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Politik

Konsequenzen aus dem Fall Alexej Nawalnyj

Der Tod des russischen Dissidenten erregt zu Recht die Gemüter. Doch auch im Westen gibt es Fälle zweifelhaften Umgangs mit unliebsamen Journalisten

René Nehring
22.02.2024

Dieser Tod hätte nicht geschehen dürfen. Als vergangenen Freitagmittag die Nachricht vom Ableben des russischen Bloggers und Aktivisten Alexej Nawalnyj die Medien erreichte, stellte sich angesichts des Alters von nur 47 Jahren umgehend die Frage nach der Todesursache. Je nach Einstellung zum regierenden Regime in Moskau überwogen zwei Deutungen: zum einen die Annahme, dass Nawalnyj ohne Fremdeinwirkung an den Folgen seiner Haft gestorben sei, zum anderen die Mutmaßung, dass der Inhaftierte auf höheres Geheiß hin ermordet wurde.

Für beide Möglichkeiten gibt es plausible Indizien: für die erste, dass Nawalnyj seit seiner Inhaftierung für den Kreml ungefährlich war, für die zweite der zeitliche Ablauf – dass nämlich die Todesnachricht in dem Moment die Runde machte, in dem der ukrainische Präsident Selenskyj in Berlin weilte, um eine Sicherheitsvereinbarung mit Deutschland (und anschließend mit Frankreich) zu unterzeichnen, die die Ukraine weiter an den Westen heranrückt. Hinzu kommt, dass zum gleichen Zeitpunkt Nawalnyjs Frau Julia auf der Münchner Sicherheitskonferenz weilte, um dort an das Schicksal ihres Mannes zu erinnern. Demnach wäre Nawalnyjs Tod eine Botschaft des Kreml an den Westen, nach dem Motto: „Wenn ihr uns zu nahe kommt, rächen wir uns an euren Verbündeten.“

Die Verantwortung liegt beim Kreml
Selbstverständlich sind dies keine Beweise, doch werfen nicht zuletzt die von Medien gezeigten, mutmaßlich am Vortag entstandenen Bilder, die einen zwar abgemagerten, doch agilen Nawalnyj zeigen, Fragen auf, warum der dort zu sehende Mann kurz darauf aus dem Leben schied. Verdächtig ist nicht zuletzt das Verhalten der russischen Strafverfolgungsbehörden, die bis dato die Herausgabe des Leichnams an die Familie verweigerten.

Letztendlich geht der Tod des Kremlkritikers so oder so auf das Konto der Moskauer Führung. Ein Staat, der einen Menschen für eine bestimmte Anzahl von Jahren einsperrt, hat die Pflicht, diesen Menschen nach Verbüßung seiner Strafe freizulassen – und ist bis dahin für die Gesundheit des Inhaftierten verantwortlich. Es ist vor allem dieser Aspekt des Falls Nawalnyj, mit dem das Russland von heute sogar hinter die Sowjetunion nach Stalin zurückfällt. Diese ging weiß Gott nicht zimperlich mit Dissidenten wie Wladimir Bukowskij, Andrej Sacharow, Natan Scharanski oder Alexander Solschenizyn um – doch überlebten diese ihre Haft in den Kerkern des Archipel Gulag.

Ein schwerer Schlag ist Nawalnyjs Tod auch für jene im Westen, die – aus familiären, ökonomischen, humanitären oder einfach nur realpolitischen Gründen – trotz des Ukrainekriegs dafür plädierten, nicht alle Bindungen nach Russland zu kappen, und daran erinnerten, dass dieses Land zu groß und zu bedeutsam ist, um es auf Dauer ignorieren zu können. Nun steht zu befürchten, dass hierzulande künftig noch weniger zwischen dem Land und seiner politischen Führung unterschieden und jedes noch so gute Argument für die Aufrechterhaltung notwendiger Beziehungen zu einem Plädoyer für ein Regime umgedeutet werden dürfte, in dem politische Gefangene unter zweifelhaften Umständen zu Tode kommen.

Allerdings sollte sich niemand im Westen allzu sehr moralisch erheben. Just in diesen Tagen verhandelte ein Londoner Gericht über die Auslieferung des Journalisten und Aktivisten Julian Assange an die Vereinigten Staaten (der Ausgang war bis Redaktionsschluss nicht bekannt). Assange hatte im März 2010 auf der von ihm gegründeten Onlineplattform WikiLeaks geheime Dokumente des US-Militärs veröffentlicht, die zahlreiche amerikanische Kriegsverbrechen im Irak und in Afghanistan dokumentieren.

Kein Grund zur Erhebung im Westen
Die Anklage gegen Assange fordert ein Strafmaß von 175 Jahren auf der Grundlage des „Espionage Acts“ von 1917. Dieser wurde jedoch, wie der Name sagt, für Spionage zu Zeiten des Ersten Weltkriegs verabschiedet, nicht für Enthüllungsjournalismus. Weshalb denn auch Journalisten wie Bob Woodward, Seymour Hersh oder Carl Bernstein, die unter anderem die Pentagon-Papiere, das Massaker von My Lai oder den Watergate-Skandal aufdeckten, davon unbehelligt blieben. Doch obwohl im Falle Assange ein offenkundiger Rechtsbruch geplant ist – anders als die Whistleblower Bradley/Chelsea Manning und Edward Snowden hat er keine Dienstgeheimnisse verraten –, schweigt die westliche Öffentlichkeit weitgehend zu diesem Fall.

Noch stiller ist es um den amerikanischen prorussischen Blogger Gonzalo Lira. Dieser lebte seit 2012 in Charkiw und ergriff in seinen Beiträgen – auch nach der Eroberung der Krim 2014 – Partei für Russland. Daraufhin geriet er wiederholt in den Gewahrsam des ukrainischen Inlandsgeheimdienstes SBU. Seit Monaten verschwunden, meldeten im Januar dieses Jahres mehrere Medien den Tod Liras in einem ukrainischen Gefängnis oder Krankenhaus. Auch hier wäre es wünschenswert, dass westliche Medien und Politiker auf eine Aufklärung des Falles drängen, und sei es auch nur, um einen ungeheuren Verdacht aus der Welt zu schaffen gegen ein Land, das viele Stimmen eher heute als morgen in der westlichen Bündnisgemeinschaft sehen.

Doch nicht nur diese Fälle sollten den Westen zur Vorsicht mahnen, sondern auch die klassischen Gebote der Außenpolitik. Noch immer sitzen in russischen Gefängnissen zahlreiche politische Gefangene. Die Menschenrechtsorganisation Memorial Deutschland nannte Ende 2023 in einer Aufstellung die Zahl von 631, darunter die Journalisten Wladimir Kara-Mursa und Iwan Safronow, der Kommunalpolitiker Alexej Gorinow sowie der Menschenrechtsaktivist Oleg Orlow.

Ihrem Schicksal sollte fortan – neben dem generellen Bemühen, den Krieg zu beenden und alle Wege zu einem friedlicheren Miteinander zu suchen – die vermehrte Aufmerksamkeit der westlichen Öffentlichkeit gelten.


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Kommentare

Ralf Pöhling am 26.02.24, 17:29 Uhr

Wer den Apparat im Westen kennt, der fragt sich, mit welchem Recht eigentlich immer in Richtung Russland geschielt wird, wenn es um Whistleblower und/oder Widerständler gegen den Missbrauch des Staatsapparates geht. Hier ist das nämlich nicht anders. Auch in Deutschland nicht. Es passiert bloß nicht so offensichtlich. Während in eher frontal und direkt geführten Staaten wie Russland oder auch China offen gegen Oppositionelle agiert wird, passiert das bei uns tendenziell eher heimlich im Hintergrund. Das wissen viele deshalb einfach nicht. Wer hier unangenehm auffällt, weil er durch zu viel Offenheit die Machtverhältnisse bzw. den berühmten Filz in Gefahr bringt, der hat alsbald die Kameras in der Wohnung hängen, die dann diskreditierendes Material sammeln, mit denen die Leute dann erpresst und gefügig gemacht werden sollen. 99% derer, die das Problem schon an der Backe haben, merken es nicht einmal, weil das eben heimlich passiert. Und wenn sie dann irgendwann zu lautstark werden, dann bekommen Sie einen dezenten Hinweis, was da über sie vorliegt und wer das dann alles sehen wird, wenn sie nicht ihr Maul halten. Und wenn das nicht hilft, dann haben sie plötzlich einen Herzinfarkt oder einen Unfall. Nein, der Westen ist keinen Deut besser, wenn es darum geht, seine Machtverhältnisse gegen die Demokratie zu zementieren. Er ist bloß viel leiser dabei. Man frage sich doch mal, warum in der EU andauernd die Rede davon ist, dass man die Demokratie schützen müsse, obwohl hier regelmäßig Wahlen abgehalten werden. Aus einem einfachen Grund: + ist schon lange - und keiner hat's gemerkt. Wir haben gar keine Demokratie mehr hier im Westen. Und damit dieser Zustand so erhalten bleibt, wird dem Volk vorgegaukelt, es würde die Demokratie verlieren, wenn jemand anderes ans Ruder käme, wobei das ja eigentlich die Essenz der Demokratie ist dass auch mal jemand anderes ans Ruder kommen kann. Der Unterschied zwischen den frontalen Systemen im Osten und den Systemen im Westen ist nicht etwa, dass wir hier Demokratie hätten. Die haben wir hier nicht. Der Unterschied zwischen Ost und West ist, dass im Westen alle nur glauben, dass wir hier eine Demokratie haben. Nawalnys gibt es im Westen en masse. Von den meisten hört oder sieht man aber nichts, weil sie mundtot gemacht oder sogar still und heimlich aus dem Weg geräumt werden, bevor sie für das System zur wirklichen Gefahr werden. Wo das nicht so wirklich geklappt hat, ist bei der AfD. Die ist zu schnell groß geworden und hat den Filz personell einfach überfordert. U-Boote gibt es bei uns zwar mittlerweile zu viele, aber sie sind sehr gut zu erkennen. Ich gebe jetzt mal eine Gedankenanregung: Je mehr in der AfD Vertreter medial wirksam verfassungswidrige Sprüche raushauen, desto eher kann sie verboten werden. Ergo sind die, die am laufenden Meter solche Sprüche medial wirksam raushauen, mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit keine normalen Parteimitglieder. Wenn keine Beweise für eine Verfassungswidrigkeit vorliegen, muss man sie eben konstruieren. Wie passt das zusammen, dass eine Behörde, die sich Verfassungsschutz nennt, selbst die Verfassung bricht? Das geht nur dann, wenn der Verfassungsschutz in voller Absicht von seiner eigentlichen Aufgabe abgelenkt worden und zum Regierungsschutz mutiert ist. Und wie geht das? Durch politische Weisung von oben und politisch genehm platzierte Beamte an der Spitze, die sich nicht mehr darum kümmern den Verfassungfseind zu bekämpfen, sondern den politischen Feind im eigenen Land. Die Expertise dazu hat man sich nach Mauerfall geholt. Da hat der VS nämlich etliche Stasi Leute einfach übernommen. Was bei den Gerichten mit politisch platzierten Richtern schon lange der Fall ist, gilt natürlich auch für alle anderen Institutionen des Staatsapparates. Und leider auch für den Verfassungsschutz. Der einzige Grund, warum das hier noch nicht vollends in Richtung DDR und Stasi gekippt ist, ist der föderale Aufbau des VS. Es ist niemals in allen Bundesländern zeitgleich die selbe Partei am Ruder. Den VS bundesweit gleichzuschalten klappt deshalb nicht. Das bedeutet jedoch nicht, dass der VS eines Bundeslandes nicht in einem anderen Bundesland tätig werden kann, um dort alles durcheinander zu bringen. Hinzu kommt dabei noch etwas anderes: Wenn sich der VS wegen dieses Missbrauchs nicht mehr um seine eigentliche Hauptaufgabe kümmert, dann haben ausländische Agenten bei uns natürlich umso leichteres Spiel und steigen in das Chaos mit ein. Ich sage es schon lange: Unser Immunsystem hat ein Problem mit der Freund-Feind Erkennung und richtet sich gegen sich selbst. Das führt natürlich nicht nur zu einer Autoimmunerkrankung, sondern auch zu Sekundärinfektionen aus dem Ausland. Und die machen uns dann erst recht die Hölle heiß. Wir haben in Deutschland kein funktionierendes Immunsystem mehr. Weil der Verfassungsschutz nicht die Verfassung schützt, sondern genau die Interessen derer, die das dortige Spitzenpersonal platziert haben. Man kapert ein Land immer zuerst über seinen Sicherheitsapparat, weil der besondere Befugnisse und Methoden zur Hand hat.

Chris Benthe am 24.02.24, 18:54 Uhr

Nawalnyj war zutiefst zwielichtig und umstritten,.Wer sich mal unvoreingenommen informiert, wird erkennen, dass dieser Mann nicht das war, was der Westen aus ihm gemacht hatte, um Russland ideologisch zu überstrahlen. Es ist immer wieder erstaunlich, wie "Qualitätsjournalisten" gewisse Fakten schlicht ignorieren, zum Beispiel die extremistische Ausrichtung Nawalnyjs in Bezug auf Minderheiten. Ansonsten spielte er in der Opposition Russlands nie eine gewichtige Rolle. Warum wird das ignoriert ?

Wladimir Sarfenreiter am 24.02.24, 16:06 Uhr

Schön, dass der Beitrag an das furchtbare Elend von Julian Assange erinnert. Dieses menschenverachtende Einkerkern des Mannes, der auf die ungezähten Kriegsverbrechen der Amerikaner hinwies, sollte es im Westem jedem verbieten, mit dem Fingern auf Russland zu zeigen. Oder erinnern wir uns an Michael Ballweg, der die großen Querdenkerdemos gegen die Grundgesetzbrüche der Regierung in Deutschland organisierte: 10 Monate Haft in Stammheim ohne Grund und ohne Anklage. Erinnern wir uns an die polizeilichen Schlägertrupps, die unabhängige Wissenschaftler und Ärzte in den frühen Morgenstunden besuchten und bei diesen die Wohnungen auf den Kopf stellten als wären sie orientalische Drogenbarone. Erinnern wir uns an das Straflager Guantanamo der Amerikaner, wo auch heute noch gefoltert wird. Wer im Glashaus sitzt, der sollte beim Steinewerfen aufpassen. Um auf Nawalny einzugehen: Wer weiß schon, ob er zu recht oder zu unrecht einsaß? Wer weiß, warum er starb? Wohl kaum jemand. Was man aber weiß, ist, dass die politische Bedeutung dieses Mannes für Russland im Westen überbewertet wird. Wer kennt schon die Details seines Lbens und seiner politischen Aktivitäten? Für die Putin-Regierung war er zwar ein Oppositioneller, wie es viele gibt. Oppositonelle gibt es überall, auch in Deutschland. Als eine Gefahr für die gegenwärtigen russischen Machthaber wurde er wohl kaum angesehen. Warum also sollte man seine Tötung angeordnet haben, die doch voraussagbar einen antirussischen Propagandatsunami im Westen auslösen musste, was ja auch geschah? Und ihn töten zu lassen, um ein Zeichen der Entschlossenheit gegen den Westen zu setzen, erscheint doch weit hergeholt. Wie entschlossen Russland ist, den Beitritt der Ukraine in die NATO und die Stationierung amerikanischer Raketen auf ukrainischem Boden zu verhindern, hat Russland in den letzten Jahren ja wohl eindrücklich gezeigt. Da muss man nicht einen Inhaftierten töten lassen ...

E. Berger am 22.02.24, 20:07 Uhr

Gerade der Umstand, dass der Tod Nawalnys punktgenau zur Münchner Sicherheitskonferenz eintrat und seine Frau (die sich sonst in London vergnügt hat) mit verweinten Augen ebendort auftrat, müsste doch jedem zu denken geben.
Und der SBU hat ziemlich viele Möglichkeiten in Russland, wie der Mord an Darja Dugina und der Anschlag in St . Petersburg gezeigt haben.
Die zentrale Frage lautet also: Cui bono?
Für Putin ist Nawalnys Tod genauso nützlich wie der Abschuss von MH17.

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