24.08.2025

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Zeitgeschichte

Verheißungen und Hoffnungen

Der Publizist wirft einen Blick auf die 1990er Jahre zurück, auf vertane Chancen und wie daraus Handlungen für die Zukunft entstehen könnten

Dirk Klose
19.08.2025

In unserer schnelllebigen Zeit, in der eine Schreckensmeldung die andere jagt, geht das Gespür für geschichtliche Veränderungen schnell verloren. Kaum noch im Bewusstsein ist, welch ein Optimismus die Politik noch vor wenigen Jahrzehnten prägte: der Ost-West-Konflikt schien überwunden, Demokratie und Marktwirtschaft gesiegt zu haben. Die Charta von Paris vom November 1990 sollte eine Ära des Friedens einläuten.

Der Publizist Georg Diez blickt in seinem Buch „Kipppunkte“ auf die Verheißungen und Hoffnungen der 1990er Jahre zurück und stellt die Frage, inwieweit der damalige Aufbruch nicht auch anleitend für die Gegenwart sein könne. Er rückt dabei sechs große Themen in den Mittelpunkt. Sein besonderer Blick geht dabei auf das gerade vereinte Deutschland, das, wie damals von vielen gefordert, gleichsam eine „Generalüberholung“ gleichermaßen in Ost und West verlangte, was aber an Helmut Kohls beharrlichem „Weiter so“ scheiterte. Indiz sind für den Autor besonders die drei vergeblichen Anläufe für eine Verfassungsreform.

Versäumnisse sieht Diez auch bei den Beziehungen zu Russland, das entgegen vieler Worte nicht als gleichberechtigter Partner angesehen wurde, wofür der Autor schroffe Meinungen vor allem aus der US-Regierung bringt und von vertanen Chancen spricht. Große Projekte, bedauert er, seien nicht mehr gewagt worden. Anregender noch ist die zweite Hälfte des Buches, in welcher der Autor die rasante Globalisierung mit ihrer Dominanz des Marktes erzählt, dann die schier unglaubliche Erfolgsstory der Mediengiganten Microsoft, Netscape und anderen, schließlich ein wegen vieler Fehlurteile fast erschreckendes Kapitel zum „Klimawandel“. Sein Fazit: „Verbiegungen der Vernunft haben dazu geführt, dass so gut wie jedes Handeln mit einem Argument gegen das Handeln belegt wird.“

In Pessimismus will der Autor sein Buch allerdings nicht enden lassen. Die Apathie der derzeitigen Politik könne nicht bleiben. Heute gehe es darum, Ideen wie Freiheit, Gleichheit und Solidarität „auf der Folie der neunziger Jahre“ politisch neu zu definieren und für die Gegenwart nutzbar zu machen. Kipppunkte, schreibt er, markierten den Übergang von einem Zustand in den anderen, und „anders als beim Klima sind sie in der Politik nicht unumkehrbar“. Folgt man ihm bei seinem Vorschlag, das Buch nicht als Geschichtswerk, sondern mehr als Gedankenübung zu verstehen, ist es in der Tat ein Appell, heutige Krisen nicht schicksalhaft hinzunehmen, sondern auf Verbesserungen hinzuarbeiten.

Georg Diez: „Kipppunkte. Von den Versprechen der neunziger Jahre zu den Krisen der Gegenwart“, Aufbau Verlag, Berlin 2025, gebunden, 394 Seiten, 26 Euro


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