29.10.2025

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Offensichtliche Schieflage: Während die Bürger die Folgen der unkontrollierten Migration täglich spüren, werden diese – wie hier am Hamburger Steindamm – von Meinungsführern im rot-grünen Lager noch immer bestritten
Bild: IMAGO/Jannis GroßeOffensichtliche Schieflage: Während die Bürger die Folgen der unkontrollierten Migration täglich spüren, werden diese – wie hier am Hamburger Steindamm – von Meinungsführern im rot-grünen Lager noch immer bestritten

Ein deutscher Herbst

Mit seiner eher beiläufig gefallenen Äußerung über das veränderte „Stadtbild“ in vielen Orten des Landes hat Bundeskanzler Merz eine nicht enden wollende Debatte ausgelöst. Szenen eines Kulturkampfes um einen Politikwechsel in Deutschland

Reinhard Mohr
29.10.2025

Man wünschte sich, die völlig aus dem Ruder gelaufene, maßlose Empörung über Friedrich Merz' Wort vom „Stadtbild“ wäre nur ein Sturm im Wasserglas gewesen. Denn jeder, der in diesem Land überhaupt noch auf die Straße geht, weiß doch, was Merz gemeint hat: Immer mehr Messerverbotszonen, Weihnachtsmärkte als Hochsicherheits-Bereiche, nächtliche No-go-Areas vor allem für Frauen, Schwule und Juden, steigende Gewaltkriminalität, weit überproportional von zugewanderten Ausländern verursacht, Schlägereien im Freibad, urbane Verwahrlosung, Müll, Lärm und eine Tendenz zur Islamisierung bestimmter Stadtteile, die bis in die Schulen reicht, wo Schülerinnen ohne Kopftuch von muslimischen Mitschülern bedrängt werden, den Hijab aufzuziehen und den Ramadan einzuhalten. Immer häufiger werden Gebetsräume vor Gericht eingeklagt, und wer durch bestimmte Straßen großer Städte läuft, sieht fast nur noch junge Männer meist ausländischer Herkunft, die in Gruppen zusammenstehen.

Aber nein, die Wucht der grenzenlosen moralischen Aufwallung war gewaltig. „Widerlich“, „menschenfeindlich“, „rassistisch, „spalterisch“ – das Wort vom „Stadtbild“ hat die links-grüne politische Klasse und große Teile der Medienöffentlichkeit zu neuen Höchstleistungen der Empörungskultur getrieben. Viele führende Sozialdemokraten, darunter auch Vizekanzler Klingbeil, schlossen sich an, die üblichen Prominenten sowieso. Die „heute show“ im ZDF platzte geradezu vor Begeisterung, es dem verhassten Kanzler wieder einmal so richtig geben zu können. Und natürlich musste sich auch der 83-jährige Günter Wallraff („Ganz unten“) zu Wort melden und Merz zurufen „Gehen Sie in sich!“ „taz“-Chefreporter Peter Unfried fragte sicherheitshalber seine Tochter. Antwort: Ihr Problem seien vor allem „weiße Männer über 50, die Frauen im öffentlichen Raum begrapschten“. Na denn.

Ein Maximum an Realitätsverleugnung
Psychologen würden sagen: Hier explodierte das ganze Potential an Realitätsverleugnung und Verdrängung, das in diesem Land mobilisiert werden kann. Sigmund Freud diagnostizierte vor über hundert Jahren das Symptom der Hysterie bei Damen der gehobenen Wiener Gesellschaft, die ihre sexuellen Wünsche unterdrückten und verdrängten.

Die politische Hysterie, deren Zeugen wir gerade geworden sind, ist dagegen eine Folge der Verdrängung all jener gesellschaftlichen Probleme, die mit der Masseneinwanderung in den letzten zehn Jahren zusammenhängen. Das perfide kalkulierte Missverständnis einer gewiss ungeschickten und unterkomplexen Äußerung im Nebensatz verrät viel über die aktuelle Lage in Deutschland. Statt einfach mal vor die Tür zu gehen, dahin, wo es „weh tut“ (Sigmar Gabriel) und ziemlich unschön ist, echauffieren sich die üblichen Verdächtigen des linken Kulturkampfes über einen vermeintlichen „Generalverdacht“ gegen Millionen Menschen, die hier seit Jahren und Jahrzehnten leben und arbeiten. Dabei wissen sie genau, dass das eine Lüge ist.

In Wahrheit fürchten die links-grünen Verdrängungskünstler die Beschreibung ideologisch unliebsamer Realitäten wie der Teufel das Weihwasser. Es gab auch Zustimmung für den Kanzler, von Parteifreunden, Landräten und Bürgermeistern. „Merz hat ausgesprochen, was viele Bürger denken, aber selten offen sagen“, sagte etwa der Tübinger Oberbürgermeister Boris Palmer. Es gebe durchaus ein Problem im Stadtbild, und dies hänge zusammen „mit dem Gefühl, dass Ordnung, Sicherheit und Regeln nicht mehr konsequent durchgesetzt werden“. Polizeigewerkschafter ergänzten, dass es selbst für ihre Beamten, zum Beispiel im Umkreis großer Bahnhöfe, immer gefährlicher werde.

Das ZDF-Politbarometer ergab schließlich, dass knapp zwei Drittel der Deutschen das genauso sehen. Warum? Weil sie es täglich erleben. Umso absurder die wütende Blindheit, die sich als Moral tarnt, triefend vor Selbstgerechtigkeit.

Woher die Wut? Es tut sich eben doch was im Land: Der eben noch dominante links-grüne Zeitgeist kriegt seit ein paar Monaten immerhin Widerworte von höchster Stelle. Das kennen sie gar nicht mehr. Die politische Freiheit über den Wolken aus Moralismus, Besserwisserei und Bevormundung schien grenzenlos zu sein (danke, Reinhard Mey!). Umso größer nun die Empörung. Heidi Reichinnek, das rhetorische Maschinengewehr der neuen Lipstick-Linken, findet bald keine Worte mehr, um all die „rechtsreaktionären Untaten“ zu verdammen, zuletzt die Pläne einiger Kommunen, „Geflüchtete“ zu ein paar Stunden Arbeit in der Woche zu verpflichten. Wenn das keine unmenschliche „Ausgrenzung“ (Reichinnek) ist! Und jetzt soll es auch noch deutlich mehr Abschiebungen geben, dazu Verschärfungen an anderen Stellen, um illegale Migration zu verringern.

Das nützliche Gespenst des Populismus
Zum Glück für das links-grüne Lager gibt es die AfD, die den Antifaschismus im Land auf immer neue Höhen treibt. Ein hilfreicher Feind, der zugleich ein Verbündeter ist im Kulturkampf um die eigene ideologische Deutungshoheit. Auch der smarte „Tages-themen“-Moderator Ingo Zamperoni macht dabei mit. Im Interview mit dem Politikwissenschaftler Thomas Biebricher versuchte er erst gar nicht herauszufinden, was genau Merz gemeint haben könnte. Mit dem Attribut „populistisch“ ist alles gesagt.

In den öffentlich-rechtlichen Medien ist links allerdings noch lange nicht „vorbei“, wie Unionspolitiker glaubten, und genau hier liegt die Krux: In der Sandwich-Position zwischen dem links-grünen Realitätsverweigerungs-Milieu und der fundamental-oppositionellen AfD ist es für die politische Mitte verdammt eng geworden. Es fängt mit der Analyse der Situation, dem Lagebild, an und hört mit der Umsetzung wichtiger Wirtschafts- und Sozialreformen nicht auf. Überall Aufschrei und Empörung.

Die AfD selbst braucht übrigens zur Zeit nichts zu tun, außer zu warten und zuzusehen, wie sich die Parteien der Mitte von selbst zerlegen. In einigen Umfragen ist sie bereits die stärkste Partei – vor CDU und CSU. Jahrelange Versäumnisse der Politik rächen sich jetzt. Wut und Enttäuschung „draußen im Lande“ münden in jene deutsche „Lust am Untergang“, die der Schriftsteller Friedrich Sieburg schon in den fünfziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts diagnostiziert hatte. Ein Spiel mit dem Feuer – aber ansteckend.

Die Stimmung im Volk
Doch es hilft nichts: Die Lage ist tatsächlich ernst. Mindestens drei von vier Deutschen würden dem zustimmen. Sie kennen die Probleme – von der strukturell verursachten Wirtschaftskrise über die Folgen der Massenmigration bis zu unhaltbaren Zuständen bei der Infrastruktur, Bildung und Energiekosten, dazu ein unbezahlbarer, überbürokratisierter Sozialstaat, der zum Missbrauch geradezu einlädt. Manche fühlen sich inzwischen fremd im eigenen Land. Siehe „Stadtbild“.

Aber wehe, wenn Einschnitte bei bestimmten Sozialleistungen aufs Tapet kommen, wenn „gespart“ werden soll! Dann wird „die Axt an den Sozialstaat gelegt“, dann wird „auf den Ärmsten der Armen herumgetrampelt“, dann hat die „zynische Unmenschlichkeit“ freie Bahn.

Im logischen Umkehrschluss heißt das ja: Niemand muss in Deutschland arbeiten, weil ihm stets und bedingungslos ein Grundeinkommen zur Verfügung steht. Ein Offenbarungseid der Linken, den sie selbst gar nicht bemerkt: Nicht mehr die Arbeit beziehungsweise die Arbeiter, das Proletariat – bei Karl Marx noch die einzige Quelle der Mehrwertproduktion und des gesellschaftlichen Reichtums – stehen im Zentrum der Politik, sondern diejenigen, die, aus welchen Gründen auch immer, gar nicht oder nur wenig arbeiten, viele darunter, obwohl sie es könnten.

Sozialer Aufstieg durch Arbeit und Bildung – das war gestern. Heute geht es um die ideologisch jederzeit einsetzbare Verfügungsmasse der „Abgehängten“ und „Entmündigten“ – „Schutzbedürftige“ im weitesten Sinne, denen man nichts zumuten darf. Auch der Wunsch einer Mehrheit der Bürger nach weniger Arbeit und mehr „Work-Life-Balance“ ist kein Geheimnis. Was früher einmal der „Arbeiterstolz“ der Malocher war, ist heute das flexibilisierte Augenblicks-Bewusstsein der Job-Surfer in Teilzeit, gerne von Lissabon aus. Alles andere gilt als unzumutbare Knochenmühle, ganz ohne Meeresblick.

Währenddessen gelten 1,35 Billionen Euro, die Summe aller Sozialleistungen in einem Jahr, als unantastbar. Hilfe, bloß kein Sozialabbau! Ein Blick nach Frankreich genügt, um zu sehen, in welche Sackgasse der Unregierbarkeit das führen kann.

Kommt die Zeitenwende, Teil II?
All dies ließe sich ändern, ganz pragmatisch, denn letztlich ist es keine ideologische Frage von rechts oder links, sondern von Verstand und Vernunft: Realismus statt Moralismus. Wenn heute selbst ehemalige „Gastarbeiter“ aus Italien, Jugoslawien und der Türkei fragen, wo eigentlich das alte Deutschland geblieben sei, dann geht es nicht um preußische Pickelhauben-Herrlichkeit, sondern um die verlorenen Tugenden wie Augenmaß, Fleiß, Zuverlässigkeit und Effektivität, für die die Deutschen einmal Weltruf genossen.

Doch die Empörungsrituale des links-grünen, von zahllosen NGOs gestützten Milieus, zeigen, wie schwer im Augenblick jeder Versuch ist, auch nur die gröbsten Mängel in der Sozial-, Wirtschafts- und Klimapolitik zu beheben. Auch wenn es Abwehrkämpfe und Rückzugsgefechte sind – sie werden mit großer moralischer Geste ausgefochten. Der Kulturkampf ist im vollen Gange, wie die absurde „Stadtbild“-Debatte zeigt. Linke SPD-Bundestagsabgeordnete fordern jetzt sogar einen „Stadtbild“-Gipfel im Kanzleramt. Ihr Acht-Punkte-Plan zu „Schwierigkeiten im Stadtbild“ nennt vielfältige Ursachen: soziale Missstände, Wohnungsnot, Verwahrlosung öffentlicher Räume, fehlende soziale Infrastruktur und unzureichende Prävention. Zu den Gegenmaßnahmen zählen „Grünflächen, Wasserstellen, Sitzgelegenheiten“, „sicherer Fuß- und Radverkehr und barrierefreier ÖPNV“. Nur das Thema Migration kommt nicht vor.

Was nun? 49 Prozent der Befragten rechnen in einer aktuellen Umfrage damit, dass die aktuelle Bundesregierung nicht bis 2029 hält. Tatsächlich drohen französische Verhältnisse. Und seien wir ehrlich: Eine gute Lösung zeichnet sich nicht ab. Wenn selbst die stellvertretende Vorsitzende der SPD-Fraktion im Bundestag, deren Namen so gut wie niemand kennt, in Bielefeld gegen „ihren“ Kanzler auf die Straße geht („Bündnis gegen rechts“), dann möchte man ihr zurufen: Geh doch dahin, wo der Pfeffer wächst!

Eine aktive Zusammenarbeit mit der AfD würde die Union zerreißen, und die Mini-Volksfront aus der Reste-SPD, Grünen und Linken steckt auch weit unterhalb von 40 Prozent fest. Doch wie der Mauerfall vor 36 Jahren gezeigt hat: Wunder gibt es immer wieder. Damals war die Realität der maroden DDR stärker als jede Propaganda, und etwas Ähnliches könnte heute wieder passieren. Der Druck der Verhältnisse könnte etwas Neues erzwingen. Zum Beispiel die Entscheidung, den Koalitionsvertrag zu Altpapier zu erklären und das zu tun, was jetzt dringend notwendig ist: eine Zeitenwende, Teil II.

Denn so wie jetzt kann es sicherlich nicht weitergehen.

Reinhard Mohr schreibt unter anderem für „Die Welt“ und die „Neue Zürcher Zeitung“. Zuletzt erschien unter dem Titel „Good Morning Germanistan! Wird jetzt alles besser?“ die Fortsetzung seines mit Henryk M. Broder geschriebenen Bestsellers „Durchs irre Germanistan. Notizen aus der Ampel-Republik“ (2023, beide Europa Verlag). www.europa-verlag.com 


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