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Wie der vor 80 Jahren geborene Politiker die Geschichte der Europäischen Union beeinflusst hat
Am 15. September 1945 kam er in der damals zu Preußen und zur britischen Besatzungszone und heute zu Niedersachsen gehörenden Kleinstadt Bersenbrück zur Welt. Seinen Vater lernte er nie kennen. Dieser war im letzten Kriegsjahr gefallen. Das war für die spätere Karriere nicht belanglos. Die Rede ist vom Christdemokraten Hans-Gert Pöttering, der 35 Jahre für die Europäische Volkspartei (EVP) dem Europäischen Parlament angehörte. Von 1999 bis 2007 diente er der EVP als Fraktionsvorsitzender und von 2007 bis 2009 amtierte er als Parlamentspräsident.
Die 1952 gegründete Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl (EGKS, Montanunion) besaß schon eine Gemeinsame Versammlung. Die war aber relativ einflusslos. Nach der Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) 1957 fand im darauffolgenden Jahr die konstituierende Sitzung des später offiziell so benannten Europäischen Parlaments in Straßburg statt.
Phasen des EU-Parlaments
Nach einer Phase von Erfahrung und Gewöhnung von 1952 bis 1958 folgte eine der Vorbereitung für Fraktionsbildungen im Vorfeld der Direktwahlen 1979, die erstmals in der Geschichte des Kontinents ein aus zwar nicht gleichen, aber doch allgemeinen, direkten und freien Wahlen hervorgegangenes europäisches Parlament ermöglichten. Noch besaß es kaum Kompetenzen. „Hast Du einen Opa, schick' ihn nach Europa!“, lautete despektierlich ein Urteil. Viele hatten noch ein nationales Parlamentsmandat inne. Es waren Elder Statesmen, illustre Politprominente, aber auch aufstrebende junge Politiker, die noch hohe Ämter erlangen sollten, beispielsweise Jacques Chirac, Jacques Delors oder später Friedrich Merz.
Nach einer Emanzipations- und Selbstfindungsphase von 1979 bis 1989/90 folgte der Vertrag von Maastricht 1993, der dem Parlament Mitentscheidungsrechte brachte. Es teilte sich die Gesetzgebung mit dem Rat. Mit ihm entschied es gemeinsam über das EU-Budget und so über den mehrjährigen Finanzrahmen.
Sodann setzte eine Politisierungs- und Profilierungsphase von 1991 bis 1999 ein, die aufgrund von Verfehlungen einer Kommissarin zur indirekt erzwungenen Demission der Kommission unter Jacques Santer führte. Das Parlament hatte seine Zähne gezeigt.
Pötterings Stärken und Schwächen
Mit weiteren Unionsverträgen begann die Phase seiner gleichberechtigten Etablierung von 1999 bis 2009. Der Präsident wurde zum Akteur auf Augenhöhe in der EU. Das nach dem Brexit 720 Abgeordnete zählende Parlament mit Sitzen in Straßburg und Brüssel – im Vergleich dazu hatte der Bundestag bis zur Wahlrechtsreform 2023 736 Mandatsträger – ist mit seinen Zuständigkeiten längst bedeutsamer, als es den meisten Bürgern der Union bewusst ist. Es repräsentiert in der westlichen Welt einen einmaligen supranationalen Parlamentarismus.
Durch bestimmte, integrative und verbindliche Art hat Pöttering die heterogene EVP-Fraktion aus verschiedensten nationalen und parteipolitischen Kulturen nicht nur zusammenzuführen, sondern auch zur weitgehend geeinten und größten Fraktion zu formen und zu repräsentieren verstanden.
Dabei spielten die Verhandlungen zur Aufnahme britischer Konservativer in eine gemeinsame Fraktion der Europäischen Volkspartei und Europäischer Demokraten (EVP-ED) eine Rolle, desgleichen die Integration christlich-demokratischer und bürgerlicher Abgeordneter aus den 2004 und 2007 der EU beigetretenen Staaten. Die Wahrung des Zusammenhalts war in der „Causa Österreich“ 2000 wichtig angesichts des unter Führung des deutschen Bundeskanzlers Gerhard Schröders und des französischen Präsidenten Jacques Chirac verhängen EU-14-Staaten-Boykotts gegen die Regierungsbildung der Österreichischen Volkspartei (ÖVP) mit der rechtspopulistischen Freiheitlichen Partei Österreichs (FPÖ), wobei Pöttering durch Ausgleich und Vermittlung den Verbleib der ÖVP-Abgeordneten in der EVP erreichen und zur Aufhebung der unsinnigen Sanktionen mitbeitragen konnte.
Wo Pöttering tatsächlich einmal völlig falsch lag, war seine Kritik an der Verurteilung des angloamerikanischen Angriffskriegs von Präsident George W. Bush und Premierminister Tony Blair gegen den Irak 2003 durch die rot-grüne Bundesregierung unter Schröder und Joschka Fischer. Pöttering war dafür gewesen. Im Rückblick räumte er bedauernd ein, dass er sich aufgrund seines in die Amerikaner gesetzten Vertrauens habe täuschen lassen und wie die Weltöffentlichkeit in die Irre geführt worden sei, was erhebliche Zweifel an der US-Führung nährte.
Kontinuierlich setzte er sich nach Öffnung des Eisernen Vorhangs für den Beitritt der baltischen sowie mittelost- und südosteuropäischen Länder ein, was sich hinzog, aber 2004 und 2007 gelingen sollte. Beim Einsatz für die Konstitutionalisierung Europas waren ihm die Einbeziehung der EU-Grundrechtecharta und ihre Rechtsverbindlichkeit wichtig. Nachdem der „Verfassungsvertrag“ an negativen Volksabstimmungen in Frankreich und den Niederlanden 2005 gescheitert war, erreichte er mit anderen im Rahmen der Berliner Erklärung der deutschen Ratspräsidentschaft 2007 die Überführung seines Kerninhalts in den Lissabonner Vertrag 2009, der bis heute gültig ist.
Pöttering setzte Maßstäbe für den Umgang im Parlament und rückte es mehr ins öffentliche Licht, zumal es darum ging, der kontinuierlich sinkenden Wahlbeteiligung entgegenzuwirken, was erst allmählich nach ihm gelang. Den EVP-Austritt der ungarischen Fidesz-Partei unter Viktor Orbán konnte Pöttering trotz seiner Mitwirkung in einem Weisenrat nicht verhindern.
Den Bau eines „Hauses der Europäischen Geschichte“ lancierte er in seiner Antrittsrede. Das Vorhaben wurde über seine Präsidentschaft hinaus mit Insistenz verfolgt. 2017 erfolgte die Eröffnung. Als Einrichtung im Institutionenviertel in Brüssel sorgt es für ein fundierteres Wissen zur Geschichte Europas, zumal es in Zeiten überbordender innerer und äußerer Krisen – mehr denn je – Orientierung braucht. Pöttering ist immer mit klarem Kompass für Europas Werte eingetreten.
Prof. Mag. Dr. Michael Gehler ist Leiter des Instituts für Geschichte an der Universität Hildesheim und Mitverfasser der 2020 in erster und 2022 in zweiter Auflage in Freiburg, Basel und Wien erschienenen Hans-Pöttering-Biographie „Ein europäisches Gewissen“.