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Leitartikel

Gewalt lohnt sich noch immer

Im Konflikt um die Region Bergkarabach zeigen die Europäer, dass mit ihnen als sicherheitspolitischem Akteur auf absehbare Zeit nicht zu rechnen ist

René Nehring
12.11.2020

Es sieht nicht gut aus für die Armenier in Bergkarabach. Seit dem Wiederaufflammen des Konflikts um die Zugehörigkeit der armenischen Enklave innerhalb Aserbaidschans im Juli und seit dem Beginn einer militärischen Offensive Bakus am 27. September 2020 haben die aserbaidschanischen Truppen kontinuierlich an Boden gewonnen.

Am Montag dieser Woche nun musste die Republik Arzach – so der Name des völkerrechtlich nicht anerkannten Staates der Armenier in Bergkarabach – den Verlust der strategisch wichtigen Stadt Schuscha eingestehen. Die Hauptstadt Stepanakert steht vor dem Fall. Auch wenn in der Nacht zu Dienstag ein – durch den russischen Präsidenten Wladimir Putin vermittelter – Waffenstillstand verkündet wurde, bleibt die Lage der Armenier prekär. Schon einmal, am 10. Oktober, hatten die Russen eine Unterbrechung der Kämpfe ausgehandelt, doch hielt diese nur wenige Stunden.

Während Erdoğan massiv eingreift, schaut Europa weg

Möglich wurde das schnelle Vordringen der zu den Turk-Völkern gehörenden Aserbaidschaner durch eine umfangreiche Unterstützung seitens der Republik Türkei und ihres machtbewussten Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan. So meldeten unter anderem Russland und Frankreich, dass Ankara Söldner aus Syrien und Libyen auf Seiten Aserbaidschans in den Kampf geschickt habe. Von bis zu 4000 Kämpfern ist die Rede. Die Regierung Erdoğan schwieg zu diesen Berichten.

Dem entschiedenen Eingreifen Erdoğans gegenüber steht die weitgehende Ignorierung des Geschehens durch die Europäische Union. Außer einigen Aufrufen zur Mäßigung war aus Berlin, Paris und Brüssel kaum etwas zu hören. Russland, das als traditioneller Verbündeter Armeniens gilt, versucht, mit beiden Konfliktparteien im Gespräch zu bleiben.

Leiden muss in diesem Konflikt wie so oft die Zivilbevölkerung. Internationale Beobachter kommen auf mehrere hundert Tote und Verletzte – sowie rund 75.000 Menschen (fast ausschließlich Frauen und Kinder), die aus Angst vor den Kämpfen ihre Heimatorte verlassen haben. Da die Republik Arzach rund 146.000 Einwohner hat, ist praktisch die gesamte Zivilbevölkerung auf der Flucht.

Folgenlose Bekenntnisse zu den Menschenrechten

Mit ihrer Weigerung, den Armeniern jenseits halbherziger Appelle zu Hilfe zu kommen, zeigen die Europäer, dass all die Bekenntnisse zu den Menschenrechten in den vergangenen Jahrzehnten nichts wert waren. Bombardierungen von Zivilisten, so die bittere Erkenntnis aus Bergkarabach, sind trotz aller verbaler Ächtungen noch immer ebenso möglich wie Grenzverschiebungen und die Vertreibung angestammter Bevölkerungsgruppen. Man muss als Aggressor nur entschieden genug auftreten – wie nun Erdoğan und sein Verbündeter in Baku, Präsident İlham Alijew.

Nun wird niemand erwarten, dass eine Gemeinschaft von rund 400 Millionen Einwohnern in den Krieg zieht für ein kleines Ländchen im Hochland des Kaukasus, weitab von allen Orten, an denen sich Fuchs und Hase eine gute Nacht wünschen. Doch gäbe es auch andere Methoden zur Sanktionierung militärischer Gewalt, zum Beispiel Wirtschaftssanktionen, die die Türkei gerade jetzt in ihrer ökonomisch prekären Lage empfindlich treffen würden.

So aber zeigen die in der EU vereinten Europäer mit ihrem Wegschauen zweierlei: dass sich Gewalt als Mittel zur Durchsetzung außenpolitischer Ziele noch immer lohnt – und dass man vor ihnen keine Angst zu haben braucht. Den Preis dafür zahlen derzeit die christlichen Schwestern und Brüder in Armenien.


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Kommentare

sitra achra am 16.11.20, 11:22 Uhr

Putin opfert Armenien, weil er sich durch die Anbiederung bei Erdogan strategische Vorteile verspricht.
Historisch betrachtet wird der Schuss nach hinten losgehen, vermute ich.
Dann stehen die Moslems vor Moskau.

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