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Hintergründe und Konsequenzen der jüngsten Ämterrochade an der Spitze des russischen Staates
Als es noch die Sowjetunion gab, blickten emsige Kreml-Beobachter bei den alljährlichen Paraden immer auf die kommunistischen Politbüromitglieder auf dem Lenin-Mausoleum. Wer stand näher, wer weiter zum Generalsekretär? Davon ließen sich damals die verdeckten Machtkonstellationen der Sowjetunion ableiten.
Im heutigen Russland ist zwar die politische Hierarchie genau festgelegt, doch gibt die offiziell determinierte Reihenfolge nicht das wahre Gesicht der Macht im Kreml wieder. In der offiziellen Rangordnung steht nach Putin der Premierminister, dann die Vorsitzenden der beiden Parlamentskammern und schließlich der Präsident des Obersten Gerichts. Faktisch aber galt in den letzten Jahren der Sekretär des Sicherheitsrates, Nikolaj Patruschew, als der zweite starke Mann neben Putin – was früher, in der Sowjetunion, der Sekretär für Ideologie war.
Auch Ex-Präsident Dmitrij Medwedjew zählte lange zu den fünf mächtigsten Politikern. Patruschews Machtinstrument war seine Kontrollfunktion über alle Geheimdienste und Schlüsselministerien des Landes. Er war der Kopf der „Silowiki“ – der einflussreichen Fraktion der Geheimdienstbosse und der nationalen Sicherheitsapparate. Wäre Putin etwas zugestoßen, hätte Patruschew bei der Nachfolgeregelung das letzte Wort gehabt.
Die Absetzung eines Mächtigen
Nun ist Patruschew völlig überraschend abgesetzt worden. Seinen Platz im Sicherheitsrat bekam Sergej Schojgu zugesprochen, der selbst wiederum von Andrei Beloussow als Verteidigungsminister abgelöst wurde. Zugegeben, Patruschew ist 72 Jahre alt, aber nur ein Jahr älter als Putin. Nach einer Verjüngung sah Putins kürzliche Personalrochade nicht aus. Patruschew wurde zum einfachen Assistenten des Präsidenten für Schiffbau degradiert.
Doch viel entscheidender war die Entmachtung des Blocks der „Silowiki“, die in der neugebildeten Staatshierarchie keinen einflussreichen Vertreter mehr haben. Schoigu besitzt als neuer Sekretär des Sicherheitsrates keine eigene Machtbasis, er ist außerdem durch die kürzliche Verhaftung von zwei seiner korrupten Stellvertreter politisch angeschlagen und darf nur noch auf eine Loyalität seitens Putins hoffen. In seinem neuen Amt wird er als ein reiner Untergebener fungieren, wie übrigens auch Medwedew, der sich zumindest eine neue Aufwertung im Machtgefüge erhofft hatte – vergeblich.
Warum die Macht der „Silowiki“ von Putin beschnitten wurde, ist noch unklar. Vielleicht haben sie im Vorfeld des Ukrainekrieges versagt, vielleicht traut ihnen der Präsident aus machtpolitischen Gründen nicht mehr über den Weg, vielleicht aber wollte Putin nur seine Alleinmacht weiter stärken und etwaige Widersacher kaltstellen, damit sich ein Putsch, wie ihn der Söldnerchef Jewgenij Prigoschin vor einem Jahr durchführen wollte, nicht wiederholen könnte.
Russland hat aktuell keine Nummer zwei
Doch wer füllt das entstandene Machtvakuum im Kreml auf? Nach sorgfältiger Analyse der Vorgänge der letzten Tage im Kreml lässt sich eine neue Hierarchie an der Spitze Russlands festmachen. Es gibt aber momentan keinen zweiten Mann hinter Putin. Zu der Gruppe der fünf mächtigsten Politiker im Kreml zählen ab jetzt drei Technokraten, allesamt Wirtschaftsexperten: Premier Michail Mischustin und zwei „Schattenpremiers“ – der Verteidigungsminister und Rüstungschef Beloussow sowie der Erste Vizepremier Denis Manturow. Alle drei Technokraten haben entsprechende Vollmachten und einen enormen Machtzuwachs erhalten. Ihre Aufgabe besteht darin, die russische Kriegswirtschaft mit der Industrie-, Finanz-, Rohstoff- und Sozialwirtschaft zu komplimentieren.
Die westlichen Sanktionen haben Russland zunächst keinen Schaden zugefügt, im Gegenteil: Die russische Wirtschaft ist autark wie nie zuvor und zeigt Wachstumsraten. Aber die Kriegskosten zehren am Staatsbudget, an den Staatsreserven. Geld wird zwar im Rüstungssektor verdient wie noch nie, aber daraus sind noch keine wirklichen Schübe für die breite Volkswirtschaft, die nach wie vor ihren liberalen Charakter behält, entstanden. Umgekehrt hilft die Volkswirtschaft der Kriegswirtschaft nicht genug. Eine Rückkehr zur Planwirtschaft wird es in Russland nicht geben, aber das Land benötigt in Zukunft Investitionskapital und moderne Technologien, die Russland heute über China erhält. Manturow und Belousow sollen diesen Kurs verstetigen.
Bemerkenswert sind noch andere Beförderungen und Veränderungen an der Spitze des Staates. Patruschews Sohn Dmitrij wurde vom Posten des Landwirtschaftsministers in den Sessel des Vizepremiers für Rohstoffe gehievt. Der Sohn des engen Putin-Freundes Jurij Kowaltschuk – Boris – wurde zum Chef des Obersten Rechnungshofes, einer Kontrollbehörde über die Staatsfinanzen, ernannt. Beide – Dmitrij und Boris – sind Putin als Kinder noch familiär bekannt gewesen, ihnen kann er vertrauen. Noch zwei weitere jüngere Funktionäre mit großen Zukunftsaussichten erhielten Eintritt in die obersten Etagen der Macht: Der Kaliningrader/Königsberger Gouverneur Anton Alichanow wurde Industrie- und Handelsminister, der Gouverneur von Tula, Alexej Djumin, ehemals Leibwächter Putins, wurde persönlicher Assistent von Putin für Rüstungsfragen. Patruschew Junior, aber auch Alichanow und Djumin, werden Chancen für die Putin-Nachfolge nachgesagt, sollte diese einmal aktuell werden.
Generationenwechsel
Von der Seilschaft, die Putin vor 25 Jahren zur Präsidentschaft verhalf, verblieben nur noch wenige in einflussreichen Positionen. Medwedjew gehört wegen seines relativ jungen Alters noch dazu, während andere ehemalige Mitstreiter, wie die KGB-Generäle Sergej Iwanow und Patruschew, keine Führungsposten mehr innehaben. Eine jüngere Funktionärsriege könnte in nächster Zeit an die Macht kommen, streng unter Aufsicht Putins. Ihr Weltbild wird demjenigen der Generation der Väter vermutlich gleichen.
Die sich jetzt an der Macht befindlichen Technokraten stehen nicht in Verdacht, das autoritäre Staatssystem in Russland in Frage zu stellen. Gleichzeitig werden sie das gegenwärtige marktwirtschaftliche Wirtschaftsmodell nicht wesentlich verändern. Sie werden sich, weil Putin es so will, in Zeiten der Kriegswirtschaft als fähige Manager profilieren und beweisen müssen.
Dr. Alexander Rahr ist Vorsitzender der Eurasien-Gesellschaft. Er war Berater für diverse deutsche und russische Firmen und ist Autor mehrerer Bücher über Russland, u.a. einer Biographie über Wladimir Putin, den er im Laufe der Jahre wiederholt persönlich getroffen hat.
www.eurasien-gesellschaft.org