der Gebäudereiniger sucht in der vermeintlichen Verheißung Merkel die Flucht aus seiner alltäglichen Misere, doch die politische Botschaft ist unüberhörbar: Die Kanzlerin erscheint als Retterin aller Geknechteten und Unterdrückten – dieses wohlfeile Bild zu fertigen entsprach wohl den späten Merkeljahren: „Nein, sie ist anders, sie hört auf die einfachen Bürger“
(S. 29). Dass ein ausländischer Beobachter dieses Zerrbild zeichnet, belegt die umfassende Verankerung Krasznahorkais in den deutschen Verhältnissen, auf die er sich mit diesem Buch zutiefst einlässt.
Über die politische Aussage kann man streiten, doch über die erzählerische Wucht, die tiefe Kenntnis der Stimmung in den neuen Bundesländern und das feinsinnige Gespür für Land und Leute freilich nicht.
Die Wahrheit ist komplexer
Der Literaturnobelpreis für den streitbaren Krasznahorkai wird sicherlich die innerdeutschen Debatten um die politischen Verhältnisse im Land weiter befeuern. Die Auszeichnung wird von einigen auch als Ansporn für das kritiklose Übernehmen der Narrative des stumpfen Ostens herhalten müssen – leider. Die Wahrheit ist viel komplexer, als dass selbst ein gut geschriebener und fesselnder Roman sie ausdrücken kann. Die Gegenwartskritik mag durchaus berechtigt sein, doch schlussendlich müssen die Menschen vor Ort entscheiden, wem sie ihre politische Zukunft anvertrauen.
Dieser Befund kann und muss auch für das Heimatland des Autors gelten. In einem halben Jahr finden dort Parlamentswahlen statt. Es ist nicht ganz ausgeschlossen, dass die Bilder und Codes von Krasznahorkai auch im dortigen Wahlkampf instrumentalisiert werden. Davor sollten verständige Leser gefeit sein, schon deshalb ist die Lektüre von Krasznahorkai dringend empfohlen.