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Dritter Prager Fenstersturz

Mord, Selbstmord oder Unfall?

Vor 75 Jahren fand das Leben des tschechoslowakischen Außenministers Jan Masaryk ein gewaltsames Ende

Wolfgang Kaufmann
09.03.2023

Der erste Prager Fenstersturz am 30. Juli 1419 stand am Anfang der Hussitenkriege und der zweite am 23. Mai 1618 löste den Dreißigjährigen Krieg aus. Dahingegen entfaltete der sogenannte dritte vom 10. März 1948 keine derart dramatische historische Wirkung, sieht man vom Tod des aus dem Fenster gestürzten damaligen tschechoslowakischen Außenministers ab. Ob Jan Masaryk ein umstritten durch Defenestration wurde, ist fraglich.

Der am 14. September 1886 geborene Sohn des ersten Präsidenten der Tschechoslowakischen Republik von 1918 bis 1935, Tomáš Garrigue Masaryk, gehörte zu den wenigen nichtkommunistischen Ministern in der neuen Regierung des Stalinisten Klement Gottwald, die nach dem Februarputsch 1948 gebildet worden war. Masaryk aus dem Amt zu drängen, das er seit 1940 beziehungsweise 1945 bekleidete, hatte nicht einmal der skrupellose Gottwald gewagt, weil der Außenminister aufgrund seiner familiären Herkunft und bisherigen politischen Verdienste quasi als sakrosankt galt. Vor diesem Hintergrund mutet es mehr als verdächtig an, dass Masaryk am frühen Morgen des 10. März 1948 aus dem Fenster des Badezimmers seiner Dienstwohnung im Prager Palais Czernin 15 Meter tief auf das Pflaster im Hof des Außenministeriums stürzte, was zu seinem sofortigen Tod führte. Das jedenfalls besagte der Obduktionsbericht, der auch die Verletzungen von Masaryk auflistete: Herz zerrissen, Aorta beschädigt, Leber und Blase geplatzt, Rückgrat, Rippen, Beine und Knöchel gebrochen, das Becken zerschmettert und die Eingeweide voller Blut.

Fall aus 15 Meter Höhe

Gottwald und dessen Clique beeilten sich, das Ganze als Suizid hinzustellen. Um 12.15 Uhr meldete Radio Prag, der Außenminister sei „in einem Augenblick nervösen Zusammenbruchs ... freiwillig aus dem Leben geschieden“. Die Freitodthese haben auch einige Verwandte sowie enge Vertraute und Mitarbeiter des Außenministers vertreten. So meinte Masaryks letzter persönlicher Sekretär Antonin Sum: „Er brachte das größtmögliche persönliche Opfer, um gegen die Kommunisten zu protestieren.“

Viele Tschechen werteten die Meldung von Radio Prag indes als dreiste Lüge, zumal es im September 1947 einen Sprengstoffanschlag auf Masaryk gegeben hatte, dessen Drahtzieher wahrscheinlich der Olmützer Gebietssekretär der Kommunistischen Partei der Tschechoslowakei und Schwiegersohn Gottwalds, Alexej Čepička, gewesen war. Die Zweifel an der Selbstmordtheorie bestehen bis heute. Der Tote hinterließ keinen Abschiedsbrief. Und das Ableben des Außenministers kam den Kommunisten in Moskau und Prag nicht ungelegen. Daraus resultierten mehrere spätere Untersuchungen zur Aufklärung der Geschehnisse vor 75 Jahren. Dabei gelangten die Ermittler immer wieder zu anderen Ergebnissen.

Prager Frühling 1968

Zunächst wurden 1968 während des Prager Frühlings erneute Nachforschungen angestellt. An deren Ende hieß es, Masaryk sei wohl verunglückt, ein Mord könne aber nicht ausgeschlossen werden.

Dem folgte eine Wiederaufnahme des Verfahrens nach der Samtenen Revolution in der Tschechoslowakei Ende 1989. Das 1993 verkündete Fazit lautete, der sowjetische Geheimdienst habe den Außenminister getötet. Gestützt wurde diese Version durch ein Interview, das der Sohn der vormaligen KGB-Mitarbeiterin Jelisaweta Parschinowa dem Radiosender Free Europe gegeben hat. In dessen Verlauf behauptete Leonid Parschin, Masaryk sei von Agenten des Kreml unter dem Kommando von Michail Bjelkin aus dem Fenster gestoßen worden. Da die russischen Behörden bis heute jegliche substantielle Zusammenarbeit mit den tschechischen Ermittlern verweigern, konnte eine Beteiligung der UdSSR bislang nicht bewiesen werden.

Samtene Revolution 1989

2003 behauptete der Forensiker Jiři Strauss, wenn Masaryk nicht aus dem Fenster gestoßen worden wäre, hätte er näher am Fuße des Palais aufschlagen müssen. Kurz darauf vertrat der Brünner Psychiater Cyril Höchsl die Ansicht, dass die Umstände von Masaryks Tod in keiner Weise auf Suizid hindeuteten. Er stellte die rhetorischen Fragen, warum der Außenminister vor einem Sprung erst noch einen Pyjama hätte anziehen und wieso er bis zum letzten Moment konkrete Zukunftspläne hätte schmieden sollen.

Im Jahre 2015 veröffentlichte die tschechische Historikerin Václava Jandečkova ein Buch über den Fall Masaryk, in dem sie behauptete, der Politiker sei von zwei Tschechen im Auftrag Moskaus liquidiert worden.

Vorerst letzte Ermittlungen ab 2019

Aus zwei Gründen begann 2019 ein weiteres offizielles Ermittlungsverfahren. Zum einen war ein altes Tonband aus Privatbesitz aufgetaucht, auf dem der vormalige Polizist Vilibald Hofmann, der 1948 zu den ersten Personen gehörte, welche die Leiche Masaryks sahen, von Manipulationen an dem Toten berichtete. So sollen die offiziellen Polizeifotos des zerschmetterten Körpers nicht das gezeigt haben, was Hofmann bei seinem Eintreffen um 5.25 Uhr auf dem Hof des Palais Czernin vorgefunden hat. Und zum anderen ergab eine Computersimulation des Sturzes durch Jan Špička und Martin Čermák von der Westböhmischen Universität in Pilsen, dass sich Masaryk vor dem Fall „an der Außenseite des Czernin-Palais befand. Er stand auf dem Sims mit dem Gesicht zur Wand zwischen zwei Fenstern, etwa einen Meter von ihnen entfernt“. Damit „kann ein Mord nicht eindeutig belegt werden. Möglich sind auch ein Selbstmord und ein Unfall.“

Diese vorerst letzte Untersuchung wurde ergebnislos eingestellt. Hierzu gab der Sprecher der Prager Bezirksstaatsanwaltschaft, Aleš Cimbala, am 12. März 2021 offiziell bekannt: „Im Verlaufe der Ermittlungen wurden keine neuen Erkenntnisse gewonnen, die auch unter Berücksichtigung früherer Ergebnisse einen eindeutigen und unzweifelhaften Schluss über die Todesumstände ermöglichen würden. Die Anwesenheit weiterer Personen beim Sturz aus dem Fenster kann weder bestätigt noch widerlegt werden.“


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