09.07.2025

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Die Teilnehmer der Vernissage-Podiumsdiskussion: Barbara Kurowska, Nils Köhler, Lucia Brauburger, Thomas Meyer und Kerstin von Lingen (v.l.)
Bild: Ralf LoockDie Teilnehmer der Vernissage-Podiumsdiskussion: Barbara Kurowska, Nils Köhler, Lucia Brauburger, Thomas Meyer und Kerstin von Lingen (v.l.)

Eine Flucht in 140 Bildern

Vor 80 Jahren nahmen die beiden Fotografen Hanns Tschira und Martha Maria Schmackeit an einem Flüchtlingstreck teil. Das Ergebnis zeigt das Dokumentationszentrum Flucht, Vertreibung, Versöhnung in einer Sonderausstellung

Ralf Loock
04.07.2025

Auf diesen Abend hatte sich der 81-jährige Hans-Joachim Krebs aus Dresden lange gefreut. Er war eigens mit seiner Tochter Kathrin Mieth nach Berlin gereist, um im Dokumentationszentrum Flucht, Vertreibung, Versöhnung an der Eröffnung der großen Sonderausstellung „Der Treck – Fotografien einer Flucht 1945“ teilzunehmen. Unter den rund 200 Besuchern dieser Vernissage ist er der einzige, der bei diesem Marsch im Januar und Februar 1945 dabei war. Sicher hat er, der als Einjähriger mit auf diese Reise genommen wurde, keine originären eigenen Erinnerungen – aber seine Mutter hat ihm oft von dem Treck berichtet und ihm gelegentlich auch Fotos gezeigt. Sie war es auch, die ihre Erinnerungen niedergeschrieben hat. Ihren Text hat Krebs oft und aufmerksam gelesen. Insofern seien ihm die Handlungen und Akteure des Trecks von 1945 wohlvertraut, erläuterte er in Berlin.

Der Treck, der am 21. Januar bei minus 15 Grad Celsius im niederschlesischen Dörfchen Lübchen startete, hatte eine Besonderheit: Mit dabei waren die Fotografen Hanns Tschira und Martha Maria Schmackeit, die den Flüchtlingstreck dokumentierten. Innerhalb von einem Monat machten die beiden Profis etwa 140 Aufnahmen, wobei die Mehrzahl von Tschira stammt. Dieser einzigartige Bildbestand wird im Dokumentationszentrum erstmals vollständig ausgestellt.

In Niederschlesien ging es kos
Das Fotografieren von Soldaten, Marschkolonnen und auch zivilen Trecks war eigentlich verboten. Doch da Tschira und Schmackeit als hauptberufliche Fotografen arbeiteten, besaßen sie eine entsprechende Genehmigung.

Wie konnte diese Fotostrecke überhaupt entstehen? Was zeigen die Bilder über die Flucht 1945, und was lassen sie aus? Durch die Recherchen des Kuratorenteams ist klar: Die Fotos können nicht als rein private Aufnahmen betrachtet werden. Tschira hat seine Bilder oft konzentriert und aufwendig komponiert – sie sollen Zuversicht, Wille, Hingabe ausdrücken. Keine Toten, keine Verletzten, keine schwierigen, traurigen Szenen. Dafür Bilder, die das Miteinander und die Kameradschaft dokumentieren.

Tschira, geboren 1899 in Elsaß-Lothringen, gestorben 1957 in Baden-Baden, hat in seinem Leben in verschiedenen Orten und Funktionen als Fotograf gearbeitet; im Zweiten Weltkrieg wirkte er in Berlin und belieferte Zeitungen und Magazin im In- und Ausland mit seinen Motiven. 1943 wurden die Privat- sowie die Geschäftsräume ausgebombt, mit seiner Familie – Frau und drei Kinder – sowie seiner Fotoagentur wechselt er ins niederschlesiche Lübchen. Dort liefen für ihn die Geschäfte ordentlich, seine Fotoagentur zählte mitunter 20 Beschäftigte – Angestellte und Zwangsarbeiter.

Mitte Januar 1945 war die sowjetische Front nur noch 50 Kilometer von Lübchen entfernt. In den Häusern packten die Familien ihre Koffer für die Flucht. Einen Zug noch zu erreichen war aussichtslos, also blieb nur der beschwerliche Fußmarsch nach Westen. Am Vormittag des 21. Januars war Abmarsch – was alle noch nicht wissen konnten: Es war ein Abschied auf ewig. Es sollte kein Zurück nach Lübchen geben.

Fast alle Einwohner aus Lübchen einschließlich 120 Kindern flohen. Rund 350 Menschen machten sich auf den Weg. Mit dabei waren zwölf Pferdefuhrwerke. Dies war eigentlich eine erstaunlich geringe Zahl, aber Lübchen war anderes als die meisten Ortschaften in der Region eben kein Bauerndorf, Fußgänger, Fahrräder, und vor allem sehr viele Kinderwagen und Kinderkarren prägten das Bild des Trecks aus dem Ort.

Die Fotoserie von Tschira und Schmackeit ist einzigartig in ihrer Dichte und Qualität. Kein Flüchtlingstreck im Jahr 1945 ist so umfassend dokumentiert wie der aus Lübchen in Niederschlesien. Tschira und Schmackeit sind dabei keine Außenstehenden, sie sind beide mit ihren Familien Teil des Geschehens, sie sind ein Teil des Trecks. Zugleich war vor allem Tschira auch fotografischer Akteur, der bewusst und professionell dokumentierte. So entstanden in diesem einen Monat – so lange dauerte die Flucht – die 140 Aufnahmen, welche die Ausstellung jetzt zeigt. Tschira wurde dabei zusammen mit dem Bürgermeister mit der Führung des Trecks betraut.

Letzterer hatte dem weltgewandten Fotografen viel zu verdanken. Er führte die Dorfgemeinschaft letztlich aus der Gefahr. Es waren schlimme und entbehrungsreiche Wochen, aber zum Glück machten die Menschen aus Lübchen keine eigenen Gewalterfahrungen. Das erging vielen Trecks leider anders. Der Zug wuchs unterwegs durch weitere Menschen aus anderen Ortschaften weiter an. Zeitweise zählte er rund 500 Flüchtlinge.

Einzigartig in Dichte und Qualität
Der Fotograf Tschira setzte sich an die Spitze ihres Zuges. Ihm ist zu verdanken, dass fast alle der Dörfler überlebten. Inmitten der Not gelang es ihm, den Treck einige Male zu einer dampfenden Gulaschkanone zu lenken. Für eine Hochschwangere organisierte er ein Krankenhausbett. „Solange er bei uns war, ging alles gut“, sagte eine Zeitzeugin. „Wir blicken zu ihm auf.“

Tschira mied am 13. Februar das von Flüchtlingen verstopfte Dresden. Seine Leute nahmen in einem Dorf westlich Quartier. Von dort verfolgten sie die Operation Donnerschlag, bei der Zehntausende Menschen in der sächsischen Hauptstadt im Bombenhagel verglühten. „Wir haben das Leuchten gesehen, für ein Kind war das wie ein Naturereignis“, erinnerte sich ein Zeitzeuge.

Im sächsischen Nossen gelang Tschira das kaum Mögliche: Er organisierte zwei Waggons und eine Dampflok. Der Zug ratterte in Richtung Neuoelsnitz, westlich von Chemnitz. Einmal wurde er von Tieffliegern attackiert, doch alle überlebten. Nach der Ankunft in Neuoelsnitz – dieser Ort war ihnen als neue Heimat zugewiesen worden – kamen die Lübchener im Dorf unter. Tschira zog weiter ins Badische. „Als er weg war, ging es drunter und drüber“, erinnerte sich eine Zeitzeugin. Die Lübchener spürten, dass sie Fremde waren, gerettet zwar, aber nicht willkommen.

Wie Gundula Bavendamm, Direktorin des Dokumentationszentrums Flucht, Vertreibung, Versöhnung, bei der Vernissage berichtete, habe man monatelang an der Sonderausstellung „Der Treck“ gearbeitet. Schon vor einiger Zeit hatte das Zentrum mit Blick auf den 80. Jahrestag von Kriegsende, Flucht und Vertreibung einen Aufruf gestartet, gesucht wurden beeindruckende Fluchtgeschichten. Man hatte daraufhin rund 800 Einsendungen erhalten, unter diesen entschied man sich für die Story aus Lübchen. Es musste ein Thema sein, das bislang kaum öffentlich präsent war und das man binnen weniger Monate Bearbeitungszeit zu einer Ausstellung formen konnte.

Seine Anerkennung für die Sonderausstellung sprach Christoph de Vries (CDU), Parlamentarischer Staatssekretär beim Bundesministerium des Innern, aus. In seinem Grußwort würdigte er besonders die Versöhnungsarbeit der Landsmannschaften. Er selber habe am 31. Mai aus Anlass des 80. Jahrestag an dem Brünner Gedenkmarsch, mit dem an die Opfer des Brünner Todesmarsches am 31. Mai 1945 erinnert wurde, teilgenommen. „Der Versöhnungsmarsch von Brünn endet mit dem Anzünden von Kerzen zur Erinnerung an die Opfer des Todesmarsches vom 31. Mai 1945“, erklärte de Vries. Er dankte allen beteiligten Landsmannschaften sowie den Politikern aus Tschechien und Deutschland für das würdige, gemeinsame Gedenken.

Nun ist die Flucht aus Lübchen dem schlesischen Heimatfreund nicht völlig unbekannt. So lebte die Erinnerung weiter. Ferner erschienen unregelmäßig einzelne Fotografien aus der großen Treck-Sammlung von Tschira in verschiedenen Zeitungen und Magazinen. Und schließlich hat Lucia Brauburger in ihrem 2004 erschienen Buch „Abschied von Lübchen. Bilder einer Flucht aus Schlesien“ diese Ereignisse nachgezeichnet. Sie nahm nun in der Vernissage an einer Podiumsdiskussion zusammen mit den beiden Ausstellungskuratoren Barbara Kurowska und Nils Köhler sowie dem Fotografen Thomas Meyer teil. Moderiert wurde diese Gesprächsrunde von der Wiener Universitätsprofessorin Kerstin von Lingen. In dieser Podiumsdiskussion schilderten Kurowska und Moderatorin von Lingen, wie die polnischen Siedler durch die Sowjets zur Umsiedlung gezwungen worden seien – die Neuankömmlinge in Schlesien seien selber Vertriebene aus dem Lemberger Land gewesen, die im Zuge der sogenannten Westverschiebung Polens ihre Heimat hätten verlassen müssen.

Bei Chemnitz endete der Treck
Doch dabei offenbarten Kurowska und von Lingen erhebliche Wissenslücken – die polnischen Propaganda-Begriffe „wiedergewonnene Gebiete“ und „Repatrianten“ wurden von ihnen nicht erwähnt. Dabei war es ja durchaus das Lebensgefühl der Polen, nun als „Repatrianten“ in ihre „wiedergewonnen Gebiete“ „heimzukehren“. Es ist eben nicht so, dass alle Neuankömmlinge von sowjetischen Rotgardisten in die Viehwaggons zum Abtransport begleitet worden wären, vielmehr ist richtig, dass viele der neuen Siedler freiwillig nach Danzig, Pommern und Schlesien kamen. Es war durchaus das Lebensgefühl der Polen, dass sie nun die deutschen Zivilisten vertreiben und massakrieren wollten, dass die Polen die Häuser, Dörfer und Städte der Deutschen übernehmen wollten. Doch davon war bei Kurowska und von Lingen nichts zu hören.

Für Hans-Joachim Krebs hat sich die Fahrt nach Berlin gelohnt. Nach der offiziellen Eröffnung schaute er sich mit seiner Tochter die Bilder an. Dabei wird er sicher auch liebevoll an seine Mutter gedacht haben, die diese rund 350 Kilometer lange Strecke in den vier Wochen Anfang 1945 gelaufen ist.

Die Sonderausstellung „Der Treck – Fotografien einer Flucht 1945“ ist noch bis zum 18. Januar 2026 zu sehen. Nähere Informationen erteilt das Dokumentationszentrum Flucht, Vertreibung, Versöhnung, Stresemannstraße 90, 10963 Berlin, Telefon (030) 2062998-0, Fax (030) 2062998-99, E-Mail: info@f-v-v.de 


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