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Verteidigung

Kampftruppe oder Heilsarmee?

Seit Jahren gilt die Bundeswehr als Sanierungsfall. Der jüngste Bericht des Wehrbeauftragten zeigt, dass dieser Zustand kein bloßes Missgeschick ist, sondern vielmehr das Ergebnis von langer Ignoranz und Vernachlässigung

Josef Kraus
20.02.2020

Der jüngste, an Offenheit nicht zu überbietende und mutige Jahresbericht des Wehrbeauftragten Hans-Peter-Bartels (SPD) hat es in sich. Denn der Bericht wurde zu einem vernichtenden Zeugnis für die fast sechsjährige Amtszeit einer Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen und einer bislang 14-jährigen Amtszeit einer Kanzlerin Angela Merkel.

Gewiss hat der in weiten Bereichen desaströse Zustand der Bundeswehr nicht nur mit mangelndem Geld zu tun. Klar, die Bundeswehr ist unterfinanziert. Denn von der seit dem Prager NATO-Gipfel 2002 geltenden Vereinbarung, dass jedes NATO-Mitglied einen zweiprozentigen Anteil des Bruttoinlandsprodukts (BIP) für Verteidigung ausgeben soll, ist Deutschland mit gerade eben 1,38 Prozent weit entfernt. Folge der Unterfinanzierung sind fehlende Ersatzteilbevorratung und fehlende Wartungsverträge. Folge davon wiederum ist die zum Teil lächerlich geringe Einsatzfähigkeit von Fluggeräten und Fahrzeugen inklusive Panzern und Schiffen. Aber es liegt nicht nur am mangelnden Geld: Nein, es liegt auch, wie Bartels es formuliert, am „Bürokratiemonster“ Bundeswehr, das in der Beschaffung schwerfällig ist und Dinge beschafft, die völlig unnötig sind: zum Beispiel – auf Geheiß von der Leyens – Schwangerenuniformen für schwangere Soldatinnen. Von den zweckentfremdeten, mindestens 200 Millionen, die von der Leyen für externe Berater ausgegeben hat, ganz zu schweigen.

Personal- und Materiallage

Insgesamt sind bei der Bundeswehr 21 000 Dienstposten nicht besetzt (die Truppenstärke liegt bei 183 000.) Das hat zu erheblichen Teilen mit der Aussetzung der Wehrpflicht zu tun – 2010/2011 inszeniert von einem Verteidigungsminister Karl-Theodor zu Guttenberg sowie den Parteivorsitzenden Merkel (CDU) und Seehofer (CSU). Es fehlt schlicht und einfach an Nachwuchs, der sich zu Zeiten der Wehrpflicht zu zwei Dritteln aus zuvor Wehrpflichtigen rekrutierte, die sich den „Laden Bundeswehr“ erst einmal anschauen wollten. Ein dramatischer Rückgang der Zahlen der Schulabgänger kommt hinzu. Die sogenannten „Freiwillig Wehrdienstleistenden“ vermögen diese Engpässe nicht auszugleichen. In handfesten Zahlen: 7642 haben diesen Dienst 2019 aufgenommen. Vor diesem Hintergrund sind alle Planungen, die von 12 500 einzuplanenden freiwillig Wehrdienstleistenden ausgehen, illusionär. Wenn dann eine Verteidigungsministerin von der Leyen, wie 2017 geschehen, der Truppe pauschal auch noch ein Haltungsproblem vorhält und „Säuberungs- und Reinigungsprozesse“ in der Bundeswehr anordnet, dann muss man sich nicht wundern, wenn sich immer weniger Leute auf die Bundeswehr einlassen.

Dass die Bundeswehr obendrein auch bezüglich Gehalt nicht mit der freien Wirtschaft mithalten kann, kommt hinzu. Es wirkt sich dies vor allem im Bereich des 2017 neu eingerichteten Organisationsbereichs Cyber- und Informationsraum (CIR) aus. Dieser Bereich sollte eigentlich mit insgesamt 14 500 alten und neuen Dienstposten ausgestattet sein. Mehr noch: Der Kampfjet Tornado hat nur 88 Prozent, der Eurofighter nur 80 Prozent der für das jeweilige Kampfflugzeug notwendigen Flugzeugführer. Beim Transporter A400M sind es 83 Prozent. Bei den diversen Hubschraubern der Luftwaffe sind nur 70 Prozent, beim Heer 74 Prozent besetzt, konkret beim Tiger 82 Prozent, beim Transporthubschrauber NH-90 gerade eben 59 Prozent. Bei den Hubschrauberpiloten der Marine beträgt das Ist 69 Prozent.

Und wie sieht es mit dem „Material“ aus? Ende 2018 war zeitweise keines der sechs U-Boote der 212A-Klasse fahrbereit; beim ADAC mussten 6500 Flugstunden angemietet werden, um Fluglizenzen von Bundeswehrpiloten zu erhalten; von den 128 Eurofightern waren kaum mehr als vier ohne jede Einschränkung einsatzfähig; von 53 Hubschraubern des Typs Tiger waren regelmäßig nur zwölf voll einsatzfähig, phasenweise mussten alle stillgelegt werden; von den Transporthubschraubern CH-53 waren nur 16 von 72, vom (neuen!) Transportflieger A400M gerade mal drei von 30, von den Fregatten fünf von 13 und von den Leo-II-Panzern 105 von 244 voll einsatzfähig. Die Flugbereitschaft der Bundesregierung schaffte es nicht immer, einen Bundespräsidenten oder eine Kanzlerin rechtzeitig ans Ziel zu bringen; deutsche Soldaten in Afghanistan mussten zivile, ungepanzerte Hubschrauber anmieten; von den 284 neuen Schützenpanzern Puma ist nur ein Viertel einsatzbereit, brandneue Puma müssen, um überhaupt einsetzbar zu sein, noch einmal für viel Geld nachgerüstet werden. Es ist zudem Faktum, dass die Industrie Systeme abliefert, die nicht einsatzreif oder truppenverwendungsfähig sind. Das beste aktuelle Beispiel sind die Sealion Hubschrauber für die Marine, die ohne brauchbare Dokumentation ausgeliefert wurden und nun herumstehen, bis der Hersteller die erforderlichen Wartungsvorschriften nachgeliefert hat.

Dass es zudem oft lange Bürokratiejahre dauert, bis die Soldaten neue Winterkleidung, neue Skier, neue Unterwäsche, neue Stiefel, neue Zelte, neue Nachtsichtgeräte usw. bekommen, ist ebenfalls bekannt. Der Wehrbeauftragte Bartels schreibt dazu in seinem 2019er Bericht wörtlich: „Das meiste, was unsere Streitkräfte an Ausrüstung brauchen, vom Rucksack bis zum leichten Verbindungshubschrauber, muss nicht immer wieder erst in umständlichen ‚funktionalen Fähigkeits-Forderungen' abstrakt definiert, dann europaweit ausgeschrieben, neu erfunden, vergeben, getestet, zertifiziert und schließlich in kleinen Tranchen über 15 Jahre hinweg in die Bundeswehr ‚eingeführt' werden. Man kann es auch einfach kaufen ... hin zum IKEA-Prinzip: aussuchen, bezahlen und mitnehmen!“ Und der besondere Hammer, hier wörtlich aus dem Bartels-Bericht zitiert: „Nach wie vor ist es ein Trugschluss zu glauben, jeder Soldatin und jedem Soldaten stünden in der Kaserne ein Bett und ein Spind zur Verfügung.“ Kommentar überflüssig! Der Vorwurf des Wehrbeauftragten Bartels, dass die Bundeswehr ein schwerfälliges Bürokratiemonster sei, trifft den Kern des Problems.

Wer schafft die Wende?

All diese Probleme sind nicht von heute auf morgen entstanden, die Ursachen dafür liegen zum Teil Jahre, wenn nicht Jahrzehnte zurück. Der naive, typisch deutsche Pazifismus, zu dem sich die Deutschen haben erziehen lassen und zu dem sie sich selbst erzogen haben, spielt eine Rolle. Der Glaube, seit 1990 nur noch von Freunden umgeben zu sein, ferner die populistische Milchmädchenrechnung, sich qua „Friedensdividende“ sozialpolitische Wohltaten leisten zu können, spielen ebenfalls eine Rolle. Immerhin wurde eine 500 000-Mann-Armee des Jahres 1990 bis dato auf 183 000 „Mann“ (davon rund elf Prozent Frauen) abgespeckt.

So darf und kann es nicht weitergehen: im Interesse der Verteidigungsfähigkeit Deutschlands, im Interesse der NATO-Bündnisverpflichtungen, im Interesse der Truppe. Die erst seit einem Halbjahr im Amt befindliche neue Verteidigungsministerin Annegret Kramp-Karrenbauer (AKK) ist gewiss nicht zu beneiden. Sie hat ein Desaster ihrer Vorgängerin von der Leyen, die sich nach Brüssel absetzte, aufzuarbeiten. Und sie hat eine Regierungschefin über sich, die noch 2018 bei einer Bundeswehrtagung naiv bekundete: „Habe auch nicht sofort verstanden, wie viel Aufwand die Landes- und Bündnispolitik erfordern.“ Oje, diese Kanzlerin ist seit 2005 laut Grundgesetz im Kriegsfall Oberbefehlshaberin. Einer Angela Merkel scheint die Bundeswehr schlicht und einfach egal zu sein. Dass sie als CDU-Vorsitzende Koalitionsverträge mitmachte, in denen sich – wie im März 2018 – auf insgesamt 177 Seiten ganze drei Seiten zum Thema Bundeswehr finden, spricht für sich. Vom abgrundtiefen Desinteresse Merkels in Sachen Bundeswehr zeugt auch die Berufung einer Ursula von der Leyen (UvdL) auf den Posten der Verteidigungsministerin. Immerhin fünfeinhalb Jahre konnte „UvdL“ dort ihr Unwesen treiben, sodass die Bundeswehr noch nie so schwach auf der Brust war wie aktuell.

AKK nimmt ihre Aufgabe jedenfalls durchaus beherzt an. Weil sie den CDU-Vorsitz aufgeben will, hat sie mehr Energie für ihre Ministeraufgabe. Die Frage ist allerdings, wie lange sie als Verteidigungsministerin noch Zeit hat. Sollte es vorgezogene Neuwahlen geben, kann sich ihre Amtszeit als Ministerin rasch verkürzen. Und selbst wenn die Legislaturperiode regulär bis Herbst 2021 dauert, ist das zu wenig Zeit. Im Moment jedenfalls ist anzuerkennen, dass sie soeben eine „Initiative Einsatzbereitschaft“ ins Leben gerufen hat. Sie will, dass die Bundeswehr zu mehr als 70 Prozent einsatzfähig ist. Gut so, denn es ist mehr als peinlich, wenn Deutschland als wirtschaftsstärkstes Land Europas NATO-Anfragen zu einem verstärkten militärischen Einsatz an der Straße von Hormus oder in Mali ständig zurückweisen muss. AKK will auch Schluss machen mit der Praxis ihrer Vorgängerin, ständig, inflationär und sündteuer „externen Sachverstand“ zu bemühen. Und sie will das überzentralisierte, schwerfällige Beschaffungswesen dezentralisieren. Bleibt zu hoffen, dass ihr die Groko folgt und die (Noch-)Regierungschefin den Rücken stärkt. Sonst ist die Bundeswehr keine Kampftruppe mehr für Landesverteidigung und internationale Einsätze, sondern eine überteuerte Heilsarmee.

Josef Kraus war von 1987 bis 2017 Präsident des Deutschen Lehrerverbandes und von 1991 bis 2014 Mitglied im Beirat für Fragen der Inneren Führung des Bundesministers der Verteidigung. Zuletzt erschien „Nicht einmal bedingt abwehrbereit. Die Bundeswehr zwischen Elitetruppe und Reformruine“ (FinanzBuch Verlag 2019).

 


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