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Vor 100 Jahren konferierten in Locarno Delegierte, wie ein dauerhafter Frieden in Europa hergestellt werden kann
Am Fuß der Alpen in der südlichen Schweiz liegt der Urlaubsort Locarno am Lago Maggiore, wo Sonne garantiert ist. Günstiges Klima gab es auch, als acht Jahre nach Ende des Ersten Weltkriegs vom 5. bis 16. Oktober 1925 dort verhandelt wurde. Es ging um den Verzicht auf gewaltsame Änderung der deutschen Westgrenze. Am 1. Dezember unterzeichneten diesen Pakt in London der deutsche Reichskanzler Hans Luther, der britische Premier Stanley Baldwin, die Außenminister Gustav Stresemann aus Deutschland, Aristide Briand aus Frankreich, Austen Chamberlain vom Vereinigten Königreich und Émile Vandervelde aus Belgien sowie Italiens Delegierter Vittorio Scialoja. Mit der Aufnahme Deutschlands in den Völkerbund am 10. September 1926 traten die Vereinbarungen in Kraft. Stresemann und Briand erhielten dafür den Friedensnobelpreis.
Verschiedene Motive
Stresemann beabsichtigte eine Änderung des Versailler Friedens auf friedlichem Wege durch normalisierte Beziehungen mit Frankreich, um die territorialen Revisionsforderungen im Osten offenzuhalten und die Reparationslasten zu verringern. Briand zielte auf Verständigung mit dem Deutschen Reich zur Absicherung des territorialen Status quo und Elsaß-Lothringens im französischen Staatsverband. Großbritannien und Italien waren Garantiemächte zur Kontrolle der vertraglichen Einhaltung. Chamberlain ging es vor allem um ein kontinentaleuropäisches Gleichgewicht zur Ruhigstellung des Kontinents als Basis für die Aufrechterhaltung der bereits gefährdeten britischen Weltmachtstellung, Belgien um Grenzsicherung und Italien um Festigung der Brennergrenze zum Erhalt des annektierten Südtirols. Der Duce wollte zudem anerkannter und gleichberechtigter Partner in Europa sein.
Reaktionen und Folgen
Die Deutschnationale Volkspartei (DNVP) und die NSDAP lehnten die Zugeständnisse an den Westen ab. Die KPD argwöhnte eine Koalition gegen die UdSSR. Moskau befürchtete einen antisowjetischen Block, drohte mit Anerkennung der polnischen Westgrenze und einem Nichtangriffspakt mit Warschau. Stresemann kam Moskau entgegen und schloss zur Verstärkung des Vertrags von Rapallo von 1922 den Berliner Vertrag als deutsch-russisches Freundschafts- und Neutralitätsabkommen am 24. April 1926. Der polnische Außenminister Aleksander Graf Skrzyński und sein tschechoslowakischer Amtskollege Edvard Benesch befürchteten schon das Schlimmste.
Mit dem Tod Stresemanns am 3. Oktober 1929 verlor Locarno einen wichtigen Fürsprecher. Briand wollte in Folge zu viel, indem er mit einem Memorandum vom 17. Mai 1930 „Vereinigte Staaten Europas“ empfahl und einen Föderationsplan für eine enge, vor allem wirtschaftliche Verbindung vorlegte, der jedoch europaweit keine Unterstützung mehr fand. Es folgte zwar im Juni die Entmilitarisierung des bis dato besetzten Rheinlandes, die Weltwirtschaftskrise rief aber noch stärkere nationale Egoismen hervor. Die Ankündigung einer Zollunion zwischen Österreich und den Deutschen Reich 1931 brach Briand innenpolitisch das Genick. Er starb im Jahr darauf.
Mit Adolf Hitler an der Macht gab es keine Chance mehr für dauerhaften Frieden in Europa. Deutschland verließ den Völkerbund 1935 und rüstete auf. Bereits als deutlich machtloserer Politiker erschien Frankreichs Premier Edouard Daladier im Schatten von Hitler, dem britischen Premierminister Neville Chamberlain und Benito Mussolini, als am 29. September 1938 in München die Eingliederung der Sudetengebiete in das „Dritte Reich“ beschlossen wurde. Ein noch stärkeres Abhängigkeitsverhältnis durch erzwungene Kollaboration sollte zwischen Marshall Philipp Pétain und Hitler ab 1940 entstehen.
Neue Anläufe nach 1945
Locarno war ein Richtungsweiser. Obwohl der Weg nicht beschritten wurde, blieb das Duo Briand-Stresemann im Gedächtnis beider Nationen. Ein neues couple franco-allemande startete fünf Jahre nach Kriegsende mit Bundeskanzler Konrad Adenauer und Frankreichs Außenminister Robert Schuman. Ein von ihm am 9. Mai 1950 präsentierter Plan sah vor, die Kohleförderung und Stahlproduktion in Westdeutschland und Frankreich einer europäischen Behörde zu unterstellen, um den Frieden zu sichern. Die Montanunion war ein sensationeller Schritt. Den nächsten zur Versöhnung setzten Charles de Gaulle und Adenauer, der 1958 sogar auf dem Privatsitz des Franzosen in Colombey-les-deux-Églises geladen war (siehe PAZ vom 12. September). Sie besiegelten den Elysée-Vertrag 1963, der enge Kooperationen auf allen möglichen Gebieten vorsah.
Ihre Nachfolger von 1969 bis 1974, der zweite Präsident der Fünften Republik Georges Pompidou und der vierte Bundeskanzler Willy Brandt, trieb die Sehnsucht nach einer symmetrischen Beziehung und funktionierenden Partnerschaft, zumal die bundesdeutsche Ostpolitik in Paris Ängste nährte, Bonn könnte sich zu sehr an die Sowjetunion annähern und sich vom Westen abkoppeln. Pompidou mahnte daher Brandt zu noch mehr europäischem Engagement, was dieser zusicherte. Beide bastelten an einem Währungsfonds.
Das Tandem Helmut Schmidt-Valéry Giscard d'Estaing war auf der Suche nach Stabilität in der Krise der 1970er Jahre. Sie waren mit der Etablierung eines Europäischen Währungssystems 1978 als Nukleus für den späteren Euro wegweisend.
Am historischen Gedenkort Verdun trafen sich Helmut Kohl und François Mitterrand am 22. September 1984. Der Fotograf Frédéric de la Mure schoss das Bild von den beiden Staatsmännern Hand in Hand stehend vor den Gebeinhäusern, das als Symbol der deutsch-französischen Verantwortung vor der Geschichte weltberühmt wurde.
Dagegen waren sich Gerhard Schröder und Jacques Chirac nur einig in der Ablehnung US-amerikanischer Aufforderungen, im Zweiten Golfkrieg mitzutun, während sie die europäische Verfassungskrise nicht lösen konnten. „Merkozy“ erzielten eine Einigung mit dem EU-Vertrag von Lissabon 2007, gemeinsame Lösungen für die „Euro-Krise“ und die Zurückweisung der US-amerikanischen Forderung zur Aufnahme der Ukraine in die NATO.
Unter Angela Merkel und Emmanuel Macron (2017–2021) gab es jedoch mehr Abbruch als Aufbruch in Europa, denn die Kanzlerin zeigte keine Reaktion auf die ambitionierte Sorbonne-Rede des Präsidenten. Erst bei der Bekämpfung der Corona-Folgen zogen beide wieder an einem Strang.
Unter Olaf Scholz und Macron (2021–2025) stockte der Motor erneut. Bessere Stimmung herrschte zuletzt im Élysée-Palast beim Empfang von Kanzler Friedrich Merz, der mit Macron den Beziehungen neuen Elan verleihen will, was Europa eingekeilt zwischen Bedrohungen und Forderungen aus Ost wie West auch dringend benötigt.
Prof. Mag. Dr. Michael Gehler lehrt Neuere Deutsche und Europäische Geschichte und leitet das Institut für Geschichte an der Universität Hildesheim.