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Der Migrationsforscher Mathias Beer zu einer deutschen Streitgeschichte
Eine Woche nachdem am 8. Oktober an der Gedenkstätte für Flucht und Vertreibung auf dem Osterholzer Friedhof die Einweihung der neuen Erinnerungstafel stattgefunden hatte, fand die Bremer Veranstaltung zum Thema „80 Jahre Flucht und Vertreibung“ im Wallsaal der Zentralbibliothek Bremen statt. Neben der Landesgruppe Bremen der Landsmannschaft Ost- und Westpreußen beteiligten sich auch der BdV Bremen, der Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge und die gastgebende Stadtbibliothek Bremen.
Annähernd 60 Besucher waren der Einladung gefolgt. Der Vorsitzende der LOW Bremen erwähnte in seiner Begrüßung, dass etwa 100.000 Menschen zwischen 1945 und 1961 Neubürger in Bremen wurden. Sie hatten zum Ende des Zweiten Weltkrieges keinesfalls die Absicht, ihre Heimat in den Ostgebieten des Deutschen Reiches und den deutschen Siedlungsgebieten außerhalb der Reichsgrenzen zu verlassen. Dass sie gleichwohl dazu gezwungen wurden, habe zu unfassbaren persönlichen und familiären Tragödien geführt. Für den deutschen Kulturraum sei durch Flucht und Vertreibung bis heute ein noch nicht ausgemessener Verlust eingetreten.
Dr. Mathias Beer behandelte das Thema „Flucht und Vertreibung – Eine deutsche Streitgeschichte“. In seinem Vortrag führte er aus:
„Flucht und Vertreibung steht für die von einem hohen Maß an Gewalt, Willkür und Zwang begleitete Verschiebung von mehr als 12,5 Millionen Bürgern des Deutschen Reiches und Angehörigen deutscher Minderheiten aus Ostmitteleuropa in der letzten, blutigsten Phase des Zweiten Weltkriegs und im ersten halben Jahrzehnt danach. Dabei kamen mindestens 600.000 Menschen zu Tode.“
In die Entscheidungsfindung habe auch das mit dem Vertrag von Lausanne von 1923 in die internationale Politik eingeführte Instrument des obligatorischen Bevölkerungsaustausches hineingewirkt.
„Die zweite Phase von Flucht und Vertreibung erfolgte in den Jahren 1944 bis 1950. Dieses Zeitfenster wird von den ersten Evakuierungen und Fluchtbewegungen im vorletzten Kriegsjahr und den letzten, von der Potsdamer Konferenz sanktionierten Umsiedlungen Ende der 1940er Jahre begrenzt. Die dritte Phase umfasst die kurz- und langfristigen Folgen der deutschen Zwangswanderung. Sie haben das in Jahrhunderten entstandene Gefüge Europas insgesamt umgepflügt und reichen in vielen Bereichen bis in die Gegenwart. Flucht und Vertreibung ist die Chiffre für Millionen von Lebensgeschichten, die wesentlich von Zwangsmigrationen geprägt worden sind. Für die von Flucht und Vertreibung Betroffenen gehören die Erlebnisse auf der Flucht, bei der Evakuierung, während der Ausweisung und Umsiedlung zu den einschneidendsten, nicht selten traumatischen Erfahrungen ihres Lebens.“ Gesellschaftlich breit angelegte und intensive Debatten über die deutsche Zwangsmigration am Ende des Zweiten Weltkriegs und ihre Folgen zeigten nicht zuletzt, so Beer, dass das Sprechen über Flucht und Vertreibung nie ein Tabu war.
Stiftung Flucht, Vertreibung, Versöhnung
Auch wenn sich die allgemeinen Rahmenbedingungen 2008 nicht grundsätzlich verändert hatten, wurden mit der „Stiftung Flucht, Vertreibung, Versöhnung“ neue Akzente gesetzt. Der angestrebte Dialog mit den ostmitteleuropäischen Staaten mündete nicht in ein „europäisches Zentrum gegen Vertreibungen“ und schon gar nicht in das vom BdV gewünschte „Zentrum gegen Vertreibungen“, sondern in eine Stiftung, mit der im Kontext der Vertreibungen des 20. Jahrhunderts an Flucht und Vertreibung erinnert werden soll. Der Weg dazu wurde frei, als im Februar 2008 die polnische Regierung ihren bis dahin unmissverständlich geäußerten, vordergründig mit der Rolle des BdV begründeten Widerstand gegen das „Sichtbare Zeichen“ aufgab und das deutsche Projekt seither „mit wohlwollender Distanz“ begleitet. Damit war der Weg auch frei für den 2015 eingeführten „Gedenktag an die Opfer von Flucht und Vertreibung“.
Genuine Grenzfragen spielten in den Gesprächen und Verhandlungen auf nationaler Ebene und mit den Staaten Ostmitteleuropas, die 2008 im Vorfeld der Errichtung der „Stiftung Flucht, Vertreibung, Versöhnung“ geführt wurden, keine Rolle.
Das Gesetz vom Dezember 2008 knüpft unmittelbar an den Bundestagsbeschluss von 2002 an. Aber weder waren in den Beratungen zum Gesetz die Ursachen für die Zwangsmigration der Deutschen ein besonderer Diskussionspunkt, noch wird im Gesetzestext und seinen Erläuterungen breit darauf eingegangen. Das ist Ausdruck des mittlerweile vorhandenen Konsenses der im Bundestag vertretenen Parteien über die Voraussetzungen für die Flucht, Ausweisung und Vertreibung der deutschen Bevölkerung. Sie werden im Gesetz klar und deutlich benannt:
Die sich zu Beginn des 20. Jahrhunderts herausgebildete Praxis der Umsiedlung und Vertreibung als Instrument zur Lösung von Minderheiten- und Grenzfragen; der vom Deutschen Reich vom Zaun gebrochene Zweite Weltkrieg und die damit verbundene nationalsozialistische Expansions- und Vernichtungspolitik.“
Solche Befürchtungen wurden im Zuge des Gesetzgebungsverfahrens für die Errichtung der „Stiftung Flucht, Vertreibung, Versöhnung“ nur noch gelegentlich geäußert. Mit Ausnahme der Linken begrüßten alle Bundestagsfraktionen, „dass das Vorhaben die Erinnerung an deutsche Opfer in einen umfassenden historischen Kontext stelle und dem Verdacht entgegentrete, die Ereignisse, die Ursachen und deren Wirkung zu relativieren. An der nationalsozialistischen Expansions- und Vernichtungspolitik als zentraler Referenzpunkt für die mit der Arbeit der Stiftung konstitutiv verbundene Aufgabe der Erinnerung und des Gedenkens an Flucht und Vertreibung lässt das Gesetz ebenso keinen Zweifel wie der Beschluss der Bundesregierung zur Einführung eines nationalen Gedenktags an die Opfer von Flucht und Vertreibung.“
In seinem Fazit beleuchtete der Referent die Folgen der Streitgeschichte zu Flucht und Vertreibung?
„Erstens hatten die aufgezeigten Merkmale der Streitgeschichte verheerende Folgen für die wissenschaftliche Erforschung von Flucht und Vertreibung. Seit Anfang der 1960er Jahre hat sich die deutsche Zeitgeschichte von der Erforschung des Komplexes Flucht und Vertreibung verabschiedet. Nur einige Indizien dafür sollen erwähnt werden. Die monumentale ,Dokumentation der Vertreibung aus Ost-Mitteleuropa' blieb unvollendet. Der umfangreiche Quellenfundus der Ost-Dokumentation war seither kein Thema der Forschung mehr. Untersuchungen zu Einzelaspekten des Themenkomplexes wurden gelegentlich erst seit der zweiten Hälfte der 1980er Jahre wieder durchgeführt. Im Unterschied zur Erforschung des Eingliederungsprozesses der Flüchtlinge und Vertriebenen insbesondere auf regionaler Ebene ist die Zahl der Studien zu Flucht und Vertreibung geringer. Dieses Defizit wird mittlerweile durch einschlägige Studien in Polen, der Tschechoslowakei und Ungarn oder transnationale Kooperationsprojekte kompensiert. Aber eine Gesamtdarstellung von Flucht und Vertreibung gibt es nach wie vor nicht. Die erste zusammenfassende Darstellung stammt aus dem Jahr 2011. Im Wesentlichen steht die Forschung heute noch vor der Aufgabe, vor der die ,Dokumentation der Vertreibung' Anfang der 1960er stand: ‚Flucht und Vertreibung' aus der monokausalen Beziehung zur nationalsozialistischen Eroberungs-, Besatzungs- und Vernichtungspolitik zu lösen, ‚Flucht und Vertreibung' in den Kontext der europäischen Zwangsmigrationen des 20. Jahrhunderts zu stellen, in den beide Komplexe gehören, und damit eine ihrer gemeinsamen Wurzeln, die Idee des ethnisch reinen Nationalstaats, offen zu legen.
Verheerende Folgen von Flucht und Vertreibung
Zweitens hatten die genannten Merkmale der Debatten zu Flucht und Vertreibung verheerende Folgen für die Verankerung von Flucht und Vertreibung im kulturellen Gedächtnis der Deutschen. Flucht und Vertreibung blieben in der Bundesrepublik trotz aller Anstrengungen und Bemühungen von Seiten der Interessenverbände, der Politik und zeitweilig auch der zeitgeschichtlichen Forschung gruppen- und trägerspezifisch verankert. Auch die noch so intensiven und breiten offiziellen geschichtspolitischen Bemühungen haben es bis zum Ende des letzten Jahrhunderts nicht vermocht, ‚Flucht und Vertreibung' über die Stufe des kommunikativen Gedächtnisses zu heben. Das Gedächtnis zu Flucht und Vertreibung wurde nicht nur aufgrund des Kalten Krieges neutralisiert. Es wurde auch durch die polarisierte innenpolitische Auseinandersetzungen neutralisiert. Die Vergangenheitsbewältigung in der Bundesrepublik beschränkte sich seit den Schwellenjahren um 1960 auf die Erforschung und den Umgang mit der Geschichte des Nationalsozialismus. Sie war seither auch der Bezugspunkt für den Umgang mit dem Vertreibungsgeschehen. Dieser Bezug wurde aber in der politischen Diskussion auf eine Kausalbeziehung zwischen NS-Verbrechen und der Vertreibungs-Verbrechen reduziert. Die Folge: Der parteipolitisch instrumentalisierte Vertreibungskomplex wurde nicht oder nur einseitig in der bundesdeutschen Erinnerungskultur verankert. Flucht und Vertreibung blieben das Thema einer partiellen von rechtlichen Gesichtspunkten bestimmten Erinnerungskultur der Betroffenen. In der Streitgeschichte um die ,richtige' Erinnerung ist auch eine wesentliche Ursache dafür zu sehen, dass sich das deutsche historische Gedächtnis so ,merkwürdig unsicher' zu ‚Flucht und Vertreibung' verhält.
Die aufgrund der spezifischen außen- und innenpolitischen Bedingungen in hohem Maße politisierte und polarisierte Debatte über Flucht und Vertreibung hat Geschichtsbilder vom Vertreibungsgeschehen entstehen lassen, die eine tiefgründige Auseinandersetzung mit Flucht und Vertreibung in Politik, Wissenschaft und Gesellschaft lange Zeit eher behindert denn gefördert haben – eine außen- und innenpolitische Streitgeschichte eben.“
Fakten und Gefühl
Soweit eine Auswahl historischer Aussagen aus dem Vortrag Professor Beers.
Nach diesem wissenschaftlich nüchtern aufgebauten Referat führte Dr. Christopher Spatz das Publikum in das unmittelbare Empfinden der Menschen, welche die Ereignisse als Zeitzeugen miterleben mussten. Ein Mädchen aus der Nähe von Braunsberg und eine junge Frau aus einem Dorf im Kreis Lyck hatten aufgeschrieben, wie ihre Familie zur Flucht übers Haff aufbrach bzw. was sie unter russischer Herrschaft in ihrem Dorf erlebten. Auch der Brief eines Wolfskindes aus Litauen berührte die Zuhörer, war er durch Dr. Christopher Spatz doch sehr empathisch vorgetragen.
Eine Frage- und Antwortrunde beendete einen aufschlussreichen Abend, der einen besonderen Platz in der Geschichte unserer Landesgruppe einnehmen wird.