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Forschung

Im Tiefschlaf das Weltall erobern

In Science-Fiction-Filmen werden Astronauten für lange Raumfahrten einfach eingefroren. Da das in der Praxis zum Tode führt, experimentieren Wissenschaftler am „Winterschlaf“ für den Menschen

Wolfgang Kaufmann
13.05.2024

Derzeit verfolgen sowohl die US-Raumfahrtbehörde NASA als auch das Privatunternehmen SpaceX Pläne für einen bemannten Flug zum Mars ab Mitte der 2030er Jahre; ebenso hat China den Roten Planeten im Visier. Mit den aktuell zur Verfügung stehenden Antrieben würde die Reise sechs bis neun Monate dauern – nicht mitgerechnet der Rückflug. Und solch ein langer Aufenthalt im All birgt erhebliche gesundheitliche Risiken.

Dazu zählen Zellschäden durch die kosmische Strahlung, Muskelschwund, Knochenerkrankungen und eine nachhaltige Schwächung des Immunsystems. Gleichermaßen gefordert wäre die Psyche. Beim 520 Tage dauernden Isolationsexperiment Mars-500 mit sechs Freiwilligen aus Russland, Frankreich, Italien und China kam es bei vier Teilnehmern zu Depressionen oder verstärkter Reizbarkeit. Deshalb steht zur Diskussion, die Marsreisenden während des Fluges in einen Dauerschlaf zu versetzen. Das würde im Übrigen auch Nahrung, Wasser und Energie sparen.

Aus der Science-Fiction kennt man den sogenannten Kryoschlaf, also das Einfrieren und Wiederauftauen der Astronauten. Dabei handelt es sich jedoch um ein unbrauchbares, weil letztlich zum Tode führendes Verfahren. Dahingegen ist der sogenannte Torpor, also der Zustand von Tieren während ihres Winterschlafs, eine deutlich realistischere Option.

Vorbild ist der Bär
Im Torpor wird der Stoffwechsel auf ein Mindestmaß reduziert – der Körper arbeitet quasi auf Sparflamme. Manchmal sinkt der Energieumsatz bis auf fünf Prozent des Normalwerts. Damit einher geht körperliche Inaktivität beziehungsweise Starre sowie ein Ruhen aller Verdauungsvorgänge. Außerdem fällt die Körpertemperatur deutlich. Bei Murmeltieren, Streifenhörnchen und Siebenschläfern erreicht sie fast null Grad Celsius, was die absolute physiologische Untergrenze darstellt und für Menschen gleichfalls schon tödlich wäre. Im Gegensatz dazu könnten Bären im Winterschlaf ein geeignetes Vorbild für Astronauten sein, die den Marsflug im Ruhezustand absolvieren sollen.

Bären reduzieren ihre Körpertemperatur nur von 37 auf 32 Grad, was auch der Homo sapiens im Normalfall überlebt, wie Untersuchungen an Verschütteten zeigen, die länger unter Lawinen begraben lagen. Bei 32 Grad geht zwar die Herzfrequenz zurück, aber es kommt zu keinen Störungen der Rhythmik. Dennoch sinkt der Energieumsatz der Bären um drei Viertel, und sie müssen weder essen oder trinken noch Stoffwechselprodukte ausscheiden. Während der Zeit des Winterschlafs bauen die Tiere ihr Unterhautfettgewebe ab. Dies wäre dem Menschen genauso möglich, weil er zu den wenigen Säugern gehört, die nicht im Wasser leben, aber dennoch Fettspeicher unter der Haut besitzen.

Wenn es gelänge, Astronauten in einen Torpor nach Art der Bären zu versetzen, hätte dies enorme Vorteile. Denn sie würden nicht nur Hunderte von ereignislosen Tagen im All verschlafen, sondern auch noch weniger strahlungsempfindlich sein, weil sich die Zellteilung verlangsamt und damit weniger schädliche Mutationen aufgrund des Bombardements kosmischer Teilchen auftreten. Außerdem könnten die Marsreisenden nach dem Erwachen ohne Probleme laufen, da es im Torpor zu keinem Muskelabbau kommt. Das sieht man an den Bären, die im Anschluss an ihren Winterschlaf sofort mobil und kampfbereit sind. Insofern bestehen hier keine Parallelen zum künstlichen Koma.

Allerdings müssen die Forscher herausfinden, was solch einen Torpor auslöst. Mit dieser Frage beschäftigen sich unter anderem die Mitglieder einer Expertengruppe der Europäischen Weltraumagentur (ESA), die bis 2023 von dem deutschen Zellbiologen und Neurowissenschaftler Jürgen Bereiter-Hahn geleitet wurde, sowie etliche Wissenschaftler des Luft- und Raumfahrtunternehmens SpaceWork Enterprises, welche für die NASA an einem Projekt namens Torpor Inducing Transfer Habitat For Human Stasis To Mars arbeiten.

Nutzen auch für die Medizin
Dabei steht mittlerweile fest, dass es möglich ist, den Torpor durch die Stimulation bestimmter Hirnareale künstlich zu erzeugen. So konnten die Forscher bereits Mäuse, die normalerweise keinen Winterschlaf halten, in einen solchen versetzen. Als praktikabel erwiesen sich dabei zwei Methoden, nämlich der Einsatz von genau fokussiertem Ultraschall und die Verabreichung von Medikamenten wie GABA-Rezeptorantagonisten, also Proteinen, die an der Steuerung der Muskelspannung oder -entspannung mitwirken. Möglich sind außerdem verschiedene chemische Kombinationen mit dem Schlafhormon Melatonin.

Derartige Experimente wurden aus ethischen Gründen bislang nur an Kleintieren durchgeführt, und der nächste Schritt wäre dann zunächst der Einbezug von Schweinen, die dem Menschen physiologisch relativ ähnlich sind. Dann müsste auch untersucht werden, wie man den Restenergiebedarf der Astronauten im Torpor decken kann.

Die US-Amerikaner setzen hier auf künstliche Ernährung beziehungsweise einen Wechsel von Torpor- und Wachphasen im 14-Tage-Rhythmus, damit die Astronauten nicht langsam im Schlaf verhungern. Dahingegen wird bei der ESA das Bärenmodell favorisiert. Das läuft darauf hinaus, die Marsreisenden mit möglichst viel Unterhautfett loszuschicken. In diesem Zusammenhang warf Bereiter-Hahn die Frage auf, ob Frauen nicht die besseren Kandidaten für die Eroberung des Roten Planeten wären, weil sie oftmals mehr Unterhautfettgewebe besitzen als Männer.

Um solchen und anderen Dingen nachzugehen, bedarf es erheblicher finanzieller Mittel. Laut Bereiter-Hahn würde eine angemessene Förderung dazu führen, dass man in etwa zehn Jahren über ausreichende Erkenntnisse über die bislang noch ungelösten Problemkomplexe verfügte.

In diesem Zusammenhang wies er auch auf den Nutzen der Torpor-Forschung für die irdische Medizin hin. Das Wissen über den „Winterschlaf“ beim Menschen sei dazu geeignet, die Intensiv- und Transplantationsmedizin sowie die Krebsbekämpfung in entscheidender Weise voranzubringen. Insofern wäre es grundfalsch, das Ganze als Geldverschwendung zu betrachten, von der nur die Raumfahrt profitiere.


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