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Die Wiederentdeckung der mittelalterlichen Esskultur des Deutschen Ordens und neuzeitlicher westpreußischer Lebkuchenrezepturen im heutigen Polen
Wussten Sie, lieber Leser, liebe Leserin, wissen es Deutschlands Köchinnen und Köche, dass es ein Kochbuch des Deutschen Ordens gibt? Das meint jedenfalls die wissenschaftliche Forschung, die ein früher im Königsberger Staatsarchiv befindliches und heute im Geheimen Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz in Berlin aufbewahrtes Manuskript mit 33 Rezepten im Umkreis der Hochmeisterresidenz ansiedelt und in die zweite Hälfte des 15. Jahrhunderts datiert. Damit wären wir in der Epoche des schleichenden Niedergangs der Ordensmacht, als sich deutsch geprägte Bürger- und Hansestädte wie Danzig, Thorn, Culm, Graudenz und Königsberg im Preußischen Bund gegen die Steuerpolitik des Ordens mit polnischen Königen verbündeten.
Wer jedoch erwartet, eins zu eins in diesem sogenannten Königsberger Kochbuch die Vorläufer der Kochvorschriften für Keilchen oder eben Klopse wiederzufinden, wird freilich getäuscht. Dazu ist die Kluft der Zeiten zu groß, dazu wurde im Mittelalter zu anders gekocht. Und vor allem nur Ausgefallenes und nicht die Alltagsküche des Aufschreibens wert erachtet. Dazu kommt noch, dass nicht wenige Ordensritter ursprünglich landfremd waren und westlichen Reichsgebieten entstammten.
Ein Kochbuch des Deutschen Ordens
So wundert es nicht, dass einige Rezepte der Ordensküche einfach internationale spätgotische Kochmoden widerspiegeln. Schöne Beispiele dafür sind eine Schachbrettsülze in den Farben Weiß, Gelb und Petersilgrün oder ein Klassiker der Staunküche: Angekochte Eier werden mit einem winzigen Löchlein angebohrt, das Dotter herausgesaugt, mit Kräutern vermengt und wieder in die Schale gefüllt – trotz modernster Küchengeräte extrem kompliziert nachzumachen. Etwas leichter tut man sich da mit den ausgehöhlten Apfelvierteln, die mit buntgefärbtem Dotter gefüllt und durch Straubenteig gezogen werden. Die Anleitung „Wan du sie gebeckst, so schneid sie uff und bestriß mytt Zucker“ konnte allerdings ziemlich teuer werden. Rübenzucker gabs damals noch nicht, und der aus dem Orient oder über die Hanse von der portugiesischen Insel Madeira importierte Rohrzucker war ein echtes Luxusprodukt.
In einem Ordenskochbuch mussten natürlich auch fleischfreie Leckereien stehen: Amüsant ist das Rezept für „geprest Sweinßkopff“. Die Schweinskopfsülze, vom Danziger Nobelpreisträger Günter Grass in einem Gedicht als typisch gewürdigt, sollte in der Fastenzeit als Ersatzprodukt aus Aspik von Karpfen, Schleien und Barben fabriziert werden.
Gewürze aus dem Orient
Nicht alles klingt exotisch und aus der Zeit gefallen. So manches hat sich in der Region, die der Orden einst beherrschte, gehalten. Das eingemachte Kraut wird mit Kümmel gewürzt – eine Kombination, die heute typisch für das polnische Krautfleisch Bigos ist, aber auch in masurischen Sauerkrautsuppen vertraut klingt. Einen typischen Speisefisch verarbeitet das Rezept für mit Salbei gewürzten Aal. Und der „gelbe“ safrangewürzte Hecht taucht mehrmals im „Compendium Ferculorum“ auf, dem trotz seines lateinischen Titels ältesten polnischen Kochbuch, das 1682 in Krakau gedruckt wurde. Kleine Anekdote am Rande: Noch 1987 wurde von der DDR „Hecht mit Safran“ als „Rezept aus Polen“ angepriesen – für die Färbung war Pulversafran vorgesehen.
Echter Safran war teuer, ja, sehr teuer, als das Deutschordenskochbuch aufgeschrieben wurde. Demonstrativer Gewürzluxus mit reichlich Zimt, Muskatnuss und Ingwer war europaweit angesagt unter denen, die es sich leisten konnten. Und doch dürfte der Deutsche Orden eine besonders privilegierte Beziehung zu Gewürzen gehabt haben. Schließlich wurde diese Hospiz- und Rittergemeinschaft nicht im südlichen Ostseeraum gegründet, sondern in Jerusalem – also im gewürzreichen Orient. Nach der Eroberung der letzten Kreuzritterfestung im Heiligen Land verlegte der Großmeister 1291 seinen Sitz nach Venedig. Damit wurde der Orden bis 1309, als Großmeister Siegfried von Feuchtwangen die Marienburg zur neuen Zentrale erkor, von der damaligen Metropole des europäischen Gewürzhandels aus regiert.
Vor diesem Hintergrund wundert es nicht, dass in dem Manuskript vier Mal eine weihnachtliche Spezialität auftaucht: Lebkuchen wurden in Europa zuerst dort gebacken, wo orientalischer Gewürzimport auf genug Honig trifft. Der waldreiche Ostseeraum, wo der Orden streng die Bienenhaltung kontrollierte, war ein Paradebeispiel. Über Danzig wurden riesige Posten von Wachs und Honig exportiert, in den Ordensburgen gab es dafür eigene Honigspeicher.
Honigsüße Pfefferkuchen
Eine faszinierende kulinarische Zeitreise tut sich auf: Von den orientalischen Gewürzkuchen der Kreuzzüge führt ein Inspirationsstrang bis zu den heutigen polnischen Supermärkten. Die honigsüßen Pfefferkuchen aus der Ordens- und später Hansestadt Thorn waren im Barock heißbegehrt – ein „Eyecatcher“, der bis an den Zaren- und Kaiserhof geliefert wurde, waren mit buntem Zuckerguss verzierte bis zu zwei Meter große Herrscherporträts aus hartem Honigbrot.
Frédéric Chopin, der in einem Jugendbrief von den Thorner Lebkuchen schwärmte, dürfte wohl an der volkstümlicheren Variante, sprich den berühmten Thorner Kathrinchen, geknabbert haben. Diese Pfefferkuchen tragen ihren Namen daher, dass sie ursprünglich am Katharinentag, dem 25. November, gebacken wurden. Ein echter Ausweis westpreußischer Identität ist der Besitz einer Kathrinchenform – manche Heimatvertriebe ließen sich von westdeutschen Klemptnern extra eine spengeln. Kathrinchen werden in der Form sechs ineinander verschlungener Kreise ausgestochen – eine Anspielung an das Marterrad der heiligen Nothelferin.
Es war einmal ... seien wir ehrlich: Heute sind Thorner Kathrinchen für die meisten Landsleute eine märchenhafte Legende, kaum nachgebacken in Deutschland. Das mag auch daran liegen, dass der schlichte, süße Honigkuchengeschmack etwas aus der Zeit gefallen ist, dass nussreiche schokoglasierte Elisen ihnen den Rang abgelaufen haben. Die Vollkorn-Bäckerei Effenberger in Bremen und Hamburg, die noch nach Danziger Rezept nur mit Honig gesüßte Kathrinchen bäckt, hat darauf reagiert. Ihre unorthodox rechteckigen Dinkel-Roggen-Kathrinchen sind mit Mandeln verziert.
Wenn man das heutige polnische Kapitel dieses Esstransfers aufschlägt, stellt man fest, dass die Lebkuchenstadt Toruń immer noch im Banne der Kathrinchen steht. Sogar das örtliche Frauenbasketballteam nennt sich einfach „Katarzynki“. Und in gleich zwei Lebkuchenmuseen dürfen sich Touristen an die Weihnachtsbäckerei wagen. Die 1763 gegründete Lebzelterei Johann Weese heißt jetzt nach dem größten Sohn der Stadt „Kopernik“ und verkauft neben „Katarzynki“, die auch in Deutschland in polnischen Supermärkten ausliegen, einen extrem scharfen wahren „Pfefferkuchen“, der nach Ingwer, Piment und Muskatnuss duftet und Saucen eine spannend pikante Note verleiht.
Wiederentdeckung historischer Geschmacksgemeinschaften
Während bei uns die Küche des historischen deutschen Ostens ein Schattendasein führt, werden in Polen historische Geschmacksgemeinschaften gerade wiederentdeckt. Nach dem Ende der sozialistischen Mangelküche hat nicht nur eine Beschäftigung mit der altpolnischen Magnatenküche des Barocks, die bis heute eine Rolle in der französischen Hochküche spielt, eingesetzt, sondern auch mit dem Deutschordenskochbuch.
Wer in den letzten zehn Jahren vor Corona die Marienburg besuchte, konnte im „Gothic Restaurant“ unter Gewölben auf Gault-Millau-Niveau tafeln. Der weltoffene Chef Bogdan Gałązka, der seine Ausbildung in New York abschloss, tischte nicht nur barocke Adelsrezepte auf, sondern ließ sich vom Genius loci inspirieren, sich tief in die kulinarische Vergangenheit einzuarbeiten. In seinem Kochbuch „Smak Gothicu“ (Deutsch: „Der Geschmack der Gothik“) finden sich bewusst Deutschordensrezepte wie das in Pfefferkuchen-Marinade gebratene und mit Nelken gespickte „Schwarze Huhn“.
Kulinarische Archäologie zum Nachschmecken betreibt auch die Kopernikus-Universität in Thorn. Unter wissenschaftlicher Ägide des Historik-Professors Jarosław Dumanowski wurde die „salsenn von Letzeltenn“ nachgeköchelt und als „Sos Krzyżacki“ (zu Deutsch: „Kreuzrittersoße“) etikettiert.
Vom Feindbild zum Gütesiegel
Ein frischer, innovativer Zugang zur Geschichte. Denn bei dem Wort „Krzyżacy“ drängen sich in Polen zwei klassische Assoziationen auf, die eher das Feindbild Deutscher Orden widerspiegeln. Sowohl der Roman „Krzyżacy“ („Die Kreuzritter“) des Literaturnobelpreisträgers Henryk Sienkiewicz von 1900 als auch das riesige Gemälde von Jan Matejko, das 1878 die Niederlage der Kreuzritter in der Schlacht von Tannenberg bzw. Grunwald zeigt, entstanden während der Kultur- und Nationalitätenkämpfe nach der Gründung des Kaiserreichs.
Doch wer heute als Pole neugierig „Kreuzrittersauce“ löffelt, zeigt nicht nur, dass er bereit ist zum kulinarischen Dialog, sondern dass er souverän genug denkt, die Epoche des Deutschen Ordens auch als Teil der polnischen Geschichte und Identität zu akzeptieren und kulturelle Gemeinsamkeiten statt historischer Kränkungen herauszuarbeiten.
• Dr. Peter Peter ist Kulturhistoriker und Autor für die Themen Kulinarik und Reise. Er lehrt Gastrosophie an der Universität Salzburg und ist Mitglied der Deutschen Akademie für Kulinaristik. Er schreibt unter anderem für die „Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung“. Zu seinen vielfach ausgezeichneten Büchern gehören „Kulturgeschichte der deutschen Küche“ (2008) und „Kulturgeschichte der österreichischen Küche“ (2013, beide C.H.Beck Verlag).
www.pietropietro.de