09.11.2025

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Skizze der Fundstelle der steinzeitlichen Lanzenspitze von Gumbinnen (Ortsakte PMA_1545_01.pdf: Seite 26). Das aus Knochen gefertigte Artefakt wurde 1932 beim Bau eines Brunnens entdeckt. Die Zeichnung nebst Erläuterungen stammen von Fritz Wieske, zu jene
Bild: Museum für Vor- und Frühgeschichte (MVF), BerlinSkizze der Fundstelle der steinzeitlichen Lanzenspitze von Gumbinnen (Ortsakte PMA_1545_01.pdf: Seite 26). Das aus Knochen gefertigte Artefakt wurde 1932 beim Bau eines Brunnens entdeckt. Die Zeichnung nebst Erläuterungen stammen von Fritz Wieske, zu jene

Heimatkunde

Die Archäologie Ostpreußens lesbar gemacht

Eine gelungene Kooperation des Museums für Vor- und Frühgeschichte mit der PRUSSIA-Gesellschaft

PRUSSIA-Gesellschaft
09.11.2025

Als im Königreich Preußen 1914 das Preußische Ausgrabungsgesetz erstmals einen gesetzlichen Rahmen für den Schutz archäologischer Bodendenkmäler schuf, konnte die Provinz Ostpreußen bereits auf rund 100 Jahre vor- und frühgeschichtliche Feldforschungs-, Kartierungs- und Publikationstätigkeit namhafter Akademiker und einer Vielzahl interessierter Laien zurückblicken. Germanisten, Mediziner, Botaniker und Kunsthistoriker hatten im 19. Jahrhunderts aus der Lektüre der Schriften mittelalterlicher und frühneuzeitlicher Chronisten Hypothesen zur Besiedlungsgeschichte des südöstlichen Ostseeraums abgeleitet oder waren gleich mit dem Spaten in den heimatlichen Boden vorgedrungen, um die darin verborgenen Artefakte zu bergen, zu klassifizieren und historisch zu interpretieren.

In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts hatte wie überall in Deutschland auch in Ostpreußen eine Popularisierung heimatkundlicher und prähistorischer Forschung eingesetzt. Lehrer, Pfarrer, Gutsbesitzer und Fabrikanten ließen sich von den Entdeckungen und Erkenntnissen der ersten ostpreußischen Altertumskundler inspirieren. Sie gründeten Geschichts- und Altertumsvereine, legten private Altertümersammlungen an und führten nicht selten auf eigene Faust Ausgrabungen durch. Das Bewusstsein für die Präsenz archäologischer Funde in heimatlichem Boden drang spätestens nach 1900 in jedes Klassenzimmer, zu jedem Landwirt und jedem Bauingenieur.

Fachlich zur Seite gestellt
Nach dem Ersten Weltkrieg stellte Preußen die Bodenaltertümer unter staatlichen Schutz. Provinzialmuseen und Bodendenkmalämter widmeten sich seither dem Schutz und der Erforschung archäologischer Denkmäler. Für Ostpreußen übernahm das 1879 gegründete und lange Zeit von einem Verein betriebene Prussia-Museum in Königsberg die damit einhergehenden Pflichten und Aufgaben. Dort wurden die Funde aus den Ausgrabungen in den Regionen zwischen Memel und Weichsel wissenschaftlich bearbeitet, konserviert und ausgestellt. Ein Netzwerk von ehrenamtlichen Pflegern sorgte in allen ostpreußischen Kreisen für die Sicherung und Dokumentation neuer Fundstellen, die Notbergung gefährdeter Artefakte und die Verbreitung der Erkenntnisse.

Dem Prussia-Museum wurde 1938 das Ostpreußische Landesamt für Vorgeschichte als Fachbehörde zur Seite gestellt. In den Jahren des Zweiten Weltkriegs kam die Ausgrabungstätigkeit jedoch zunehmend zum Erliegen, während die Dokumentationstätigkeit weitergeführt werden konnte. Als sich 1944 die Rote Armee Ostpreußen näherte, wurden umfangreiche Teile des archäologischen Museumsfundus und der Fundstellendokumentation nach Vorpommern verlagert, wo sie in den Folgejahren wiederholt Plünderungen ausgesetzt waren. Die erhaltenen Bestände wurden 1949 nach Berlin verbracht, dort aber geheim gehalten. So galten die sogenannte Prussia-Sammlung und das zugehörige Prussia-Archiv lange Zeit auch in Fachkreisen als verschollen und vernichtet, bis sie 1990 wiedergefunden wurden und endlich in die Öffentlichkeit zurückkehren konnten.

Die wiederentdeckten Teile des Archivs des Königsberger Prussia-Museums umfassen heute rund 50.000 Seiten mit schriftlichen Überlieferungen zur archäologischen Erforschung Ostpreußens, entstanden zwischen 1827 und 1944. Wissenschaftlich bedeutsam ist vor allem das Ortsarchiv, das tausende handschriftliche Dokumente beinhaltet. Diese repräsentieren über 2000 ostpreußische Städte und Dörfer, mitunter auch Weiler und Forsten, deren Boden zuvor vor- und frühgeschichtliche Artefakte freigegeben hatte, in denen Wall- und Siedlungsreste entdeckt oder erfolgreich Ausgrabungen durchgeführt worden waren.

Im Herbst 2014 hatte die PAZ ausführlich über das Schicksal des Königsberger Prussia-Archivs nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges berichtet. Dabei war auch das damals gerade durch die Archäologin Heidemarie Eilbracht und den Archivar Horst Junker vom Berliner Museum für Vor- und Frühgeschichte in Planung befindliche Transkriptionsprojekt vorgestellt worden. Diesem Projekt lag der Gedanke zugrunde, das in das 21. Jahrhundert gerettete handschriftliche Archivgut mit einem Team von ehrenamtlich Mitarbeitern aus der alten deutschen Kurrent- und Sütterlinschrift in eine moderne Schriftart zu übertragen. Im besten Falle würde dabei ein digital verfügbares „Prussia-Archiv 2.0“ entstehen. Eilbracht und Junker sahen darin einen Weg, um historisch interessierten Menschen den Zugang und die Nutzung handschriftlichen Quellenmaterials des 19. und frühen 20. Jahrhunderts zu erleichtern.

Den Bericht der PAZ hatten 2014 zahlreiche Leser als Aufruf zur Mitwirkung wahrgenommen. Sie boten ihre Hilfe für das geplante Vorhaben an. Eilbracht und Junker entschlossen sich daraufhin, es auf einen praktischen Versuch ankommen zu lassen. Von den 48 Freiwilligen gingen schließlich sieben als ehrenamtliche Helfer an den Start. Die meisten von ihnen besaßen eine ostpreußische Biographie. Bei den anderen war es die Abstammung naher Angehöriger.

Transkribiert wurde nach einem ausgefeilten zwölfseitigen Richtlinienkatalog und mit Aktenbeständen, die jeweils durch die Grenzen eines ostpreußischen Kreises definiert waren. Den Auftakt bildete für jeden der Bearbeiter sein persönlicher „Heimatkreis“, dessen Aktenkonvolut oft sogar Orte enthielt, in denen er Jahre seiner Kindheit verbracht hatte. Balga, Germau, Kampischkehmen, Königsberg, Lötzen, Neidenburg und Pillau titelten jene Akten, die Neugier und persönliche Erinnerungen bei den transkribierenden Bearbeitern aufkommen ließen.

Von ehrenamtlicher Mitarbeit profitieren viele Museen in Deutschland. Am Berliner Museum für Vor- und Frühgeschichte helfen Freiwillige seit Jahren dabei mit, Datenbanken mit ergänzenden Informationen zu befüllen und alte Handschriften zu entziffern.

Jeder ehrenamtliche Helfer übernimmt dabei ein Thema oder Segment, in dem er sich auskennt. Denn alle am Berliner Museum ehrenamtlich Tätigen sind Ruheständler oder Pensionäre, die ihren Wissens- und Erfahrungsschatz hier einbringen.

Schwieriges Entziffern
Der Anspruch an wissenschaftliches Transkribieren ist kein geringer. Jeder Satz des übertragenen Textes muss für sich genommen korrekt und zitierfähig sein. „Für das Anfertigen einer Transkription gibt es ein festes Regelwerk, und das ist sehr detailreich. Es enthält unter anderem Angaben zum Charakter des Dokumentes und zur Position der handschriftlichen Einträge auf der jeweiligen Seite. Auch Auslassungen, Einfügungen und Unleserlichkeiten werden mit bestimmten Symbolen gekennzeichnet“, weiß Eilbracht.

Für Spekulationen über Unleserliches bleibt beim wissenschaftlichen Transkribieren tatsächlich wenig Raum. Der Archivar Junker beschreibt es so: „Ein im Originaldokument nicht sicher lesbares Wort bedeutet für den Transkribenten in letzter Konsequenz meist das Setzen eines Auslassungszeichens. Das tut man als Autor einer Transkription natürlich nur ungern, zumal wenn es sich um Personennamen oder das mutmaßliche Schlüsselwort für einen wichtigen Sachverhalt handelt. Manchmal hilft dagegen aber ein einfaches Rezept: weglegen, überschlafen und am nächsten Tag noch einmal zur Hand nehmen.“

Alle Handschriften – von der mustergültigen Kanzleischrift bis hin zur berüchtigten Arztklaue – galt es zu entziffern. Gegenseitige Hilfe unter den Freiwilligen wurde dabei rasch zur Selbstverständlichkeit. Wenn beispielsweise ein schwer lesbares Grabungstagebuch mit hunderten Fachausdrücken einem der Helfer tagelang Kopfzerbrechen bereitete, übernahm ein erfahreneres Teammitglied seine Bearbeitung. So konnten selbst scheinbar untranskribierbare Schriftsätze erfolgreich übertragen werden.

Nach acht Jahren intensiver Arbeit aller Beteiligten zeichnete sich schließlich im Verlauf des Jahres 2022 ab, dass das Projektziel erreicht werden würde. Die Zahl der transkribierten Einzelblätter lag bei über 9000 und damit schon nah an der Zielmarke. Aus dem Team des Jahres 2014 waren zu diesem Zeitpunkt immerhin noch fünf ehrenamtliche Helfer für das Projekt tätig. Die beiden zwischenzeitlich in der zehnten Lebensdekade angekommenen Mitstreiter hatten aus Altersgründen das Projekt verlassen, hielten aber weiter Kontakt und nahmen am Fortgang der Arbeiten regen Anteil.

Im Schnitt hat jeder der sieben Bearbeiter seit 2014 rund 1500 handschriftliche Einzelblätter transkribiert. Bei einem Zeiteinsatz zwischen 30 und 90 Minuten pro Blatt bedeutete das Eintreffen einer neuen Aktensendung aus Berlin für die Helfer oft volle Arbeitstage über Wochen. So konnte der erfolgreichste Transkribent des Teams über viertausend Blatt auf sich vereinen. Der bei Projektbeginn 80jährige Zahnmediziner Bodo Ohlsen hatte zuvor in seiner Heimatstadt Grevesmühlen mehrere Jahrzehnte als ehrenamtlicher Bodendenkmalpfleger gearbeitet und sich dabei viel archäologisches Fachwissen angeeignet. Dieses setzte er nun beim Transkribieren der Briefe, Berichte, Grabungstagebücher und Manuskripte auf ganz neue Art und Weise ein. „Selbst schwierigste Fachtexte transkribierte der Mecklenburger souverän“, berichtet Junker, der über die gesamte Projektlaufzeit das Team fachlich betreut hat. „Doch letztlich haben alle unsere ehrenamtlichen Helfer über Jahre hinweg ganz hervorragende Arbeit geleistet und so den erfolgreichen Abschluss des Projektes erst ermöglicht“, fügt er hinzu.

Noch bis weit in das Jahr 2024 verlangten Nacharbeiten die Präsenz des Transkriptionsteams. Denn immer wieder wurde es nötig, übersprungene Seiten, unleserliche Textpassagen und vergessene Akten nachzuarbeiten. „Gerade in der Endphase des Projektes gab es noch einmal sehr viele parallele Prozesse zu koordinieren“, blickt Eilbracht auf die letzten drei Jahre zurück. Denn 2022 hatte die Archäologin Christine Reich die redaktionelle Schlussdurchsicht der eingelieferten Transkriptionen übernommen.

„Es war für das Erreichen des Projektzieles ein großer Gewinn, dass wir mit Christine Reich für diese Aufgabe eine erfahrene Archäologin gewinnen konnten“, so Eilbracht, die dafür eine über Drittmittel finanzierte Stelle hatte schaffen können. „Bei der Einwerbung der Mittel zur Finanzierung dieser Stelle hat uns die PPRUSSIA, Gesellschaft für Geschichte, Archäologie und Landeskunde Ost- und Westpreußens e.V. massiv unterstützt. So konnten wir für drei Jahre – von 2022 bis 2025 – Gelder aus dem Etat der Bundesbeauftragten für Kultur und Medien erhalten. Ohne diese Mittel hätten wir die viele Arbeit unserer ehrenamtlichen Helfer erst Jahre später nutzbar machen können. Aber nun ist daraus eine echte Erfolgsgeschichte geworden“, freuen sich Eilbracht und Junker.

Knochengeräte aus der Altsteinzeit
Fast 10.000 transkribierte Blätter stehen seit diesem Jahr für die öffentliche Nutzung zur Verfügung. Man kann sie in einer Datenbank einsehen oder sie vor Ort im Archiv des Museums für Vor- und Frühgeschichte sichten. Aus jedem der ostpreußischen Kreise sind Akten mit den zugehörigen Transkriptionen vertreten. „So haben wir nun erstmals einen guten Überblick, was an archäologischen Informationen in den vielen Dokumenten steckt“, lautet das Fazit von Reich. „Beispielsweise ist es im Kreis Gumbinnen nicht nur die bekannte Lanzenspitze aus Rentierknochen, die als Fundstück zwar leider verloren, in den Königsberger Akten aber gut dokumentiert ist. Die darin enthaltenen Unterlagen reichen von der Fundmeldung des Kreispflegers Fritz Wieske über pollenanalytische Analysen von Hugo Groß bis zu einem Briefwechsel über die Frage, ob die Lanzenspitze aus Knochen oder aus fossiliertem Holz besteht und wie alt sie ist“, so Reich. „Insgesamt wurden im Gumbinnener Kreisgebiet relativ viele Knochengeräte aus der Altsteinzeit gefunden. Die Jungsteinzeit ist vor allem durch einzeln gefundene Beile und Äxte vertreten. Dagegen fehlen Unterlagen zu Fundstellen der Bronze- und der älteren Eisenzeit. Römische Kaiserzeit, Völkerwanderungszeit, Mittelalter und Neuzeit sind durch Gräberfelder, aber auch durch Siedlungsbefunde belegt“, lautet ihre Bewertung für diesen ostpreußischen Kreis. Er sei jedoch nur ein Beispiel für die hohe Aussagekraft der Akten, betont die Archäologin.

Abschließend bringt Reich die Bedeutung der Transkriptionen auf den Punkt: „Mit der lückenlosen Bereitstellung von textgenauen Transkriptionen entfällt fortan eine gravierende Zugangsbarriere bei der Sichtung und Nutzung der alten Königsberger Akten. Davon werden alle profitieren, die sich künftig mit der Archäologie Ostpreußens befassen.“

Die Arbeiten zu den archäologischen Ortsakten aus Königsberg und ihrer Transkription, Erfassung und digitalen Präsentation können auf der Webseite www.akademieprojekt-baltikum.eu/transkriptionsprojekt.html verfolgt werden. Das Archiv des Berliner Museums für Vor- und Frühgeschichte ist per E-Mail mvf.archiv@smb.spk-berlin.de für direkte Anfragen zum Königsberger Ortsaktenbestand erreichbar.


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