Preußische Allgemeine Zeitung Zeitung für Deutschland · Das Ostpreußenblatt · Pommersche Zeitung
Als sich vor 80 Jahren der Zweite Weltkrieg seinem Ende neigte, wurde dies vielfach als Erlösung und Befreiung empfunden. Für den historischen deutschen Osten bedeutete es den Untergang jahrhundertealter Kulturlandschaften
Ob ein Ereignis als „historisch“ zu bewerten ist, kann oft erst im Nachhinein, manchmal nach langer Zeit beurteilt werden. Das Ende des Zweiten Weltkriegs in Deutschland, die Eroberung Königsbergs nach dreitägiger Abwehrschlacht am 9. April 1945 durch die Rote Armee wurden von denen, die dieses Inferno erlebten, als apokalyptisch empfunden, als epochale Zerstörung einer Welt, die bereits seit 1933 auf finsterste Abwege geraten war, ohne dass diese Entwicklung von der Mehrheit der Bevölkerung als nachteilig empfunden wurde.
Wie sehr diese Abwege, die der Nationalsozialismus dem deutschen Volk gewiesen hatte, etwas mit dem Abgrund zu tun hatte, in den eben dieses Volk vor 80 Jahren stürzte, erschloss sich den Deutschen und Ostpreußen – wenn überhaupt – erst viel später. Im Vordergrund der Erfahrung stand das existentiell erlittene eigene Leid, das der Familie, Nachbarn und Freunde. Weiter reichte der Horizont in der Stunde des Zusammenbruchs bei den meisten damals noch nicht.
Das Weihnachtsfest 1944 konnte in Königsberg wie die Kriegsjahre zuvor seit 1939 noch wie im Frieden gefeiert werden, obwohl die meisten Männer an den Kriegsfronten kämpften, viele bereits gefallen oder in Gefangenschaft geraten waren und Königsbergs Innenstadt seit Ende August 1944, nach zwei britischen Luftangriffen, in Trümmern lag. Auch die jahrhundertealte Dom- und Kathedralkirche, die sechs Jahre nach der von den Nazis 1938 zerstörten Synagoge in der Lindenstraße in Flammen aufgegangen war.
Auch die Schreckensereignisse von Nemmersdorf am 21. Oktober 1944 konnten die trügerische Ruhe des ausgehenden fünften Kriegsjahres nicht stören, zumal die NS-Behörden eine Evakuierung der Zivilbevölkerung bis zu diesem Zeitpunkt verhindert hatten. Hitler hatte die „Wolfsschanze“ nach über drei Jahren Im November 1944 verlassen. General Keitel ließ dieses Führerhauptquartier im Januar 1945 sprengen, das drei Tage später die Rote Armee erreichte, die in Rastenburg grausamste Untaten an der Zivilbevölkerung verübte.
Das Grauen begann im kalten Winter
Das furchtbarste aller möglichen Szenarien trat im Januar 1945 ein. Die Massenflucht der Ostpreußen nach Westen, die nach der viel zu späten Erlaubnis des Gauleiters Erich Koch ab Mitte Januar möglich war, die sowjetische Winteroffensive auf breiter Front seit dem 13. Januar 1945 nach Ostpreußen und der Rückzug der geschlagenen Wehrmachtstruppen vor der Roten Armee trafen auf Ostpreußens Straßen aufeinander in einem unvorstellbaren, vernichtenden Chaos, in dem die flüchtende Zivilbevölkerung bei eisigen winterlichen Temperaturen zwischen die Kampfeinheiten geriet und selbst zu Lande, zu Wasser und aus der Luft zum Angriffsziel wurde.
Da schon Ende Januar Ostpreußen von der Roten Armee eingeschlossen war, blieb den Flüchtenden nur der Weg über das vereiste Frische Haff, wo sie von russischen Kampfflugzeugen aus der Luft angegriffen wurden. Viele Trecks versanken im eisigen Wasser. Heute ist bekannt, dass die russischen Piloten ihre Opfer nicht nur beschossen, sondern auch fotografierten. So konnten erschütternde Foto-Dokumente von dieser Flucht über das Eis vor 80 Jahren bei einer Gedenkveranstaltung im Ostpreußischen Landesmuseum in Lüneburg gezeigt werden.
Es gehört zur Diabolik des von Hitler entfesselten Zweiten Weltkrieges, dass exakt in diesen Januartagen 1945 bei eisigen Temperaturen Häftlinge aus dem KZ Stutthoff, vor allem Frauen, von SS-Truppen über Königsberg nach Palmnicken getrieben wurden. Zahllose Häftlinge kamen bei diesem Wintermarsch zu Tode. Etwa dreitausend Frauen kamen in Palmnicken an und wurden dort in den Hallen des Bernsteinwerkes inhaftiert. In der Nacht zum 31. Januar 1945 wurden die Frauen von der SS auf das Eis des Strandes getrieben und mit Maschinengewehren erschossen.
Nahezu zeitgleich, am 30. Januar 1945, wurde das Flüchtlingsschiff „Wilhelm Gustloff“ von drei Torpedos eines sowjetischen U-Bootes getroffen und sank in der Ostsee mit Tausenden von Menschen, von denen sich nur wenige retten konnten.
Vergessene Schicksale
Der ostpreußische Schriftsteller Arno Surminski hat in seinem Buch „Winter fünfundvierzig oder Die Frauen von Palmnicken“ (2010) den Opfern an der Bernsteinküste ein literarisches Denkmal gesetzt. Zwei Zeitzeugen hat die Stiftung Denkmal für die ermordeten Juden Europas in Berlin eine Stimme für die Nachwelt gegeben: Maria Blitz in ihrem Bericht „Endzeit in Ostpreußen. Ein beschwiegenes Kapitel des Holocaust“ (2010) und Eva Nagler „Massenmord am Ostseestrand. Bericht einer Überlebenden“ (2025).
In seinem Vorwort für dieses Buch schreibt Arno Surminski: „Der Holocaust kennt viele Namen. Neben Auschwitz, Birkenau und Sobibor sind viele Orte Mittel- und Osteuropas in die traurige Geschichte eingegangen. Doch es gibt auch Namen, denen niemand ansieht, dass sie mit dem Holocaust verbunden waren. Dazu gehört der Badeort Palmnicken (Jantarny) an der ostpreußischen Samlandküste, bekannt durch ein Bernsteinwerk, in dem Arbeiter und Kriegsgefangene die Schätze der Erde im Tagebau förderten. Ende Januar 1945 ereignete sich dort ein Massaker an dreitausend jüdischen Frauen, die aus den Außen- und Arbeitslagern kamen, die das KZ Stutthof in Ostpreußen eingerichtet hatte. [...] Nur wenige Frauen überlebten das Massaker an der Samlandküste. Keine Zeitung berichtete davon, keine Radiosendung verbreitete eine Meldung. Auch die Rote Armee, die kurz darauf Palmnicken besetzte, nahm die Untat nicht wahr. Das Geschehen drohte durch Stillschweigen aus der Geschichte zu fallen. Erst ein halbes Jahrhundert später fiel der Schleier, und den Frauen von Palmnicken wurde ein Denkmal am Strand errichtet.“
Viele Ereignisse der ersten Monate des Jahres 1945 sind aus der Geschichte gefallen, zahllose menschliche Schicksale für immer vergessen. Aber von allen deutschen Provinzen hat Ostpreußen mit seiner Bevölkerung den höchsten Blutzoll entrichten müssen. Umso wichtiger ist die Erinnerung an die Geschehnisse, die das Inferno dieser ostpreußischen Tragödie überlebt hat und im Gedächtnis der Menschen haften geblieben ist.
Dabei ist die Tatsache am bedrückendsten, dass sich die Parallelität der Kriegsereignisse und der Fortsetzung der nationalsozialistischen Untaten bis zum Untergang der NS-Herrschaft ungebrochen fortgesetzt hat. Der Film „Der Untergang“, basierend auf dem Buch von Joachim Fest „Der Untergang. Hitler und das Ende des Dritten Reiches“ (2002), zeigt, wie bis in die letzten Kriegstage Nazi-Horden durch Berlin zogen und wahllos „Verräter“ an Bäumen und Laternenpfählen exekutierten. – Der Königsberger Juwelier Arnold Bistrick, Mitglied des Goerdeler-Widerstandskreises, sollte Ende April 1945 mit anderen Inhaftierten von Hitlerjungen in den Trümmern Berlins erschossen werden. Man konnte die Kinder überreden, sich nicht mit einer Mordtat ihr Leben zu belasten. Später war Bistrick mehrere Jahre Vorsitzender der Stadtgemeinschaft Königsberg.
Die eingeschlossene Bevölkerung in Königsberg versuchte mehrfach, den Belagerungsring der Roten Armee zu durchbrechen. So gelang es dem alten Seemann Carl Friedrich von Möller, auf kleinen Schiffen über den Seekanal Tausende von Zivilisten nach Pillau zu bringen, wo sie großenteils Anschluss an Rettungsschiffe nach Westen fanden. Bei einem Angriff der Russen auf Quednau konnte die deutsche Gegenwehr dreißig Panzer vernichten und die Russen aufhalten. Der Befehlshaber der 3. Weißrussischen Front, Marschall Tschernjachowski, überschätzte daraufhin die Stärke der Festung. Sonst wäre Königsberg viel früher gefallen. So aber verblieb dem zur Festung erklärten Königsberg unter Hitlers Durchhaltebefehl eine Atempause von neun Wochen bis Anfang April.
Das Beispiel Königsbergs
Der Sturm auf Königsberg begann, als ganz Ostpreußen bereits in der Gewalt der Roten Armee und die Hauptstadt seit Langem eingekesselt war, am 6. April 1945 und dauerte drei schreckliche Tage und Nächte. Als General Lasch gegen den Befehl Hitlers kapitulierte und mit seinen Soldaten in die Gefangenschaft ging, fanden die Russen noch eine Zivilbevölkerung von etwa 130.000 Personen vor. Der wutschnaubende Diktator ließ Otto Lasch zum Tode verurteilen, seine Familie wurde in Sippenhaft genommen.
Was sich nach der Eroberung Königsbergs in der Stadt abspielte, haben Hans Graf von Lehndorff in seinem „Ostpreußischen Tagebuch“ (1961), Fritz Gause im dritten Band seiner „Geschichte der Stadt Königsberg“ (1971) und viele andere Autoren beschrieben. Sechs Tage überließ die sowjetische Führung die Bevölkerung dem Hass und der Willkür der Eroberer. Ungezählte Frauen wurden vergewaltigt und ermordet, Krankheit und Hunger rafften Tausende hinweg. Nach Gause starben über 35.000 Menschen schon in den ersten beiden Monaten nach der Kapitulation. Groß war die Zahl derjenigen, die durch Freitod aus dem Leben schieden. Gause zählt in seinem Bericht viele namentlich auf. Das Grauen, die Schrecken und das Elend waren unermesslich. Königsberg wurde zu einem Todeslager.
Königsberg war schon in der Konferenz von Teheran 1943 von Stalin als Entschädigung für die von den Deutschen verursachten Leiden des russischen Volkes beansprucht worden. De Gaulle hatte dieses sowjetische Kriegsziel 1944 bei einem Besuch in Moskau anerkannt. In der Konferenz von Potsdam wurde es 1945 bestätigt. 1946 benannten die Sowjets Königsberg in „Kaliningrad“ um. Stadt und Oblast wurden russisch und sind es bis heute geblieben. Die wenigen Deutschen, die das Königsberger Todeslager überlebten, etwa 20.000, wurden von 1947 bis 1949 nach Westen evakuiert. In der Zeit danach, von 1948 bis 1991 fand die vollständige Russifizierung statt. Gause schreibt: „Die siebenhundertjährige Geschichte Königsbergs nahmen die Ausreisenden mit in ihr Vaterland. Was sie hinter sich ließen, war Kaliningrad.“
Ein Wiedersehen der russifizierten Stadt und Region, der Kaliningradskaja Oblast, war erst nach 1991 möglich und wurde von vielen Königsbergern und Ostpreußen dankbar genutzt. Es konnte 1994 sogar die 450-Jahr-Feier der Königsberger Universität Albertina mit über tausend internationalen Gästen festlich begangen werden. Aber diese Öffnung war nur eine Scheinblüte deutsch-russischer Freundschaftsbeziehungen, die mit der Machtübernahme Wladimir Putins im Jahre 2000 endete. Seit der Einnahme der Krim 2015 und spätestens mit dem Angriff auf die Ukraine 2022 zeigte Moskau wieder das Gesicht einer imperialen Eroberungsmacht.
Kein ewiger Frieden
In einer Stadt wie „Kaliningrad“, die mit ihrem Umland voller Atomwaffen in das Geschehen des Ukrainekrieges einbezogen ist, konnte natürlich 2024 die 300-Jahr-Feier des Friedens-Philosophen Immanuel Kant von deutscher Seite nicht stattfinden. Kant, der Ostpreußen zeitlebens nie verlassen hatte, war nun post mortem gewaltsam aus seiner Heimat vertrieben worden.
Die historisch bleibende Bedeutung des deutschen Untergangs zeigt sich nicht nur in der territorialen Amputation eines Viertels des früheren Reichsgebietes und der kulturellen Amputation des pommerschen, ostpreußischen und schlesischen jahrhundertealten Erbes, sondern brennpunktartig auch in der geistig-kulturellen Verwüstung des Königsberger Gebietes und der Heimatstadt Kants, die von Moskau für seine imperialen Ziele missbraucht wird. Die Verantwortung für diese Tragödie liegt bei Hitler und Stalin sowie bei den heutigen Machthabern im Kreml. Ob die heutige Situation ein Dauerzustand für die Zukunft bleiben wird, vermag nur die Geschichte zu beantworten.
Klaus Weigelt ist Vorsitzender der Stadtgemeinschaft Königsberg e.V. Zu seinen Büchern gehören „Im Schatten Europas. Ostdeutsche Kultur zwischen Duldung und Vergessen“ (Westkreuz-Verlag 2019) sowie „Schweigen und Sprache. Über Ernst Wiechert“ (Quintus-Verlag 2020). www.stadtgemeinschaft-koenigsberg.de