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Über die mühsamen Anfänge deutscher Staatlichkeit vor 75 Jahren, die Interessen von Alliierten und Deutschen sowie die Rolle jenes Politikers, der schon bald zur prägenden Figur der jungen Bundesrepublik wurde – Teil 5 der PAZ-Sommerinterviews
Vor 75 Jahren ereigneten sich grundlegende Weichenstellungen für die deutsche Geschichte. Am 10. August 1948 begann auf Herrenchiemsee ein Konvent, der im Auftrag der Ministerpräsidenten einen Verfassungsentwurf für den kurz darauf seine Arbeit aufnehmenden Parlamentarischen Rat in Bonn erarbeiten sollte. Ziel war gemäß den „Londoner Empfehlungen“ der alliierten Besatzungsmächte die Gründung eines westdeutschen Teilstaats. Fragen an einen Historiker, der sich in seinem jüngsten Buch sowohl diesen schicksalhaften Tagen als auch einem ihrer zentralen Akteure widmet.
Herr Feldkamp, wie kam es zur Einsetzung des Verfassungskonvents auf Herrenchiemsee und des Parlamentarischen Rats in Bonn, und welchen konkreten Auftrag hatten die beiden Gremien?
Nach dem Zweiten Weltkrieg haben die Siegermächte im Alliierten Kontrollrat die Zukunft Deutschlands bestimmt. Doch der letzte gemeinsame Beschluss war die Zerschlagung Preußens im Februar 1947. Gemeinsame Pläne für ein freies demokratisches Deutschland gab es nicht. Schon 1946 hatte die Sowjetunion in ihrer Besatzungszone mit der Gleichschaltung des öffentlichen Lebens begonnen. Als Reaktion darauf beschlossen die westlichen Siegermächte sowie die Benelux-Staaten 1948 auf ihrer Außenministerkonferenz in London eine Währungsreform und die Gründung eines westdeutschen Teilstaates auch ohne Friedensvertrag mit Deutschland. Die Weichenstellung in Westdeutschland diente dessen wirtschaftlicher und politischer Konsolidierung sowie der Sicherung eines westalliierten, insbesondere US-amerikanischen Einflusses in Mitteleuropa.
Mit den „Londoner Empfehlungen“ wurden die Ministerpräsidenten der westdeutschen Länder am 1. Juli 1948 beauftragt, eine Verfassungsgebung für einen westdeutschen Staat einzuleiten. Der aus Verfassungsexperten bestehende Verfassungskonvent von Herrenchiemsee sollte für den Parlamentarischen Rat einen Entwurf liefern. Im Parlamentarischen Rat sollten dann die politischen Entscheidungen getroffen werden.
Der Sozialdemokrat Carlo Schmid nannte das Vorgehen der Alliierten „Fremdherrschaft“. Wie groß waren die Spielräume der deutschen Akteure, beziehungsweise: Wie souverän war die deutsche Politik in jenen Tagen? Immerhin gaben die alliierten Militärgouverneure auch später noch ihre „Empfehlungen“ ab.
Die Verfassungsschöpfung 1948/49 erfolgte unter Besatzungsherrschaft! Ich will damit sagen: Es liegt in der Natur der Sache, dass die Besatzungsmächte ein lebhaftes Interesse an der Entstehung einer westdeutschen Demokratie hatten. Frankreich hatte als unmittelbarer Nachbar zusätzlich eigene Sicherheitsbedürfnisse geltend gemacht – schließlich hatten 1914 und 1940 deutsche Soldaten Frankreich angegriffen. Ungeachtet der alliierten Einflussnahme auf die Entstehung eines demokratischen Staates steht das Grundgesetz in der deutschen Verfassungstradition von 1848. Und die großen Konflikte sind nicht mit den Alliierten, sondern zwischen der CDU/CSU und der SPD ausgetragen worden.
Welche wesentlichen Elemente der Verfassung gehen auf die Alliierten zurück und welche auf die Mitglieder des Verfassungskonvents und des Parlamentarischen Rats?
Eine interessante Frage, die man einfach beantworten kann: Es gab keine Interessen der Alliierten, die nicht auch von deutschen politischen Parteien vertreten wurden. Die von den Alliierten geforderte föderalistische Struktur der Bundesrepublik entsprach der deutschen Verfassungstradition. Dafür machten sich die CDU und insbesondere die bayerische CSU stark, während die SPD eher einen unitaristischen Nationalstaat wünschte.
Zum Mann der Stunde auf deutscher Seite wurde schon bald der Fraktionsvorsitzende der CDU im Landtag des jungen Landes Nordrhein-Westfalen, Konrad Adenauer. Worin lag dessen Rolle und wie kam er überhaupt zu ihr?
Adenauer war 72 Jahre, als die Allliierten die westdeutsche Staatsgründung ermöglichten. Geschickt hatte er sich zum führenden CDU-Mann entwickelt. Zunächst abwartend, wie sich die CDU als eine sehr disparate überkonfessionelle Sammlungsbewegung entwickeln würde, hatte er sich zum Sprecher der CDU-Landesvorsitzenden wählen lassen und innerparteilich die Partei auf Grundlinien verpflichten wollen. Das gelang ihm, weil die CDU-Ministerpräsidenten nicht automatisch auch Parteivorsitzende waren.
Bemerkenswerterweise glaubten alle, Präsident des Parlamentarischen Rates zu sein, sei ein Ehrenamt. Aber Adenauer zog auch die Verhandlungen mit den Alliierten über die Zukunft Deutschlands an sich und entwickelte staatsmännische Qualitäten. Auf internationalen Tagungen vertrat er ohne ein ausdrückliches Mandat plötzlich deutsche Interessen.
Adenauer wurde oft der Vorwurf gemacht, mit der Forcierung einer Staatsgründung im Westen zwar dort schnell die Grundlagen für einen ökonomischen Aufschwung gelegt, zugleich jedoch die Spaltung der Nation in Kauf genommen zu haben. Was trieb ihn Ihrer Meinung nach an?
Das ist eine Anschauung, die zeitgenössisch von den Kommunisten – die auch im Westen saßen – sowie auch von Teilen der SPD geschürt wurde. Mit diesen Behauptungen werden zentrale Narrative der 1949 gegründeten DDR bedient. Deswegen ist der Hinweis wichtig, dass insbesondere SPD-Politiker in Berlin, darunter Ernst Reuter, entschieden die Anbindung an Westdeutschland wünschten. Ihnen konnte eine westdeutsche Staatsgründung nicht schnell genug gehen.
Nach dem Tode Adenauers waren westdeutsche Historiker schließlich Dokumenten aufgesessen, die die Staatssicherheit der DDR gefälscht hatte, und die beweisen sollten, das Adenauer schon nach dem Ersten Weltkrieg Separatist gewesen sei und das Rheinland von Deutschland trennen wollte.
Wie wichtig war es den deutschen Akteuren generell, den Anspruch auf die Einheit und Souveränität der Nation aufrechtzuerhalten?
Der von ihnen bereits erwähnte Carlo Schmid hatte im Sommer 1948 behauptet, die Alliierten hätten die westdeutsche Staatsgründung nur gewollt, um die Verantwortung für die Spaltung Deutschlands den Deutschen in die Schuhe zu schieben. Das war selbstverständlich Polemik. Die Ministerpräsidenten aller Parteien in der Nachkriegszeit waren an einem deutschen Gesamtstaat, einschließlich der von Polen annektierten Ostgebiete, interessiert. Solange Deutschland aber keinen Friedensvertrag hatte, war eine „provisorische“ Staatsgründung für eine wirtschaftliche Konsolidierung Deutschlands unumgänglich. Die Geschichte hat den Akteuren recht gegeben.
Wie sehr Adenauer an Verhandlungen mit den Alliierten „auf Augenhöhe“ lag, wird mustergültig in der sogenannten Teppichrede auf dem Petersberg im September 1949 deutlich, die ich in meinem Buch in ein gänzlich neues Licht gerückt habe.
Ein Grund mehr, Ihr Buch zu lesen. Ein gravierender Kritikpunkt ist, dass die Mitglieder des Parlamentarischen Rates nicht vom Volk gewählt wurden und am Ende auch das Grundgesetz nicht durch die Bürger bestätigt, sondern durch die Landtage der westdeutschen Länder ratifiziert wurde. Wer entschied sich warum für dieses Vorgehen? Immerhin setzen Kritiker bis heute hier an, um der Bundesrepublik und ihrer Verfassung die demokratische Legitimität abzusprechen.
An dieser Stelle eine grundsätzliche Bemerkung: Seit Bestehen der Bundesrepublik Deutschland ist es immer und nur die jeweils wechselnde Opposition gewesen, die nach Volksabstimmungen und Plebisziten, also Formen der direkten Demokratie, verlangt hat. Das grundsätzliche Problem ist, dass Volksabstimmungen die parlamentarische Demokratie gefährden. Und je nachdem wie etwa eine Forderung formuliert wird und welche Interessen geweckt und bedient werden, sind Volksabstimmungen leider nicht gefeit vor Populismus und Propaganda. Das war 1949 nicht anders, als man die Obstruktionskraft der sowjetischen Propaganda fürchtete, die die Arbeit des Parlamentarischen Rates hätte konterkarieren können.
Als Tag der Gründung der Bundesrepublik gilt heute gemeinhin der 23. Mai 1949, der Tag der Verabschiedung des Grundgesetzes durch den Parlamentarischen Rat. Sie hingegen setzen den 7. September 1949. Was geschah an jenem Tag?
Der 7. September 1949 ist der Tag der Gründung der Bundesrepublik Deutschland. Punkt. Abseits einer solch apodiktischen Antwort berührt dies eher eine Frage der deutschen Erinnerungskultur. Lange Zeit haben wir mit dem Grundgesetz gehadert wegen seines Entstehungszusammenhangs in der Besatzungszeit und weil es nur als Provisorium gedacht war. Deswegen kam in der Endphase der „alten Bundesrepublik“, also vor der Wiedervereinigung, die Diskussion nach einem „Verfassungspatriotismus“ auf. Das führte wiederum dazu, dass mit dem Grundgesetz vom 23. Mai 1949 die Geburtsstunde der Bundesrepublik gefeiert wurde.
Ich konnte jedoch nachweisen, dass die Alliierten alle von ihnen eingerichteten Besatzungsbehörden bis Ende August 1949 aufgelöst hatten, die in Konkurrenz mit einer späteren bundesrepublikanischen Gesetzgebung und Exekutive hätten stehen können. Deswegen setze ich die Gründung der Bundesrepublik mit der Konstituierung von Bundestag und Bundesrat am 7. September 1949 an. Zeitgenössisch ist das von den Alliierten und auch von Bundespolitikern, schaut man sich deren Reden an, genauso empfunden worden; die ersten Verfassungsrechtler und Verfassungshistoriker haben sich inzwischen meiner Auffassung angeschlossen.
Der erste Bundespräsident Theodor Heuss stellte im Jahre 1959 rückblickend fest, dass von Adenauer „kein Komma“ im Grundgesetz stamme. Worin bestand dann die Rolle des späteren ersten Bundeskanzlers?
Die Aussage von Theodor Heuss ist uneingeschränkt richtig! Es ist aber nie die Aufgabe eines Parlamentspräsidenten gewesen, sich an der Gesetzgebung mit eigenen Vorschlägen zu beteiligen. Als Parlamentspräsident hat Adenauer indes jene Atmosphäre geschaffen, in der das Grundgesetz entstehen konnte. Er hat den Kompromiss zwischen CDU/CSU und SPD im Fünferausschuss herbeigeführt und faktisch die Interessen der CDU/CSU vertreten, als der Fraktionsvorsitzende Anton Pfeiffer, der selbst zur CSU gehörte, sich an einem Kompromiss zwischen den Parteien nicht mehr beteiligen wollte, nachdem sich die CSU offenbar darauf verständigt hatte, den Grundgesetzentwurf abzulehnen. Auch das sind Erkenntnisse, die ich in meinem Buch erstmals dargelegt habe.
Das Interview führte René Nehring.
• Dr. Michael F. Feldkamp arbeitet seit 1993 mit Unterbrechungen in der Bundestagsverwaltung als Historiker sowie als Ghostwriter und Redenschreiber für die Bundestagspräsidenten. Er ist Verfasser zahlreicher Arbeiten zur deutschen Parlamentsgeschichte. Soeben erschien bei Langen Müller „Adenauer, die Alliierten und das Grundgesetz“.
Max Müller am 12.08.23, 01:02 Uhr
Von einem Angestellten des Bundestags sind jetzt nicht unbedingt kontroverse Auffassungen zur Gestehung der „Verfassung“ zu erwarten.
Zumindest die im Grundgesetz aufgeführte Zustimmung per Volksabstimmung hätte man den Deutschen nach der Wiedervereinigung gewähren sollen um es zu einer richtigen Verfassung zu machen, aber besser wäre ein Konvent gewesen um auch Mitteldeutsche Positionen zu berücksichtigen.