Preußische Allgemeine Zeitung Zeitung für Deutschland · Das Ostpreußenblatt · Pommersche Zeitung
Während die Menschen in Syrien noch immer den Sturz des Assad-Regimes feiern, wird deutlich, dass die Verschiebung der Kräfteverhältnisse im Nahen Osten nicht ohne Folgen für die globale Sicherheitsarchitektur bleiben wird
Als ob das Jahr 2024 nicht genug Knaller verursacht hätte ... Der Sturz von Baschar al-Assad in Syrien verändert über Nacht die bestehende Ordnung im Nahen Osten. Neben dem ungelösten Problem Palästina wird die Syrien-Frage die Gemengelage in der gesamten Region in den nächsten Jahren bestimmen. Die Frage, ob die syrische Zeitenwende die Chance für eine künftige Liberalisierung der arabischen Welt birgt, oder eher einer Expansion des Islamismus im Nahen und Mittleren Osten sowie in Afrika Vorschub leistet, dürfte dabei relativ schnell beantwortet werden. Die Vorstellung, nun kehre wie zu Beginn der 2010er Jahre ein Arabischer Frühling zurück, ist dabei ein typisch westlicher Trugschluss, dem Europa bedauerlicherweise in seiner naiven „wertegeleiteten Außenpolitik“ immer wieder unterliegt. Auch der Jubel über die krachende Niederlage Russlands, das mit Assad einen wichtigen Verbündeten verloren hat, ist voreilig.
Tatsächlich sind Russland und der Westen gleichermaßen vom Umsturz in Syrien höchst überrascht worden: die Russen negativ, die USA und die EU hingegen positiv. Russland wird vermutlich seine Militärbasis in Tartus am Mittelmeer verlieren, und damit auch seinen Großmachteinfluss im Nahen Osten. Der Westen wiederum freut sich auf die unverhoffte Chance, die vier bis fünf Millionen syrischen Kriegsflüchtlinge in der EU und Türkei schon bald wieder loswerden zu können und dadurch seine angeschlagenen Sozialbudgets zu entlasten.
Eine Region in Unordnung
Russland und der Westen werden sich im Nahen Osten rasch neu aufstellen müssen, um nicht als bloße Zaungäste ohne eigene Gestaltungskraft wahrgenommen zu werden. In Wirklichkeit weiß heute kein Mensch, wie die Reise in Syrien weitergeht. Die Erfahrungen, die arabische Länder in jüngster Zeit mit vergleichbaren Umstürzen gemacht haben, führte sie jedenfalls nicht in die Demokratie, sondern geradewegs in Chaos, Bürgerkrieg und Diktatur. Das beste Beispiel dafür ist Libyen, das nach der Intervention der NATO 2011 in einen permanenten Bürgerkrieg geriet und schließlich im Staatszerfall endete. Das zweite Beispiel ist der Irak, ein nach dem Sturz des Diktators Saddam Hussein fragiles Land, das beinahe vom terroristischen Islamischen Staat (IS) gekapert wurde. Auch Umstürze in Afghanistan, Ägypten und Tunesien führten nicht zum Sieg der sich anfangs durchgesetzten liberalen Kräfte, sondern zur Machteroberung der Islamisten und Autokraten.
Welchen Weg geht Syrien? Dieses Schlüsselland im Nahen Osten droht dem libyschen Szenarium zu folgen. Moderate, liberale Kräfte gibt es in Syrien nicht. Die Gestaltungsmacht haben dort die islamistischen Rebellengruppen, die untereinander noch keine Vorstellung darüber haben, wie Syrien künftig aussehen soll. Zumal die Lage in Syrien, das derzeit faktisch einen „Failed State“ darstellt, von äußeren Mächten wie der Türkei bestimmt wird. Momentan müssen sich alle Akteure bei Erdoğan hinten anstellen, falls sie in Syrien mitreden wollen. Das gilt auch für den Westen, der die Federführung Ankaras in der Region akzeptieren muss, um eine Massenmigration aus dem Nahen Osten, die jederzeit wieder ausbrechen kann, unter Kontrolle zu halten.
Die Europäische Union wird versuchen, ihren Einfluss wie immer mit Scheckbuchdiplomatie aufrechtzuerhalten, doch wird sie Erwartungen auf eine „Nachholung“ des Arabischen Frühlings kaum realisieren können. Man kann davor ausgehen, dass die EU und die Staaten des Globalen Südens sich mit unterschiedlichen Geldgeberkonferenzen für Syrien profilieren werden. Allerdings dürfte es schwierig sein für Brüssel, sich sowohl im Ukrainekrieg als auch im Nahost-Konflikt gleichermaßen zu engagieren.
Die Stunde Erdoğans
Der panische Auszug des Iran aus Syrien dürfte eher temporärer Natur sein. Über seine weitverzweigten islamistischen Netzwerke wird Teheran sich den Einfluss in Syrien zurückholen. Auch islamische Terrororganisationen wie der IS oder al-Kaida wittern bereits ihre Chance auf die Errichtung eines Kalifats. Warum sollte die Entwicklung in Syrien auch anders verlaufen als in Afghanistan, Irak oder Jemen? Der Iran der Mullahs steht als traditioneller Verbündeter Russlands und Gegner des Westens vor einer prekären Situation. In einer Situation anwachsender Spannungen mit Israel und den USA kann Teheran nicht erwarten, dass Moskau aktiv eingreift oder auch nur Unterstützung leistet – denn Russland hat mit dem Ukrainekrieg genug zu tun.
Sollte Russland seinen Status als Großmacht im Nahen Osten dauerhaft verlustig werden, droht ein weiteres Abspringen langjähriger, treuer Verbündeter. Gemeint sind die Staaten der Eurasischen Wirtschaftsunion, die alle auf Moskau als Schutzmacht vor islamistischen Gefahren aus dem Mittleren Osten setzen. Russlands Abnutzungskrieg in der Ukraine zehrt an ihren Loyalitäten. Die Länder Zentralasiens und des Kaukasus wollen sich nicht gegen EU und NATO positionieren und sind bestrebt, ihre wirtschaftlichen Beziehungen zu westlichen Staaten nicht zu gefährden. In diesem Kontext zeigt sich erneut die Gültigkeit des Zitats von Bill Clinton: „It's the economy, stupid.“ (Es ist die Wirtschaft, Dummkopf).
Russland wird sich gleichwohl nicht freiwillig zurückziehen, es wird um seinen Großmachtstatus in der Weltpolitik kämpfen. Zuviel steht auf dem Spiel. Moskau wird versuchen, die Tür zurück in den Nahen Osten über die Türkei zu öffnen. Anders als in seinem Kampf gegen die NATO an der Westgrenze scheint Russland sich notgedrungen mit Recep Tayyip Erdoğans Plan von der Wiederaufrichtung des Einflusses des alten Osmanischen Imperiums abzufinden. Hier ist Wladimir Putin sogar Antreiber der Integration Ankaras in die neuen anti-westlichen eurasischen Allianzen, wie die Schanghaier Organisation für Zusammenarbeit oder die BRICS+-Organisation. Und niemand, weder Russland noch der Westen, werden den Kurden in Syrien zu Hilfe eilen, wenn sie von der neuen Zentralregierung in Damaskus und der türkischen Armee am Aufbau ihrer Autonomie gewaltsam gehindert werden.
Eine Schmach für Moskau
Was Russland anbetrifft, so ist es als Schutzmacht für das Assad-Regime gescheitert. Moskau wird seine Lehren aus der Niederlage ziehen müssen. Die neue Lage in Nahost droht für den Kreml zum nächsten strategischen Dilemma zu werden, die russische Diplomatie wird versuchen, die Ausgangslage wieder zu ihren Gunsten zu verändern. Die russische Afrika-Expansion, die bislang von der Militärbasis in Tartus begleitet wurde, wird der Kreml künftig von seiner neuen Basis in Bur Sudan am Roten Meer durchführen. Auf diese Weise ist die Aufgabe von Tartus kein so großer dramatischer Verlust. Seine Militärflotte und Flugzeuge hatte das russische Verteidigungsministerium präventiv aus Syrien abgezogen, um sie vor Zerstörung und Angriffen in einem möglichen Bürgerkrieg, auf den Moskau keinen Einfluss nehmen kann, zu retten.
Letztendlich hat der überraschende Umsturz in Syrien nicht nur für Russland, sondern für die gesamte multipolare Weltordnung tiefgreifende Auswirkungen.
In den letzten Jahren waren die USA nach dem Scheitern ihrer Interventionen im Arabischen Frühling und der nachfolgenden Politik des Rückzugs aus dem Nahen Osten scheinbar schon überall draußen. Doch Donald Trump möchte sein Land wieder stärker auf die internationale Bühne zurückbringen. So wie Russland versucht, Ankara nach Eurasien zu ziehen, wird Trump versuchen, die Rolle der Türkei als wachsende regionale Macht und ihrem Aufleben des neo-osmanischen Gedankens als Schlüsselakteur im Nahen und Mittleren Osten – auch als Gegengewicht zu China – zu unterstützen.
China und Israel
Aber wie wird sich die aufsteigende Welt-macht China in dieser Gemengelage selbst zeigen? Die chinesische Initiative der Neuen Seidenstraße und Pekings Bemühen, als globaler Akteur möglichst alle Handels- und Rohstofftransitwege zu kontrollieren, sind auch nicht zu unterschätzende Bauteile der neuen multipolaren Weltunordnung, die sich in allen Regionen der Erde manifestiert.
Nicht zu vergessen ist Israel. Ein größeres militärisches Engagement ist nicht von der Tagesordnung gerückt, auch wenn die pro-iranischen Hamas- und Hisbollah-Milizen zuletzt in Gaza und im Libanon ihr Waterloo erlebt haben und Israel vonseiten Syriens so lange keine Kriegsgefahr droht, wie die innere Machtfrage in Damaskus nicht geklärt ist. Doch nachdem Israel zuletzt alle Militäreinrichtungen Syriens kaputtgebombt hat, wird sich der Zorn der künftigen Herrscher in Damaskus irgendwann wieder gegen Jerusalem richten. Die Wahrscheinlichkeit, dass Israel im Jahre 2025 in mehrere Frontkämpfe in seinem Norden und Osten verwickelt sein wird, ist jedenfalls groß. Und das wiederum birgt die Gefahr eines großen Krieges im Nahen Osten, den Beobachter schon während des Krieges in Gaza ausgemacht hatten.
Doch wie auch immer sich die Konflikte vor Ort entwickeln: Die US-Amerikaner und die Europäer müssen verstehen, dass die Zeiten, in denen sie von oben herab die Richtung vorgeben konnten, vorbei sind. Stabile Lösungen werden sie nur erreichen, wenn sie starke Partner aus der Region für sich gewinnen können – und mit ihnen auf Augenhöhe zusammenarbeiten.
Dr. Alexander Rahr ist Vorsitzender der Eurasien-Gesellschaft. Er war Berater für diverse deutsche und russische Firmen und ist Autor mehrerer Bücher über Russland, unter anderem einer Biographie über Wladimir Putin, den er mehrfach persönlich getroffen hat. www.eurasien-gesellschaft.org