Preußische Allgemeine Zeitung Zeitung für Deutschland · Das Ostpreußenblatt · Pommersche Zeitung
Vor 100 Jahren begann das als „bühnenreifes Drama“ beschriebene „gewagte Leben“ des CDU-Partei- und -Fraktionschefs, Oppositionsführers, Kanzlerkandidaten, Ministers und Bundestagspräsidenten
Rainer Candidus Barzel wurde am 24. Juni 1924 in Braunsberg im Ermland geboren. Den zweiten, lateinischen Vornamen erbte er von seinem Vater Candidus Barzel, einem angesehenen Studienrat, der aus Lötzen stammte. Das Ermland war im Gegensatz zum ansonsten rein protestantischen Ostpreußen überwiegend katholisch und somit eine konfessionelle Diaspora. Barzels Mutter, Maria Skibowski, stammte aus Lyck. Sein Vater, der im Ersten Weltkrieg Fliegerleutnant der Luftstreitkräfte war, wechselte 1919 als Studienrat an das Gymnasium Hosianum nach Braunsberg. 1922 promovierte er mit einer volkswirtschaftlichen Arbeit an der Universität Königsberg.
Die Familie war im katholischen Milieu Braunsbergs fest verankert. Von den insgesamt acht Kindern wurde der Älteste, Werner, Mitglied des Jesuitenordens, zu dem die Familie enge Kontakte pflegte. Obschon er bereits mit sechs Jahren aufgrund einer Versetzung des Vaters mit der Familie von Braunsberg nach Berlin zog und nur noch in den Ferien nach Ostpreußen kam, empfand sich Barzel immer als Ostpreuße. Er zählte sich nach 1945 zu den Heimatvertriebenen.
In Berlin wurde Barzel 1934 Schüler auf einem Jesuiten-Gymnasium. Im Zuge des sogenannten Röhm-Putsches wurde im Sommer 1934 auch der katholische Jugendführer Erich Klausener, ein Freund der Familie, ermordet. Barzels Mutter versorgte heimlich eine jüdische Familie aus Braunsberg in ihrem Berliner Versteck mit Nahrungsmitteln. Nach dem Notabitur verpflichtete sich der 16-Jährige freiwillig zum Dienst in der Luftwaffe.
Wie sein Vater im Ersten wurde er im Zweiten Weltkrieg Militärpilot. Das Kriegsende erlebte Barzel in Flensburg, der Kriegsgefangenschaft konnte er sich geschickt entziehen. Seine Verlobte Kriemhild, die er seit 1940 kannte und 1948 heiratete, stammte aus Köln. Dort schrieb sich Barzel für Jura und Volkswirtschaftslehre an der Universität ein. Das Kölner katholische Milieu und seine Institutionen waren für den vormaligen Jesuiten-Schüler Starthilfe in Westdeutschland.
Seine akademische Ausbildung schloss Barzel nach sechs Hochschulsemestern und anschließender Promotion zum Dr. iur. im Jahr 1949 ab. Bevor er seine volkswirtschaftlichen Studien beenden konnte, trat er die Stelle als Persönlicher Referent des nordrhein-westfälischen Ministers für Angelegenheiten des Bundesrates, Carl Spiecker (Zentrum), an.
Adenauer förderte den Ostpreußen
Mit dem Kölner Konrad Adenauer hatte er schon früh ebenfalls engen Kontakt. Anders als Adenauer schwankte Barzel zunächst noch zwischen CDU und Zentrum, da sein Vater Zentrumskommunalpolitiker war. Dennoch absolvierte Barzel eine der steilsten Politikerkarrieren in der jungen Bundesrepublik. Er galt als begabt, intelligent, fleißig und mit einer schnellen Auffassungsgabe gesegnet. 1957 schaffte er auf Anhieb als Direktkandidat der CDU in Ostwestfalen mit fast siebzig Prozent der Stimmen den Einzug in den Bundestag. 1962/63 wurde er Adenauers jüngster Minister, der für Gesamtdeutsche Fragen. Er wollte daraus ein Ministerium für gesamtdeutsche Antworten machen, pflegte er zu sagen. Ihm gelang es als Erstem, politische Gefangene aus Walter Ulbrichts Verliesen herauszuholen.
Als 1966 Deutschland in eine Rezession rutschte und die FDP aus der von Ludwig Erhard geführten Regierung ausstieg, schlug die Stunde von Barzel. Adenauer wollte ihn zum Bundeskanzler einer Großen Koalition machen, aber Barzels Intimfeinde, Franz-Josef Strauß (CSU) und der rheinland-pfälzische Ministerpräsident Helmut Kohl, verhinderten ihn. Bundeskanzler wurde Kurt Georg Kiesinger, aber Barzel und Helmut Schmidt zogen in der ersten Großen Koalition als Fraktionsvorsitzende die Fäden. Das Bündnis aus CDU/CSU und SPD zwischen 1966 und 1969 erwies sich als äußerst effizient. Barzel verschob die Machtverhältnisse innerhalb der CDU von der Partei, die von Adenauer bis zum 23. März 1966, von Erhard bis zum 23. Mai 1967, von Kiesinger bis zum 5. Oktober 1971 und danach von ihm selbst geführt wurde, in die von ihm seit 1964 geführte Fraktion. Mit 42 Jahren war er auf dem Höhepunkt seiner Macht.
SPD-Fraktionschef Schmidt wurde zu einem kongenialen Partner und Freund. Als die CDU nach der Bundestagswahl von 1969 infolge der sozialliberalen Koalition Oppositionspartei wurde, wurde Barzel Oppositionsführer. Auf dem 19. CDU-Bundesparteitag in Saarbrücken am 4. und 5. Oktober 1971 wurde der CDU-Fraktionsvorsitzende zusätzlich zum Parteivorsitzenden gewählt, doch in Helmut Kohl stand ein noch jüngerer Herausforderer bereit, der sich als Ziehsohn Adenauers ausgab und gegen Barzel intrigierte.
Kohl und Strauß bremsten ihn aus
Die neue Ostpolitik der Regierung Brandt/Scheel spaltete ab 1969 das Land. Während Bundeskanzler Willy Brandt von „zwei Staaten in Deutschland“ redete, sah Barzel die Wiedervereinigung in Gefahr. Als der Schlesier Herbert Hupka im Februar 1972 wegen der Entspannungspolitik von der SPD zur CDU wechselte und eine Handvoll weiterer Abgeordneter folgte, darunter auch Erich Mende, der FDP-Vorsitzende, schienen Brandt und seine Ostpolitik am Ende. Dabei war Barzel nicht gegen die Ostverträge, sondern er wollte bessere aushandeln. Das Misstrauensvotum gegen Brandt verlor Barzel, weil mindestens zwei eigene Abgeordnete – wahrscheinlich mit Hilfe des damaligen Parlamentarischen Geschäftsführers der SPD und Agenten des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS) der DDR, Karl Wienand – sich von der Stasi kaufen ließen und gegen ihn votierten. Nach dem gescheiterten Misstrauensvotum und der anschließenden verlorenen Bundestagswahl mit ihm als Kanzlerkandidaten begann die langsame Demontage Barzels durch die eigenen Parteikollegen. Bis Mai 1973 verlor Barzel sowohl den Partei- als auch den Fraktionsvorsitz und musste in die einfachen Abgeordnetenreihen zurückkehren. Sein Nachfolger als Fraktionsvorsitzender wurde der spätere Bundespräsident Karl Carstens, sein Nachfolger als Parteichef der spätere Bundeskanzler Kohl.
Nach der sogenannten Wende von der sozialliberalen zur christlich-liberalen Koalition wurde Barzel unter Kohl 1982 erneut Bundesminister für innerdeutsche Beziehungen. Nach der vorgezogenen Bundestagswahl von 1983 wurde er Richard Stücklens Nachfolger als Bundestagspräsident. Von diesem Amt musste er nach nur einem Jahr unehrenhaft zurücktreten, weil er in die Flick-Parteispendenaffäre verwickelt gewesen sein soll, was nie bewiesen wurde.
Barzels Leben war ein „bühnenreifes Drama“ schrieb sein Biograph Kai Wambach. Mit erst 49 Jahren hatte er alle Spitzenämter verloren. „Ein gewagtes Leben“ – so nannte Barzel rückblickend das, was andere als politisch gescheitert, verunglückt und am Ende „unerfüllt“ beschrieben. Die Jahre nach seinem Abstieg waren von persönlichen Schicksalsschlägen überschattet. Seine Tochter beging Suizid, die erste Ehefrau starb an Leukämie, die zweite durch einen Verkehrsunfall.
Seine ostpreußische Heimat hat er nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges und vor dem Fall des Eisernen Vorhangs zweimal gesehen: zu seinem 50. Geburtstag 1974 und Ende der 1980er Jahre für den Dreh eines ZDF-Films. Der Film über Ostpreußen hieß: „Zu Besuch, aber nicht als ein Fremder“. Der Film ist eine Liebeserklärung an die Region und die Stadt seiner Kindheit.