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Vor 100 Jahren schmuggelten deutsche Winzer die in der Schweiz „erfundene“ neue Rebsorte Müller-Thurgau über den Bodensee
Früh am Morgen liegt ein zarter Nebelschleier über der Landschaft. Die Sonne hebt sich langsam über den Horizont und färbt den Bodensee in ein milchiges Silber. Am Hang oberhalb des Sees liegt der Morgentau schwer auf den Blättern der Weinreben. In den Reihen zwischen den Rebstöcken raschelt es. Hände greifen nach Scheren, Eimer klappern leise aneinander. Mit einem kurzen Knacken trennt sich die erste Traube vom Stiel, fällt mit einem dumpfen Laut in den Eimer.
Der Monat September ist die Zeit der Weinlese. Die Trauben werden geerntet, gekeltert und der Rebensaft schließlich in Tanks gefüllt. Es ist eine anstrengende Zeit für die Erntehelfer, die von früh bis spät im Einsatz sind. Sie schneiden dort die Weintrauben von Hand, wo die Ernte mit Maschinen aufgrund von steilen Lagen nicht durchführbar oder aufgrund der sehr hohen Qualität der Reben nicht erwünscht ist. Sonne, Regen, Wärme haben ihren Teil zur Rebenreife beigetragen. Jetzt ist es an den Winzern, das Beste daraus zu machen.
Wenn in diesem Jahr die Trauben der Rebsorte Müller-Thurgau eingebracht werden und ihr Saft in die Fässer und Tanks der Winzer gefüllt wird, ist dies ein ganz besonderer, ein feierlicher Moment. Vor 100 Jahren wurden Rebstöcke dieser Sorte trotz eines offiziellen Verbots über den Bodensee geschmuggelt und anschließend auf der deutschen Seite des Sees angepflanzt. Diese geheime Mission, das selbstbewusste Handeln des Weingutverwalters Johann Baptist Röhrenbach und seines Sohnes Albert, legte die Grundlage für den weltweiten Erfolg der Rebsorte Müller-Thurgau.
Heute ist der Müller-Thurgau eine der am häufigsten angebauten Weißweinsorten im deutschen Raum. Im Hinblick auf die Verbreitung und die Anbauflächen rangiert diese Sorte in Deutschland direkt hinter dem Riesling auf Platz zwei. Auch international belegt der Müller-Thurgau bis heute einen Platz unter den Top 10 aller Weißweinsorten.
Der Ursprung des Müller-Thurgau war kein Zufall. Damals wie heute gab beziehungsweise gibt es klimatische Veränderungen und Krankheiten, die den Wunsch nach widerstandsfähigen und zugleich schmackhaften und ertragreichen Züchtungen geweckt haben. Eingeschleppt durch amerikanische Rebstöcke, hatten sich von 1845 an nach und nach echter und falscher Mehltau sowie die Reblaus in Europa ausgebreitet. Drei Katastrophen, die den europäischen Weinbau mit voller Wucht ins Mark trafen. Ertragsverluste und die Zerstörung vieler Reben führten zur Nutzung von Schwefelpulver und anderen Pflanzenschutzmitteln. Zudem wurde der Weinbau auf Pfropfreben umgestellt.
Die im Jahr 1872 gegründete Königlich Preußische Lehranstalt für Obst- und Weinanbau im hessischen Geisenheim hatte es sich zur Aufgabe gemacht, die Forschung im Bereich Weinbau voranzutreiben. Vier Jahre nach der Gründung übernahm der Schweizer Phythopathologe Hermann Müller die Leitung der pflanzenphysiologischen Versuchsstation. Der Forscher, der aus dem Kanton Thurgau stammte und den man daher Müller-Thurgau nannte, widmete sich der Erforschung von Rebkrankheiten und der Physiologie der Weinrebe.
Sein Ziel war es, eine Traube mit hoher Geschmacksqualität, großem Ertragsvolumen und früher Reife hervorzubringen. Recht bald wurden seine Kreuzungs-Experimente von Erfolg gekrönt. Basierend auf Riesling in einer Anpaarung mit einer anderen Sorte gelang 1882 die Neuzüchtung einer frühreifen Traube, die geschmacklich überzeugen konnte und einen großen Ertrag lieferte. Der „Müller-Thurgau“ war geboren.
Doch bevor die neue Rebsorte weltweit Verbreitung fand, sah es zunächst einmal so aus, als ob der „Müller-Thurgau“ ein eidgenössischer Schatz bleiben sollte. Gesetze regelten die Verwendung der Trauben so, dass Müller-Thurgau-Reben in Deutschland nicht verbreitet und lediglich zu Forschungszwecken angepflanzt werden durften. In der Schweiz dagegen wurden die Reben für den Weinanbau verwendet. Der Wein begeisterte die Gäste in den Thurgauer Schenken. Und die Kunde über den begehrten neuen Wein gelangte schnell auch auf die deutsche Seite des Bodensees.
Müller-Thurgau hier, Rivaner dort
Von den Vorzügen der neuen Rebsorte hörte auch Johann Baptist Röhrenbach. Er lebte in Immenstaad, am nördlichen Ufer des Bodensees, auf deutschem Boden. In seiner Funktion als Gutsverwalter auf dem Betrieb des Markgrafen von Baden stand er vor großen Problemen. Die Pilzkrankheiten sowie die Reblaus, hatten dem Weinbau am Bodensee massiv zugesetzt. Röhrenbach regte bei seinem Arbeitgeber mehrfach den Einsatz von Müller-Thurgau-Reben an. Der Markgraf blieb jedoch strikt gegen die gesetzlich nicht erlaubte Einführung von Weinstöcken dieser Sorte.
Röhrenbach ließ sich jedoch nicht von seiner Idee abbringen. Er plante und organisierte den Schmuggel von Müller-Thurgau-Pfropfreben aus der Schweiz. Sein Sohn Albert und Josef Ainser, Fischers-Sohn aus Hagnau, stiegen im April 1925 in ein Ruderboot und ruderten bei Nacht und Nebel über den See, passierten dabei die Zoll- und Landesgrenzen. Auf der Schweizer Seite nahmen sie 400 Müller-Thurgau-Pfropfreben in Empfang, die sie unter den Fischernetzen verbargen und über den See zurück nach Deutschland brachten.
Dem Markgrafen blieb der Anbau der Müller-Thurgau-Reben nicht lange verborgen. Er ließ Röhrenbach gewähren, jedoch durfte der Gutsverwalter seine Schmuggelware nur in Immenstaad anbauen. Damit war der Grundstein für die Erfolgsgeschichte des Müller-Thurgau gelegt. Die Rebsorte fand am Bodensee beste Bedingungen: Hanglage, Mikroklima und Bodenbeschaffenheit halfen den Reben zur vollen Entfaltung ihres Potentials. Der Wein war begehrt, wurde geschätzt und nachgefragt.
Nach dem Zweiten Weltkrieg gab es keine gesetzlichen Einschränkungen mehr. Der Müller-Thurgau konnte mit behördlicher Genehmigung auf deutschem Boden angebaut werden und trat vom Bodensee aus seinen weltweiten Siegeszug an. Heute trägt diese Rebsorte mit ihrem Genpool auch zu Neuzüchtungen bei.
Kurioses Detail: Hermann Müller (-Thurgau) glaubte, sein großes Ziel mit der Kreuzung von Riesling und Silvaner erreicht zu haben, weshalb der Wein in der Schweiz die Akronym-Bezeichnung Rivaner trägt. Doch eine später erfolgte Genanalyse zeigte: In Wirklichkeit handelte es sich um eine Kreuzung aus Riesling und Madeleine Royale. Während in Deutschland 100 Jahre Rebenschmuggel gefeiert werden, steht in der Schweiz ein anderes Jubiläum im Mittelpunkt: der 175. Geburtstag des am 21. Oktober 1850 in Tägerwilen im Kanton Thurgau geborenen Hermann Müller, dem Erfinder des „Müller-Thurgau“.