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Warum Journalisten, Juristen, Künstler, Politiker, ehemalige Idealisten und andere besorgte Bürger mit »Free Speech Aid« eine NGO für das offene Wort gegründet haben
Es ist ein paradoxes Schauspiel, das sich in Europa gerade abspielt: Während autoritäre Staaten für ihre Zensur kritisiert werden, bauen westliche Demokratien still und effizient ihre eigenen Überwachungssysteme zur Kontrolle des Sagbaren aus. Nicht mit Verbotsschildern, sondern mit Verhaltensökonomie, Löschinfrastrukturen und der neuen Ethik des Verdachts. Inmitten dieser Umdeutung des Liberalismus haben wir eine NGO gegründet: Free Speech Aid. Sie soll sein, was zunehmend fehlt – ein Korrektiv.
Wir leben in einer Zeit, in der Plattformregeln sich über Grundrechte stellen, in der Inhalte nicht mehr durch Gegenargumente bekämpft, sondern durch Meldebuttons gelöscht werden. Die Verteidiger dieser neuen Ordnung verweisen auf Desinformation, Hassrede oder den Schutz der Demokratie. Doch was sie übersehen: Eine Demokratie, die sich durch die Einschränkung von Rede stabilisieren will, hat ihren Grundsatz verfehlt.
Die liberale Ordnung war einst stolz auf ihre Widersprüche. Heute wird Abweichung pathologisiert. Wer eine falsche Frage stellt, steht unter Generalverdacht. Wer ein falsches Meme teilt, kann Besuch vom Staat bekommen. Kein hypothetisches Szenario, sondern dokumentierte Realität: Menschen, die wegen satirischer Bildbeiträge mit Hausdurchsuchungen konfrontiert wurden, deren Smartphones beschlagnahmt, deren digitale Identität durchleuchtet, deren privateste Daten erfasst wurden. Nicht im Rahmen einer Terrorabwehr, sondern wegen Symbolbildern und ironischen Kommentaren. Das Verhältnis von Maßnahme und Inhalt ist grotesk verschoben. Die neue Realität lautet: Wer den Diskurs stört, wird reguliert – nicht debattiert.
Ein Schutzraum für gefährdete Grundrechte
Free Speech Aid ist unsere Antwort auf diese tektonische Verschiebung. Wir sind keine Lobbyorganisation, keine Plattform für Provokation. Wir sind ein Schutzraum für das gefährdete Grundrecht auf Rede. Und genau deshalb nehmen wir kein Geld vom Staat. Denn wie glaubwürdig kann eine NGO sein, die von jenen finanziert wird, die sie beobachten, kontrollieren oder mitverantwortlich machen will?
Unsere Unabhängigkeit ist kein Marketingversprechen, sondern die notwendige Grundlage unserer Arbeit. Nur wer frei von institutionellen Loyalitäten agieren kann, kann eine wirkliche Kontrollinstanz für staatliche und private Eingriffe sein. Wir glauben nicht, dass der Staat per se zensiert – aber wir sehen, dass er neue Formen diskursiver Kontrolle institutionalisiert. Ob durch den Digital Services Act, durch das Netzwerkdurchsetzungsgesetz oder durch den Aufbau von „vertrauenswürdigen Faktenpartnern“, die faktisch definieren, was öffentlich sagbar bleibt.
Wir sind Journalisten, Juristen, Künstler, Politiker, ehemalige Idealisten, kritische Geister. Menschen, die nicht bereit sind, das leise Sterben der offenen Debatte zu ignorieren. Viele von uns haben miterlebt, wie kritische Stimmen aus Diskursen gedrängt wurden, nicht weil sie Unrecht hatten – sondern weil sie nicht mehr in die Logik des Sagbaren passten. Einige von uns haben selbst erlebt, wie plötzlich E-Mails verschwinden, Konten eingeschränkt, Veranstaltungen abgesagt, Anwaltsrechnungen explodieren – wegen eines Textes, einer Aussage, eines Verdachts.
Free Speech Aid ist mehr als eine NGO. Es ist ein Versuch, das öffentliche Gespräch wieder auf die Beine zu stellen. Wir dokumentieren Fälle von Zensur und Diskursausschluss, analysieren Gesetzesinitiativen, bieten erste Hilfe für Betroffene, vernetzen, beraten, machen sichtbar, was viele lieber verdrängen. Wir arbeiten journalistisch, juristisch, analytisch – nicht ideologisch.
Was wir erleben, ist kein neuer Totalitarismus. Es ist subtiler. Eine schleichende Anpassung der Gesellschaft an die Angst vor dem Falschen. Eine Neigung zur moralischen Homogenität. Und ein diskursives Klima, in dem sich selbst liberale Geister fragen: Darf ich das noch sagen?
Diese Frage ist der eigentliche Skandal. Denn eine Gesellschaft, in der man sich das fragt, ist bereits auf dem Rückzug – vor sich selbst.
Für das Recht, Unrecht zu haben
Deshalb braucht es Organisationen wie Free Speech Aid. Nicht, weil wir Recht haben. Sondern weil wir glauben, dass jeder das Recht haben muss, ungehindert Unrecht zu haben – solange es im Rahmen von Recht und Gesetz geschieht.
Die Geschichte zeigt: Redefreiheit wurde nie freiwillig gewährt. Sie musste errungen werden – von Dissidenten, Verlegern, Philosophen, Whistleblowern, Aufklärern. Von Menschen, die inhaftiert, verbannt oder gelöscht wurden – nicht wegen Gewalt, sondern wegen Gedanken. Es waren Menschen wie Ai Weiwei, Nawalny, Snowden, Assange, Böhme, Biermann. Sie alle eint die Erfahrung, dass der Preis für das gesprochene Wort hoch sein kann – aber das Schweigen teurer ist.
Die Meinungsfreiheit ist kein Geschenk des Staates. Sie ist ein Versprechen an die Zukunft. Und sie ist nicht in Gefahr, weil Diktatoren sie abschaffen – sondern weil Demokratien beginnen, sie zu relativieren. Free Speech Aid wurde gegründet, weil wir glauben, dass dieses Versprechen nicht verhandelbar ist.
• Jakob Schirrmacher ist Journalist, Autor sowie Dozent für Medienbildung, Digitalisierung und Sozialstrukturwandel. Im Frühjahr 2025 erschien sein Buch „Desinformiere Dich! Eine Streitschrift“. Free Speech Aid wurde gegründet von Joana Cotar, Tom Bohn, Marcus Pretzell, Prof. Dr. Josef Franz Lindner, Rainer Meyer, Oliver Gorus und anderen.