17.08.2025

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Eine Luftaufnahme auf den Wehlauer Marktplatz mit seiner schönen Kirche um 1943
Bild: Bildarchiv OstpreußenEine Luftaufnahme auf den Wehlauer Marktplatz mit seiner schönen Kirche um 1943

Zeitzeugen berichten

Flucht in letzter Sekunde

Ganz schnell raus aus dem ostpreußischen Wehlau, um dem Ansturm der Russen 1944 zu entgehen

Gerhard Synowzik
17.08.2025

Als vor 80 Jahren der Zweite Weltkrieg endete, hörte für Millionen Menschen das entsetzliche Leiden dennoch nicht auf oder fing sogar erst richtig an. Die Preußische Allgemeine veröffentlicht daher in diesem Jahr immer wieder sehr persönliche Berichte von Zeitzeugen, die furchtbare Schicksale erlitten und Unsagbares durchlebt haben. Es sind Geschichten, die berühren, die aufwühlen – und die vor allem deutlich machen, wie wichtig es ist, zu verzeihen, aber niemals zu vergessen. Einer der über 14 Millionen heimatvertriebenen Frauen und Männer ist der gebürtige Masure Gerhard Synowzik, der uns seinen selbst verfassten Bericht zuschickte und den wir hier, weitestgehend unbearbeitet, abdrucken:

Ich heiße Gerhard Synowzik und bin 1937 in Johannisburg geboren. Gebürtig bin ich also ein Masure. Mein Vater war Kraftfahrer bei der Finanzverwaltung. Er wurde nach Wehlau versetzt. Daher habe ich meine Kindheit überwiegend in Wehlau zugebracht und wurde dort auch eingeschult. Damals herrschten in der Schule andere Verhältnisse als in der heutigen Zeit, wo Schulen wegen Schülermangels geschlossen oder zusammengelegt werden müssen. Allein unser Jahrgang bestand aus vier Klassen: Jungens Klasse 1 A und 1 B. Mädchen Klasse 1 A und 1 B.

Im Jahre 1944, als die Front immer näher rückte, wurde aus unserer Volksschule ein Armee-Lazarett gemacht. Es gab dann noch eine Zeit lang Ersatzunterricht in der alten Schule, da diese ausgemustert war. Dann wurden die Verhältnisse aber so unübersichtlich, dass ich gar nicht mehr zur Schule gehen konnte.

Wir wohnten Neustadt 17, genau gegenüber vom Amtsgericht. Als die Allebrücke gesprengt wurde – es war um die Mittagszeit –, da zitterten bei uns plötzlich die Fensterscheiben, obwohl wir doch ziemlich weit von der Allebrücke entfernt wohnten. Das gegenüberliegende Amtsgericht war ein überaus großes Gebäude. Im Keller hatten die Feldjäger ihr Magazin eingerichtet. Meine Mutter hatte herausbekommen, dass diese Soldaten die letzte Etappentruppe waren. „Wenn die wegmachen, kommt sofort die Front“, hieß es. Es galt also, äußerst wachsam zu sein.

Im Sommer 1944 zogen bereits Flüchtlingstrecks durch unsere Stadt. Es hieß, sie kämen aus Litauen. Die Pregelwiesen waren voll von ausgewilderten Rindern. Und wir? Uns war die Flucht verboten. Wir konnten uns nicht einfach aus dem Staub machen. Wenn man auch nur den Wohnsitz wechseln wollte, brauchte man eine behördliche Genehmigung. Der Familie, die über uns wohnte, gelang es, eine solche Genehmigung zu erhalten. Dabei waren aber sowohl sie als auch wir auf diesem einen Dokument eingetragen. Man hatte wohl erwogen, zusammen zu flüchten. Das besagte Dokument befand sich allerdings in den Händen unserer Nachbarn.

Die Menschen aus dem benachbarten Schloßberg, die in diesen Zeiten nach Wehlau evakuiert worden waren, waren wohl vorzeitig losgezogen. Denn später erfuhr ich, dass der damals amtierende Landrat in Schloßberg eigenmächtig gehandelt hatte und sich nicht um die Behörden und deren Anordnungen scherte. Im Gegenteil: Er war der Meinung, dass er allein für die Schloßberger Einwohner verantwortlich war und schickte sie los in Sicherheit.

Die Lage spitzte sich inzwischen immer mehr zu. Auch meine Familie und ich trafen Vorbereitungen und packten unsere Sachen, die wir auf der bevorstehenden Flucht mitnehmen wollten. In der Küche stand eine riesige Kiste, die kaum transportabel war, so schwer war sie. Aber auch weitere Koffer und Pakete wurden zusätzlich gepackt.

Nur mit schriftlicher Genehmigung
Als die Russen dann im Januar 1945 ihre Winteroffensive begannen, wurde es wirklich brenzlig für uns. Am 21. oder 22. Januar fuhren vormittags Autos vor das Amtsgericht. Aus dem Magazin der Feldjäger wurden Sachen verladen. Mutter sah das durchs Fenster. Sofort wurden auch unsere fertig gepackten Gepäckstücke nach draußen gebracht. Ich wurde durchs Fenster gehoben. Mein kleiner Bruder war frisch operiert. Wir hatten ihn vorzeitig aus dem Krankenhaus geholt, um ihn überhaupt mitnehmen zu können. Vater war nicht da, er war im Krieg an der Front.

Wir kletterten in den Spritwagen mit den Benzinkanistern. Dabei konnten wir nur das mitnehmen, was wir in den Händen halten konnten. Die weiteren Koffer und Kartons, die wir ebenso mitnehmen wollten, blieben auf dem Bürgersteig zurück. Mit uns stiegen noch ein paar weitere Leute ein, die wohl im Amtsgericht gewohnt beziehungsweise ausgeharrt haben. Die Familie über uns, die ja die Genehmigung für die Abreise hatte, kam hingegen nicht.

Deshalb drohten uns nun erhebliche Probleme. Aber ein Adjutant zeigte sich gnädig und hilfsbereit und stellte uns für die geplante Flucht eine Art Ersatzbescheinigung aus. Denn es war zu dieser Zeit enorm wichtig, etwas Schriftliches in der Hand zu haben, das man im Zweifelsfall vorweisen konnte.

Der Fluchtbeginn spielte sich hastig und hektisch binnen weniger Minuten ab. Es musste ja schnell gehen. Wir saßen nur wenige Augenblicke später im Spritwagen auf den geladenen Benzinkanistern und los ging es. Im Dach des Autos fehlte eine Dachlatte, sodass während der Fahrt der Schnee ständig in das Auto stürmte. In einer kurzen Pause haben Soldaten kurze Zeit später das offene Dach mit einer Zeltplane abgedichtet. Mich aber überfiel ein traumatischer Heimatschmerz. Pures Heimweh. Ich wollte nur eins: wieder zurück. Aber die Leute, die mit uns fuhren, sagten, du wirst deiner Mutter noch mal dankbar sein, dass sie dich hier rausgebracht hat. Mutter hatte also wieder mal recht. In der Tat ist uns sehr viel erspart geblieben, weil wir vor den heranstürmenden Russen noch rechtzeitig rausgekommen sind.

Viele Jahre später auf einem Wehlauertreffen erzählte mir eine Frau, sie habe so schreckliche Dinge erlebt, dass sie darüber gar nicht reden kann und auch nicht reden möchte. Es muss fürchterlich gewesen sein, was sie durchgemacht hatte.

Unsere Fahrt ging weiter Richtung Königsberg. Vor Ostpreußens Hauptstadt bogen wir in südwestliche Richtung ab nach Marienburg. Da in der Nähe der Stadt lag ein Gehöft in der freien, offenen Landschaft. Dort wollten wir rasten und etwas ausruhen. Der Bauer des Gehöftes hatte uns ein Zimmer mit mehreren Betten zur Verfügung gestellt, weil wir ja eine wirklich anstrengende Fahrt bisher hinter uns hatten.

Angst vor Sabotage
Ich erinnere mich noch genau: Als ich gerade im Bett lag und das Zudeck über mich zog, rief ein Soldat von unten im Hof: „Wir müssen sofort weiter!“ Die Bettruhe hatte also nur ein paar Sekunden gedauert. Doch was war geschehen? Der Russe war im Süden durchgebrochen und stieß auf Elbing vor. Und wir lagen genau im Angriffsbereich der Russen. Das war die von den Deutschen befürchtete Baltische Operation, die zur Abschnürung Ostpreußens führte. Deshalb befahl unser Kommandeur den sofortigen Aufbruch. Wir bekamen dann ein besseres Auto. Es war der Kettenwagen. Mitten im Wagen lag ein großer Berg von Eisenketten, wohl über einen Meter hoch. Außerdem war ein Kanonenofen im Wagen, sodass es angenehm warm war. Man legte Planen auf die Ketten und ich lehnte mich an die Schräge des Haufens, um zu etwas schlafen.

Der Soldat, der im Wagen war, sagte: „Wir werden auf einen Güterzug verladen. Dann wird es rumpeln. Dann wirst du wach werden.“ Aber als ich wieder wach wurde, standen wir bereits auf dem Güterzug in der Bahnhofshalle von Marienburg. Ich guckte raus und sah Tausende von Menschen auf den Bahnsteigen stehen, die auf Evakuierungszüge warteten. Es hieß, unser Kommandeur wollte, dass so viele Menschen wie möglich auf unseren Güterzug mit aufsteigen sollten. Ich konnte aber nicht feststellen, ob und wie viele raufgeklettert sind.

Von den Russen zurückgetrieben
Als ich nach Jahrzehnten später eine Gruppe von Marienburgern auf einer Ver­triebenenveranstaltung getroffen habe, sprachen wir genau darüber. Sie erzählten mir, dass sie gerade noch so eben in letzter Sekunde rausgekommen sind. Aber die Russen haben sie eingeholt – und wieder zurückgetrieben.

Schließlich setzte sich unser Güterzug in Bewegung, und wir fuhren im Schritttempo über die Brücke des Weichsel-Nogat-Deltas nach Dirschau. Man fuhr so langsam, weil man Angst vor Sabotage hatte. Wenn der Zug schnell fährt, kann er ja nicht rechtzeitig noch stoppen, wenn vor ihm die Brücke zerstört ist. Er würde in die Tiefe stürzen. Fährt der Zug aber langsam, hat er vielleicht noch eine Chance, rechtzeitig anhalten zu können.

Als ich Jahre später hörte, wie Bundespräsident Richard von Weizsäcker sagte, die Deutschen hätten viel mehr Sabotageakte durchführen müssen, da musste ich an unsere Flucht über das Weichsel-Nogat-Delta denken.

Als wir in Dirschau ankamen, meinten die Soldaten, dass wir es jetzt wohl tatsächlich geschafft hätten, den Russen zu entwischen. Kurz darauf stießen auch Soldaten aus anderen Frontabschnitten zu uns. Und Mutter fragte sie, wie es komme, dass alles zusammenbricht. Daraufhin sagte ein Soldat: „Alles Verrat! Alles Verrat!“ Es wurde sogar auch gemunkelt, dass manche Offiziere völlig unsinnige Befehle erteilt hätten.

Die Einheit der Feldjäger sollte ins Hinterland verlegt werden, um zu einer Kampftruppe umorganisiert zu werden. Wir fuhren mit den Soldaten noch bis Schneidemühl. Dort trennten wir uns von ihnen und fuhren dann privat mit dem Zug nach Küstrin. Als wir dort ankamen, war es schon Abend geworden. Eine völlig fremde Frau sprach uns auf dem Bahnhof an und sagte zu meiner Mutter: „Sie können bei mir übernachten. Ich helfe Ihnen. Vielleicht hilft mir dann auch jemand!“ So hatten wir für die Nacht eine Unterkunft.

Am nächsten Tag fuhren wir mit dem Zug nach Frankfurt (Oder), weil wir dort Verwandte hatten. Wir wollten dort abwarten, ob es doch noch gelingen würde, den Russen aufzuhalten. Als wir bei den Verwandten ankamen, hatte mein Onkel, der schwer sehbehindert war, gerade den Einberufungsbefehl für den Volkssturm erhalten. Er musste am nächsten Tag einrücken. Leider ist er verschollen. Wir haben nie mehr etwas von ihm gehört.

Wie lange wir uns in Frankfurt aufgehalten haben, daran kann ich mich heute nicht mehr genau erinnern. Schätzungsweise waren es vielleicht etwa zehn Tage. Da kam das Gerücht auf, die Russen hätten mit der Artillerie nach Frankfurt reingeschossen. Und das bedeutete neue Gefahr. Meine Tante wollte, dass wir dableiben sollten. Meine Mutter aber meinte: „Ich bin jetzt so weit vor den Russen geflüchtet, ich werde mich doch jetzt nicht noch von ihnen gefangen nehmen lassen!“

So fuhren wir mit der Straßenbahn zum Bahnhof und dann mit dem Zug Richtung Berlin. In einem Vorort der Hauptstadt mussten wir den Zug wegen Fliegeralarm ganz schnell verlassen und einen Bunker aufsuchen. Als wir später zum Zug zurückkamen, war das Gepäck, das wir zurücklassen mussten, aber immer noch da.

Von Berlin aus ging es dann mit der Eisenbahn immer weiter nach Westen. Bis wir schließlich endlich in Niedersachsen ankamen, wo wir endlich Aufnahme, Ruhe und etwas Frieden finden konnten.


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