Preußische Allgemeine Zeitung Zeitung für Deutschland · Das Ostpreußenblatt · Pommersche Zeitung
Vor 70 Jahren erhielt die Alpenrepublik mit dem „Staatsvertrag betreffend die Wiederherstellung eines unabhängigen und demokratischen Österreich, gegeben zu Wien am 15. Mai 1955“ Souveränität und anschließend Neutralität
Das Land war weder Sieger noch Verbündeter oder Verlierer. Der „Sonderfall“ bewegte sich seit Kriegsende „zwischen Befreiung und Freiheit“. Österreich galt als erstes Opfer der Aggression Adolf Hitlers durch den „Anschluss“ an das Deutsche Reich 1938. So lautete die Moskauer Deklaration der Alliierten vom 1. November 1943. Sie bot Legitimation für die Eigenstaatlichkeit und Unabhängigkeit, erinnerte aber auch an den notwendigen Beitrag zum Widerstand gegen das NS-Regime. Dahinter verbarg sich die alliierte Absicht der dauerhaften Trennung von Deutschland.
Österreich blieb aber vom 29. März 1945 bis 25. Oktober 1955 durch US-Amerikaner, Briten, Franzosen und Sowjets besetzt – symbolisiert durch das Bild von den „Vier im Jeep“, die sich in einem eigenen fünften Sektor, dem Ersten Wiener Bezirk, monatlich abwechselten. Sie sollten dort nicht mehr herum-, sondern nach Hause fahren, und wenn, dann als Touristen wieder kommen, forderte Außenminister Karl Gruber öffentlich. Die Adressaten folgten aber nicht dem Aufruf und hielten das Land 3.861 Tage und damit mehr als ein Jahrzehnt besetzt. Allmählich wurden aus den Unabhängigkeitsgaranten Partner der bevormundeten Nation, die nach dem „Anschluss“-Syndrom 1938 erst ihren Weg zu sich selbst finden musste.
Ost-West-Unterschiede
Im Westen fühlte man sich befreit, im von der Roten Armee besetzten Osten – Teile Oberösterreichs östlich der Enns, Niederösterreich und Burgenland – dagegen nicht. Nach Vergewaltigungen und Repressalien folgten Entführungen, Verschleppungen und Übergriffe sowie Demontagen, Entnahmen aus der laufenden Produktion und Erdöllieferungen an die UdSSR. Dagegen half der Marshall-Plan als European Recovery Program (ERP) vor allem im Westen zur Linderung von Not. Die Wirtschaftshilfe beförderte den Wiederaufbau. Frankreich betrachtete Österreich als befreundetes Land („pays ami“). Es ging um Freiheit vom gefürchteten nördlichen Nachbarn, was durch Artikel 4, Absatz 1 im Staatsvertrag zum Ausdruck kam, der ein Verbot jeglicher politischen oder wirtschaftlichen Vereinigung zwischen Österreich und Deutschland vorsah. So war es auch im Friedensvertrag von Saint Germain 1919 festgelegt worden. Paris war sich darin mit Moskau einig.
Der Gang nach Moskau
Österreichs Außenpolitik selbst verfolgte verschiedene Ziele, die zum Staatsvertrag führen sollten: die Reklamierung des „Opferstatus“ als Mittel zur Abgrenzung von Deutschland sowie zur austrospezifischen Identitätsbildung – die Rolle von Adolf Hitlers Helfern und Tätern im NS-Apparat wurde ausgeblendet; die Wiedererlangung von staatlicher Unabhängigkeit, der Abzug aller Besatzungstruppen; die Bewahrung der territorialen Integrität, die erst 1949 in Verhandlungen gesichert werden konnte; die Befreiung aus außenpolitischer Isolation, die Reaktivierung des Außenhandels und Allianzfreiheit. Nach positiven Signalen aus Moskau in Form einer Rede von Außenminister Wjatscheslaw Molotow vor dem Obersten Sowjet vom 8. Februar 1955, in der er sich dafür aussprach, die österreichische losgelöst von der deutschen Frage zu behandeln, weilte vom 12. bis 15. April eine Regierungsdelegation unter Bundeskanzler Julius Raab, Vizekanzler Adolf Schärf, Außenminister Leopold Figl und Staatssekretär Bruno Kreisky in Moskau, um sich in einem Memorandum zur „immerwährenden Neutralität“ nach Schweizer Muster, eine Art Verwendungszusage an die Sowjetunion gegenüber den Westmächten, zu bekennen.
Entscheidung in Wien
Nach einer Konferenz mit den westlichen Botschaftern der Siegermächte in Wien vom 2. bis 13. Mai war der Weg zum Staatsvertrag frei, zumal zwei Voraussetzungen erfüllt waren: Österreich war gesellschaftlich, kulturell und wirtschaftlich westlich orientiert, was US-Amerikanern, Briten und Franzosen gefiel. Aber es versprach, eine Politik der Neutralität zwischen West und Ost zu betreiben, was die Sowjets verlangten.
Vor 70 Jahren, am 15. Mai 1955, fand die Unterzeichnung des Staatsvertrags im Oberen Belvedere in Wien statt. Die Außenminister der vier Besatzungsmächte waren eigens eingeflogen: John Foster Dulles, Harold Macmillan, Wjatscheslaw Molotow – gerade von der Unterzeichnung des Warschauer Vertrags am Vortag aus Polen kommend – sowie Antoine Pinay. Viele Menschen waren in den Schlosspark geströmt, standen dicht gedrängt auf den Wegen und Wiesen, um auf die Signatare zu warten. Als sich die vier Außenminister und Leopold Figl auf dem Balkon zeigten, winkten sie ihnen freudig und jubelnd zu. Figl hielt das lange herbei gesehnte und nun endlich unterschriebene Dokument in Händen. Die berühmten Worte „Österreich ist frei!“ hatte er zuvor nach seiner Unterschrift im großen Marmorsaal des Schlosses ausgesprochen.
Österreich-Modell
Die Vorverhandlungen in Moskau und die überraschend schnelle Einigung der Vier Mächte erregten internationale Aufmerksamkeit. Die am 18. Mai erfolgte Äußerung des US-Präsidenten Dwight D. Eisenhower über die Aussicht eines neutralen Staatengürtels in Europa, die grundsätzlich geäußerte Sympathie für eine bewaffnete Neutralität nach Schweizer Muster und die infolge des sich abzeichnenden Truppenrückzugs aus Österreich aufkommenden Sorgen über die Möglichkeit einer Rückverlegung von US-Truppen aus Europa erregten größtes Misstrauen bei Bundeskanzler Konrad Adenauer. Die nachteilhafte Regelung des „deutschen Eigentums“ im Staatsvertrag durch Überlassung an Österreich war nur äußerer Anlass, der seine schwere Verärgerung zum Ausbruch brachte, wenn er „die ganze österreichische Schweinerei“ beklagte. Sollten jetzt noch „die Österreicher von uns Reparationen verlangen, dann werde ich ihnen die Gebeine Adolf Hitlers schicken“, ätzte er öffentlich.
Zug um Zug-Verfahren
Im Reißverschlussverfahren ging es indes weiter. Am 7. Juni beschloss das österreichische Parlament, der Nationalrat, einstimmig eine Resolution über die „immerwährende Neutralität“, die eine politische Willenskundgebung darstellte, aber noch kein Gesetz war. Die Bundesregierung legte sodann einen Entwurf dafür vor. In fünf Staaten war die jeweilige parlamentarische Genehmigung, Beurkundung und Ratifizierung notwendig. Am 27. Juli 1955 trat der Staatsvertrag in Kraft, nachdem Frankreich am 21. Juli als letzter Staat die Ratifikationsurkunde im Rat der Republik hinterlegt hatte. Ab dem Zeitpunkt des Inkrafttretens begann eine Räumungsfrist für die Besatzungstruppen zu laufen. Innerhalb von 90 Tagen nach Ratifizierung sollte Österreich von alliierten Truppen frei sein. Gleichzeitig war damit auch die Auflösung des Alliierten Rates verbunden.
Neutralität und NATO
Am 25. Oktober 1955 war das Ende der Besatzungszeit mit der abgelaufenen Frist für die Räumung erreicht. Der letzte alliierte Soldat verließ das Land. Es war ein britischer. Am 26. Oktober beschloss der Nationalrat das Bundesverfassungsgesetz über die immerwährende Neutralität gegen die Stimmen des Verbandes der Unabhängigen (VdU), des Vorläufers der FPÖ, der an der „deutschen Kulturgemeinschaft“ festzuhalten versuchte und nichts von einer „österreichischen Nation“ hielt. Zum Zwecke „der dauernden Behauptung seiner Unabhängigkeit nach außen“ und „der Unverletzlichkeit seines Gebietes“ erklärte Österreich aus freien Stücken seine Neutralität. Es werde diese „mit allen ihm zu Gebote stehenden Mitteln aufrechterhalten und verteidigen“ und zu ihrer Sicherung „in aller Zukunft keinen militärischen Bündnissen beitreten und die Errichtung militärischer Stützpunkte fremder Staaten auf seinem Gebiete nicht zulassen.“ Dagegen wurde die Bundesrepublik am 6. Mai in die NATO aufgenommen. Am 15. Dezember 1955 wurde Österreich mit Irland, Italien und Ungarn auch Mitglied der Vereinten Nationen, während die beiden deutschen Staaten noch 18 Jahre bis 1973 darauf warten mussten.
Ein Modell für Deutschland?
Viele Beobachter in Wien meinten, mit dem 15. Mai 1955 einen historischen Augenblick zu erleben. Sie fragten sich: War der Kalte Krieg nun zu Ende, eine Regelung der deutschen Frage auch möglich, die Teilung Deutschlands und damit auch die Spaltung Europas noch abwendbar? Das schien nicht ausgeschlossen, da die deutsche Frage mit der Österreichlösung auch zu tun hatte. Die staatliche Unabhängigkeit des Landes bedeutete jedoch den definitiven staats- und völkerrechtlichen Abschied von Deutschland, die Herauslösung Österreichs aus der deutschen Frage, gleichwohl der „Modellfall Österreich“ mit Vier-Mächte-Arrangement statt Separatsvertragslösung, Neutralität statt Militärbündnis auch für die Lösung der Deutschlandfrage erwogen werden konnte. Für Bonn aber war ein mit Truppenabzug und verpflichtender Neutralität gekoppelter Vertrag mit den Vier Mächten kein Modell. Adenauer lehnte eine „Österreichlösung“ kategorisch ab und sah es als „sein größtes Verdienst“ an, für Deutschland dem „Neutralitätsdrachen den Kragen umgedreht zu haben“, während Kanzler Raab genau darin das Instrument gefunden hatte, den „russischen Bären“ aus Ostösterreich herauszulocken und die übrigen Besatzungsmächte ebenfalls zum Abzug zu bringen. Für Wien galt es, die „deutsche Lösung“ – wirtschaftliche, politische und militärische Westintegration mit unabsehbaren Folgen für die Bevölkerung im Osten – für das eigene Land zu verhindern.
Die Sieger fanden für Deutschland und Österreich dauerhafte Lösungen: kontrollierte Integration der 1949 geschaffenen deutschen Teilstaaten in die jeweiligen Blocksysteme auf der einen und das mit gewisser Aufsicht in die Freiheit zu entlassende Österreich auf der anderen Seite. Mit Staatsvertrag und Neutralität erlangte es 1955 seine Souveränität, auf die Deutschland als Ganzes noch 35 Jahre warten musste. Heute ist Österreichs Neutralität – im Unterschied zum in Vergessenheit geratenen Staatsvertrag – elementarer Bestandteil der österreichischen Identität und kaum mehr wegzudenken. Sie anzutasten oder gar abzuschaffen wäre politischer Selbstmord. Gruber begründete rückblickend die Neutralität als „eine legitime Ausrede, um nicht nach jeder ausländischen Pfeife tanzen zu müssen“. Der Staatsvertrag war die Basis, denn ohne Souveränität gibt es keine Neutralität.
Michael Gehler ist seit 2006 Professor für Neuere Deutsche und Europäische Geschichte sowie Leiter des Instituts für Geschichte an der Universität Hildesheim. Er gilt als einer der profiliertesten Kenner des europäischen Integrationsprozesses. Von ihm stammen Bücher zum Thema dieses Artikels wie Modellfall für Deutschland? Die Österreichlösung mit Staatsvertrag und Neutralität 1945–1955, Studien-Verlag, Innsbruck u. a. 2015, ISBN 3-7065-4062-2, oder Österreichs Außenpolitik der Zweiten Republik. Von der alliierten Besatzung bis zum Europa des 21. Jahrhunderts, 2 Bände, Studien-Verlag, Innsbruck u. a. 2005, ISBN 3-7065-1414-1.