Preußische Allgemeine Zeitung Zeitung für Deutschland · Das Ostpreußenblatt · Pommersche Zeitung
Im Königsberger Gebiet werden Städte und Dörfer vor dem Verfall bewahrt – Eindrücke einer Reise
Von Gerdauen hatte ich überhaupt keine Vorstellung, als ich 1956 als Elfjährige die Geschichte „Gerdauen ist schöner“ von August Winnig in unserem Lesebuch las. Ja, damals wurden die Oder-Neiße-Gebiete in den Schulbüchern thematisiert.
Obwohl unsere Familie aus Ostpreußen kam, ging es mir so wie dem Ich-Erzähler, der sich an die blonde Marie aus Gerdauen erinnert, die von so weit her in eine Schulklasse im Westen kam. Sie wurde liebevoll aufgenommen, aber auf alles, was die Mitschüler ihr zeigten, kam seufzend die Antwort: „Gerdauen ist schöner“. So wurde Gerdauen für die Kinder im Westen ein Wunderland, ein Paradies, ein Konkurrent, etwas Überirdisches. Dann kam der Krieg, der Ich-Erzähler fuhr als Soldat durch die Stadt und fand ein einfaches Landstädtchen ohne besondere Sehenswürdigkeiten vor. Da wurde ihm klar, was Heimat bedeutet.
Ich kam fast siebzig Jahre nach meiner Lesebuch-Lektüre nach Gerdauen, im Juli 2025. Es war ein kurzer Besuch, auf den ich mich besser vorbereitet hätte, wenn ich das rechtzeitig gewusst hätte. Natürlich wusste ich inzwischen über den Ort ein wenig Bescheid. Gerdauen [Schelesnodoroschnij] gehört heute zum Königsberger Gebiet, der Kreis Gerdauen ist im Norden russisch und im Süden polnisch. „Wir sind hier ganz nahe an der polnischen Grenze“, sagte der russische Freund, der mich mitgenommen hatte.
Spuren des kulturellen Erbes
Die Woiwodschaft Ermland-Masuren ist einen Katzensprung entfernt und für uns an diesem Tag im Juli unerreichbar. Schließlich wäre das ein Schritt in die EU, und dazwischen liegt eine Grenze, die für den deutschen Gast mit vielen Kontrollen verbunden und für den russischen Freund in diesen Zeiten undurchdringlich ist. Mich trifft das ins Herz, denn ich bin eine deutsche „Altvertriebene“; da tut es weh, die Heimat Ostpreußen so von Grenzen zerschnitten zu sehen.
Aber die Besucher von heute können ein Gerdauen erleben, das einer glänzenden Zukunft zustrebt. Im Königsberger Gebiet wird renoviert und restauriert mit dem Ziel, den Städten und Dörfern ein historisches Flair zu geben. Der Tourismus ist der Wirtschaftsfaktor Nummer eins geworden, aber nicht nur deshalb ist man bemüht, die deutsche Geschichte sichtbar oder besser: fühlbar zu machen.
Es gibt ein gemeinsames kulturelles Erbe für Russen und Deutsche, das auch in schwierigen Zeiten gepflegt wird. Die deutsche „Heimatkreisgemeinschaft Gerdauen e.V.“ arbeitet vorbildlich mit der russischen Seite zusammen und berichtet in ihrem „Heimatbrief“ jeweils ausführlich über „Neues aus dem Heimatkreis“. Darin erfährt man, dass restaurierte Häuserzeilen in Gerdauen bereits 2023 als Kulisse für ein Wandertheater-Projekt dienten, in dem unter anderem Figuren aus Erzählungen des romantischen Königsberger Dichters E. T. A. Hoffmann auftraten. Auch einzelne Restaurierungen werden jeweils genau vorgestellt.
Bei unserem kurzen Besuch zeigte sich Gerdauen als eine Baustelle der besonderen Art. Am Marktplatz fanden wir einen Parkplatz. Es regnete, aber Menschen bevölkerten die für Fußgänger schwierige Stadt. Sämtliche Straßen schienen gleichzeitig saniert zu werden. Bauzaun an Bauzaun, aber Touristengruppen in Regenjacken folgten tapfer und begeistert den Stadtführern.
Wichtiger Wirtschaftsfaktor Tourismus
Es gab aber auch die schönsten Restaurierungen zu sehen. Fassaden mit Fensterläden wie früher, alte Haustüren aus Holz, Fachwerk. Die Häuser sind bewohnt, und wenn eine modisch gekleidete Bewohnerin mit Mobiltelefon herauskam, erschien die Gegenwart.
Mir spielte das Schicksal oder vielmehr mein Smartphone einen Streich. Das Fotografieren war ohnehin schwierig durch die Straßenverhältnisse, und so brachte ich nur ein Symbolfoto zustande und kann jetzt nur hoffen, dass man mir glaubt: Gerdauen ist wirklich schön, und es wird immer schöner, und die früheren deutschen wie die heutigen russischen Einwohner Gerdauens entwickeln große Zukunftspläne. Der kleinen Marie wurde doch auch geglaubt, dass ihre Heimatstadt besonders schön sei.
Eine Entschädigung für mein Smartphone-Pech hielt Gerdauen bereit. Von außen ganz unscheinbar, gibt es am Markt das „Café Senf“ – Gortschiza. Die Speisekarte dieses Familienbetriebs hat die Form eines Küchenbrettchens, und besonders interessierte Gäste können nachlesen, wie nach alter Tradition der Borschtsch zubereitet wird. Das Rezept für mehrere Varianten haben die Großmütter hinterlassen. Wir bestellten Blini mit Quark, und ich erfuhr, dass Gerdauen im Krieg sehr gelitten hat. Davon zeugt auch die Burgruine hoch über der Stadt, die heute von Touristen „gestürmt“ wird. Bleibt zu hoffen, dass die Zukunft der Stadt nur noch Schönheit und Frieden bringen möge.