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Die phönizischen Buchstaben galten lange als Mutter unserer Schriftzeichen. Doch Forscher ventilieren auch ganz andere Theorien. Erst vor wenigen Monate trat eine völlig neue ins Licht
Die Schrift, ohne die es auch keine Preußische Allgemeine gäbe, zählt zu den wichtigsten Errungenschaften der Menschheit, da sie eine zuvor undenkbare Überlieferung von Wissen und kulturellen Traditionen über Raum und Zeit hinweg erlaubt. Gleichzeitig ist bis heute unklar, welches Volk die ersten Schriftzeichen entwickelte und nutzte.
Zunächst war unumstritten, dass das Primat entweder den alten Ägyptern mit ihren Hieroglyphen oder den Sumerern mit ihrer Keilschrift zukomme, wobei es sich in beiden Fällen um Erfindungen aus dem 4. Jahrtausend v. Chr. handelte. Dann hieß es zum Ende des 20. Jahrhunderts, die Geschichte der Schrift habe mit den von der prähistorischen Vinča-Kultur im Donau-Raum kreierten Symbolen aus der Zeit um 5500 v. Chr. begonnen. Nachfolgend wiederum geriet die protochinesische Schrift in den Fokus. 2003 entdeckte Schildkrötenpanzer aus Gräbern in Jiahu tragen Markierungen, die späteren chinesischen Schriftzeichen ähneln und etwa 6000 v. Chr. entstanden.
Und neuerdings vertritt nun ein britisches Forscherteam um Bennett Bacon sogar die Ansicht, dass bereits die steinzeitlichen Jäger und Sammler vor 20.000 Jahren ein Schriftsystem nutzten. Das schließen die Wissenschaftler aus den Reihen rätselhafter Linien und Punkte, welche sich in etlichen eiszeitlichen Höhlenbildern in weiten Teilen Europas finden und die möglicherweise kalendarische oder für die Jagd relevante Informationen kodieren.
Viel ältere Zeichen entdeckt
Genauso ungewiss wie die Ursprünge der Schrift insgesamt sind die Wurzeln der Alphabetschrift, durch die das Schreiben und Lesen überhaupt erst zum Allgemeingut wurde. Archaische Schriftsysteme wie die Keilschrift oder die Hieroglyphen basierten auf einem Mix aus Piktogrammen, Logogrammen und Determinativen, weswegen sie mehrere hundert oder gar tausend Zeichen benötigten, für deren Verwendung es zudem noch höchst komplizierte Regeln gab. Das machte die ersten Schriften zu einer Geheimwissenschaft für Auserwählte.
Anders hingegen die Alphabetschrift. Dieser genügen maximal 40 Zeichen für die Verschriftung der bedeutungstragenden Laute aller menschlichen Sprache. Daher kann sie von fast jedermann erlernt beziehungsweise benutzt werden. Insofern stellt die Alphabetschrift letztlich eine noch größere Innovation als die frühen Schriftsysteme dar.
Lange Zeit lautete die Lehrmeinung, die erste echte Alphabetschrift sei die der Phönizier aus dem 11. Jahrhundert v. Chr. gewesen. Darüber hinaus wurde eine Ableitung aus der Keilschrift oder den Hieroglyphen angenommen. So meinte der geniale französische Sprachwissenschaftler und Hieroglyphen-Entzifferer Jean-François Champollion bereits im Jahre 1840, die Phönizier hätten einzelne Schriftzeichen der Pharaonen adaptiert und für das Festhalten ihrer Konsonanten verwendet. Bei diesem akrophonischen Vorgehen wäre aus dem ägyptischen Piktogramm für Wasser der phönizische Buchstabe „W“ geworden. Später vermuteten andere Forscher eine derartige Anlehnung an die babylonisch-assyrische Keilschrift oder die hieroglyphischen Schriftsysteme der Kreter.
Dann entdeckte der britische Archäologe Flinders Petrie 1904/05 in den alten Kupfer- und Türkis-Minen von Serabit el-Chadim im Südwesten der Sinai-Halbinsel 3900 Jahre alte Inschriften, welche lediglich 32 unterschiedliche Zeichen aufwiesen. Daraus zog Petries Kollege Alan Gardiner den Schluss, dass es sich hier um Proben eines Schriftsystems handeln muss, aus dem viele Jahrhunderte später die phönizische Schrift entstand. Damit galt nun die sogenannte Protosinaitische Schrift als die älteste Alphabetschrift der Welt – geschaffen von eingewanderten semitischen Bergarbeitern aus dem biblischen Land Kanaan, welche die Hieroglyphen „abspeckten“, um ebenfalls über eine Schrift zu verfügen und kulturell auf Augenhöhe mit den Ägyptern zu stehen. Allerdings geriet auch diese Theorie mittlerweile wieder ins Wanken.
Überraschung im November 2024
Verantwortlich hierfür waren weitere Funde in Ägypten und Syrien. 1999 stieß ein Archäologen-Team unter John Coleman und Deborah Darnell von der Yale University beim Vermessen der alten Karawanenroute zwischen Theben und Abydos im Wadi el-Hol nordwestlich von Luxor auf zwei Inschriften mit 13 verschiedenen Zeichen aus der Zeit um 1900 v. Chr., welche ebenfalls von einer urtümlichen Alphabetschrift zeugen. Bisherigen Entzifferungsversuchen zufolge handelt es sich um Bittgebete in kanaanitischer Sprache, womit als Schreiber semitische Händler oder Söldner im Dienste der Pharaonen in Frage kommen.
Noch größer war die Überraschung, welche der Professor für nahöstliche Archäologie an der Johns-Hopkins-Universität in Baltimore, Glenn Schwartz, der Fachwelt Ende 2024 bereitete. Schwartz gräbt seit 16 Jahren in Umm el-Marra östlich des heutigen Aleppo in Nordsyrien. Dort entstand in der frühen Bronzezeit ein Stadtstaat mit bis zu 5000 Einwohnern.
In Gräbern aus der Epoche um 2400 v. Chr. fand der US-Archäologe neben einigen Skeletten von augenscheinlich hochgestellten Persönlichkeiten sowie reichlich Gold- und Silberschmuck kürzlich vier fingerlange gebrannte Tonzylinder mit bislang völlig unbekannten, aber ganz offensichtlich alphabetischen Schriftzeichen. Möglicherweise handelt es sich bei diesen Artefakten um Etiketten für Gefäße mit Inhaltsangaben. Auf jeden Fall entstand die Umm-el-Marra-Schrift rund 500 Jahre eher als die Schriftsysteme auf dem Sinai und im Wadi el-Hol.
Somit lautet die entscheidende Frage seit dem Ende des vorigen Jahres nun: Waren semitische Wanderarbeiter, Kaufleute oder Soldaten aus Kanaan die Erfinder des besten Schriftsystems in der Geschichte der Menschheit? Oder kommt diese Ehre eher den Bewohnern eines mittlerweile fast völlig vergessenen kleinen bronzezeitlichen Stadtstaates auf dem Gebiet des heutigen Syriens zu? Ihre Beantwortung besitzt angesichts der heutigen arabisch-israelischen Konfrontation im Nahen Osten eine nicht ganz unwesentliche politische Relevanz, bietet sie doch die Möglichkeit, eine der beiden Konfliktparteien zum kulturellen Vorreiter hochzustilisieren.