09.10.2025

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„Voll kleiner Illoyalitäten und Intrigelchen“: Conrad Ferdinand Meyer
Bild: akg-images„Voll kleiner Illoyalitäten und Intrigelchen“: Conrad Ferdinand Meyer

Geschichte

Kein Sinn fürs „Lumpenvolk“

Vor 200 Jahren kam Conrad Ferdinand Meyer auf die Welt – Mit historischen Novellen wurde er zum Klassiker des Realismus

Harald Tews
09.10.2025

Mit der deutschen Reichsgründung ging auch der Stern von Conrad Ferdinand Meyer auf. Vor dem Hintergrund des patriotischen Überschwangs bei der Entstehung des deutschen Nationalstaats gelang ihm 1871 mit seinem Erstling, dem Versepos „Huttens letzte Tage“, eine Punktlandung. Der Kampf des bei Meyer im Sterben liegenden Humanisten Hutten gegen die römische Kirche und sein Traum von einem starken Kaisertum stießen im gerade erschaffenen deutschen Kaiserreich naturgemäß auf fruchtbaren Boden. Zwar spielt die Handlung im ausgehenden Mittelalter, aber man las sie als Fabel der Neuzeit.

Meyer besaß zwar große Sympathien für die Politik Bismarcks, doch als Schweizer Bürger lag es nicht in seiner Absicht, eine Lobeshymne auf das Deutsche Reich zu dichten. Sein Hutten-Epos war eher der Versuch einer Selbstbefreiung. Hinter der Maske des beichtenden Hutten steckt der Autor selbst, der nach einer langen Phase fruchtloser Existenz alle familiären Fesseln von sich wortreich abstreifte und Regent über sein eigenes kleines literarisches Herrschaftsreich wurde.

Meyer war bereits Mitte Vierzig, als seine Debüt-Erzählung erschien, mit der er dann auch zusammen mit seinen späteren historischen Novellen sowie – vor allem – dem Roman „Jürg Jenatsch“ den Rang eines deutschsprachigen Klassikers einnehmen sollte. Davor hatte er im Eigenverlag einige Gedichtsammlungen veröffentlicht, die aber unbeachtet blieben. Und ein unbeachteter gescheiterter Autor wäre er wohl geblieben, wenn seine Mutter weiter über ihn gerichtet und ihn als gottlosen Versager bezeichnet hätte. Sie aber wählte 1856 den Freitod.

Die pietistische Frömmigkeit seiner Mutter brachte Meyer selbst an den Rand des Wahnsinns. 1852/53 hielt er sich ein halbes Jahr lang in der psychiatrischen Heilanstalt Préfagier auf, aus der er seelisch gefestigt wieder in die Züricher Oberschicht, in die er am 11. Oktober 1825 hineingeboren worden war, zurückkehrte. Sein Vater starb, als C. F. Meyer 15 Jahre alt war. Danach hatte er nur noch seine jüngere Schwester Betsy, die ihm Halt gab und nach dem Tod der Mutter zu Bildungsreisen nach Italien sowie Frankreich und ihn zum Dichten anspornte.

Zwei Jahrzehnte lang lebte er eheähnlich mit Betsy zusammen, was in der Welt der Züricher Patrizier nicht nur für Klatsch und Tratsch sorgte, sondern auch dafür, dass Meyer erst als 50-Jähriger „eine Million geheiratet hat“, wie es sein Schweizer Kollege Gottfried Keller neidvoll ausdrückte: Er ging eine standesgemäße Ehe mit einer reichen Züricherin ein.

Keller hatte im Übrigen keine gute Meinung von Meyer. In einem Brief an Theodor Storm nörgelte der Autor des Romans „Der grüne Heinrich“, dass er für ihn zum persönlichen Verkehr nicht geeignet sei, weil Meyer „voll kleiner Illoyalitäten und Intrigelchen steckt“. Anders als Keller, der seine Gabe „an niedrige Stoffe, an allerlei Lumpenvolk“ verschwende, würde Meyer nur mit der Historie arbeiten, dafür könne er „nur Könige, Feldherren und Helden brauchen“.

Hauptwerk „Jürg Jenatsch“
In Meyers Novellen besteht die Kulisse tatsächlich aus der feudalen Welt des Mittelalters („Der Heilige“ über Thomas Becket, „Die Richterin“), der Renaissance („Plautus im Nonnenkloster“, „Die Hochzeit des Mönchs“, „Die Versuchung des Pescara“, „Angela Borgia“), der Hugenottenkriege („Das Amulett“), des Dreißigjährigen Kriegs („Jürg Jenatsch“, „Der Schuß von der Kanzel“, „Gustav Adolfs Page“) oder der Zeit Ludwigs XIV. („Das Leiden eines Knaben“). Bemerkenswert ist, dass man Meyer mit seinen historischen Werken stilistisch dem literarischen Realismus zuordnet. Andere große realistische Autoren wie Balzac und Flaubert in Frankreich, Dickens in England, Tolstoi und Dostojewski in Russland, Fontane in Deutschland und selbst Keller in der Schweiz haben sich hingegen eher zeitgenössischen Themen – um nicht zu sagen: der gesellschaftlichen Realität – gewidmet.

Die Realität wird in Meyers Werken dennoch nicht ausgeblendet. Weil sich Meyer in seinen historischen Figuren selbst spiegelt, könnte man von einer inneren, einer psychologischen Wirklichkeit sprechen, die ihn auf eine Stufe stellt mit den beiden anderen großen Schweizer Klassikern des 19. Jahrhunderts: den volkstümlichen Jeremias Gotthelf („Die schwarze Spinne“) und Meyers Intimfeind Gottfried Keller.

All die Ambivalenzen, Minderwertigkeitskomplexe und religiösen Widersprüchlichkeiten, die Meyer prägten, finden sich auch in seinen Werken. In seiner Erstlingsnovelle „Das Amulett“ (1873) entdeckt man den religiösen Fanatismus, dem sich Meyer in der Familie ausgesetzt sah. Hier ist es ein Schweizer Protestant, der in Frankreich nach der Bartholomäusnacht ausgerechnet von einem Katholiken vor dem Tod bewahrt wird. Solche Paradoxien bilden das Spannungsgerüst aller seiner Werke. Im Hauptwerk „Jürg Jenatsch“ wechselt die historische Gestalt des „Retters Graubündens“ die Seiten von den Franzosen zu den Habsburgern, um seine Heimat letztlich von beiden Mächten zu befreien, wobei er dafür mit dem Tod bestraft wird.

Autobiographische Züge kann man auch in „Die Richterin“ entdecken, in der sich die Hauptfigur – wie Meyers Mutter – selbst richtet und in der es um ein scheinbar inzestuöses Verhältnis zwischen Tochter und Sohn geht. Betsy lässt aus der Ferne grüßen. „Wenn du ledig bleibst, so will ich mir ein ruhiges Leben an deiner Seite als die größte Seligkeit ausgebeten und bestellt haben“, träumte Meyer in einem Brief an sie.

Keine Frage: Meyer muss unbedingt wieder mehr gelesen werden. Der Schweizer Germanist Philipp Theisohn versucht uns mit einer neuen Biographie diesen 1898 gestorbenen Klassiker wieder näherzubringen, den wir zwischenzeitlich leider ein wenig aus den Augen verloren haben.

Philipp Theisohn, Conrad Ferdinand Meyer: Schatten eines Jahrhunderts. Biografie, Wallstein Verlag, Göttingen 2025, 543 Seiten, 38 Euro,

C. F. Meyer, Der Heilige, (Hg. von Philipp Theison), Reclam Verlag, Stuttgart 2025, 204 Seiten, 6 Euro
C. F. Meyer, Das Amulett, (Hg. von Alexander Honold), Reclam Verlag, Stuttgart 2025, 111 Seiten, 4,40 Euro


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