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Seit 100 Jahren ziehen die Nerother Wandervögel singend durch die Welt – Burgruine Waldeck im Hunsrück ist ihr Stammsitz
Die Bäume um die Burgruine Waldeck im Hunsrück sind noch kahl. Der Frühling kündigt sich mit erster Wärme an, doch der Blick durch das blattlose Gehölz und die Ruinenmauern der 1689 von Franzosen zerstörten, einst mächtigen Burganlage geht hinauf auf eine sich darüber erhebende kleinere Burganlage. Wie Phönix aus der Asche hat sich hier ab den 1920er-Jahren die Rheinische Jugendburg erhoben, nachdem die Wandervögel Robert und Karl Oelbermann Ende März 1921 den Nerother Bund gründeten.
Von der Ruine der Unterburg geht ein Serpentinenpfad hoch zum oberen Teil des Bergsporns, auf dem die Jugendburg sich erhebt. Doch man kann es sich auch schwer machen, seine Knochen riskierend steilauf den Hang hochsteigen. Durch unwegsames Gelände, etwas riskieren, an Grenzen gehen – das ist es, was für viele Nerother neben der Freundschaft und dem Fahrtengesang das Leben eines Wandervogels ausmacht.
Hält man sich unterhalb der Jugendburg am Steilhang etwas rechts, gelangt man in den Ehrenhain der deutschen Jugendbewegung. Auf mehreren Ebenen stehen hier die Gedenksteine mit Namen und Symbolen bedeutender Persönlichkeiten der Jugendbewegung: Ur-Wandervogel Karl Fischer, Robert Oelbermann, Autor Werner Helwig, Architekt Karl Buschhüter, Schulreformer Gustav Wyneken, Eberhard „Tusk“ Koebel von der Jugenschaft dj 1.11 und viele andere mehr.
Burgherr und Nerother Bundesführer Fritz-Martin Schulz, kurz FM, empfängt den vom steilen Anstieg noch immer nach Luft schnappenden Gast freundlich. Auf die Anmerkung, fahrtenerprobten Nerothern nähere man sich wohl nur auf abenteuerlichem Wege, huscht FM ein leichtes Lächeln übers Gesicht. „Ach, ... so romantisch sind wir gar nicht“, untertreibt der Mann, dessen intensives Fahrtenleben in seinem Buch „Von der Straße geworben“ spannend festgehalten ist.
Die Jugendburg ist verwaist. Keine singende Schar in Lederhosen, keine gepackten Affen und Klampfen in den Ecken, kein munteres Treiben in der etwas abseits gelegenen Bauhütte. Das einzig auszumachende Samtbarett der Nerother hängt neben einer Gitarre an einem Haken in dem holzvertäfelten Raum, in den der Gast geführt wird. In Regalen finden sich unter anderem Jugendliteratur von Karl May, Ernst Löhndorff und Manfred Hausmann. Das Bild von Letzterem hängt neben weiteren direkt über den Regalen – der Schriftsteller und Schöpfer von „Lampioon“ und „Kleine Liebe zu Amerika“ war selbst Wandervogel und Ehren-Nerother.
Noch 200 Jugendliche aktiv
FM gilt als asketischer Tee-Genießer, an diesem Tag aber wird Kaffee ausgeschenkt. Es ist der Morgen nach jenem Tag, an dem eigentlich auf der Burg oder im nahen Kastellaun ein gewaltiges Sangesbrausen und Feiern zum 100. Gründungstag des Nerother Wandervogels hätte stattfinden können. FM hat keine Angst vor Corona, aber er kennt seine Verantwortung.
Die Burg ist der Jugend vorbehalten, wie FM schildert, allerdings nicht als Herberge, sondern um an dem großen Projekt mitzuwirken, an dem seit 100 Jahren Generationen von Jungen gebaut haben. Der aktive Nerother Bund umfasst heute rund 200 Jugendliche, die in mehreren Orden zusammengefasst sind und sich in Fähnlein mit je fünf bis zehn Jungen aufteilen. FM Schulz entstammt selbst dem Orden der Likedeeler, ein Name, der auf den sagenumwobenen Piraten Klaus Störtebecker verweist.
Piraterie – haben die Nerother Ideale? „Es gibt kein Ideal, wir singen, wandern und bauen“, übt sich FM in Zurückhaltung. Denn die Weisheiten der Nerother hat Gründer Robert Oelbermann 1930 sehr wohl festgehalten: Führungsgedanke, der sich aus Adelsherrschaft und Gefolgschaftstreue ergibt, Freundschaft im reinen Jungenbund, Auslese und Gestaltung „des brausenden jugendlichen Lebens“ und das Anerkennen, dass Jugend das „Suchen, Ringen, Wachsen, Erkennen und Erkämpfen“ beinhaltet, Gestaltung daher dynamisch sein muss und der Bund sich in keine Form zwingen lassen darf.
Doch wie kommt man zu den Nerothern? FM selbst sei durch Literatur sehr abenteuerorientiert gewesen und 1962 dazugestoßen. „Der Nerother Bund ist aber absolut pragmatisch, man kommt zu ihm über die Begegnung und durch gemeinsames Handeln und Agieren.“ Die Orden seien dabei durchaus unterschiedlich in ihren Präferenzen. Die einen pflegen mehr das Musische, andere eher das intensive Fahrtenleben.
Die alljährliche Großfahrt mit einer Dauer von vier bis sechs Wochen gehört dazu. Die erste Großfahrt unter Robert und Karl Oelbermann durch Europa dauerte von August bis Dezember 1920. Mal zog es die Nerother nach Indien, mal nach Skandinavien. 1931 bis 33 ging es sogar auf Weltfahrt. Zahlreiche Filme zeugten von den Expeditionen und finanzierten die Großfahrten und den Bau an der Burg.
Einschnitt mit Beginn der NS-Zeit
1933 dann der Bruch: Reichsjugendführer Baldur von Schirach zerschlug sukzessive die Bünde, sofern sie sich nicht in die Hitlerjugend überführen ließen. Die Nerother gingen lieber in die Illegalität. Robert Oelbermann wurde wegen Homosexualität verhaftet, verurteilt und nach der Haft in Schutzhaft genommen. Er starb 1941 im KZ Dachau.
Roberts Zwillingsbruder Karl überlebte das NS-Regime und baute den Nerother Bund nach dem Krieg wieder auf. In seine Zeit fallen heftige Auseinandersetzungen mit der linkspolitisch motivierten Arbeitsgemeinschaft Burg Waldeck. Als Karl Oelbermann 1974 starb, wählten die Ordensführer aus ihrem Kreise Fritz-Martin Schulz zum neuen Bundesführer auf Lebenszeit.
Das Fahrtenleben bleibt bis heute zentrales Element. Er selbst habe die extreme Erfahrung angestrebt und Fahrten als reine Wildnisfahrten angelegt, so FM. Ob die Intensität des bündischen Erlebens fremder Kulturen Auswirkungen in dem Sinne habe, dass ein Nerother generell intensiv lebe, lässt FM mit einem süffisanten Lächeln offen. „Das ist unterschiedlich, aber wenn es so ist: umso besser.“ FM sieht seine Nerother übrigens nicht als bündisch an, weil sich das Lebensgefühl verändert habe. „Die bündische Jugend endet mit dem Beginn des Nationalsozialismus – wir sind heute ein Nachklang des historischen Wandervogels“, sagt er.
In die Zukunft blickt der Bundesführer gelassen. „Karl Oelbermann sagte mir einmal, man müsse nicht an die Zukunft denken, die Gegenwart reiche völlig – ich sehe das heute genauso.“ Und so werfen sich noch heute, 100 Jahre nach der Gründung des Nerother Wandervogels, unbeirrt von den rasanten Entwicklungen der Moderne Jungen in ihre Kluft und durchmessen auf Wohlstand und warme Betten verzichtend singend die Welt.
Michael Swidersky am 01.07.21, 14:30 Uhr
Ein Artikel zum 100-jährigen Bestehen des Rheinischen Jugendbundes nicht in einer lokalen (Provinz-)Zeitung, sondern in einer kleinen elitären Zeitung, die sich "Preußen" auf die (Druck-)Fahnen geschrieben hat? Nur auf den ersten Blick ein Widerspruch: Wir haben auch 200 Jahre Preußen im Rheinland, die preußische Rheinprovinz wurde am 22. Juni 1822 gegründet, die damalige Provinzhauptstadt Koblenz war und ist das Tor zum Hunsrück.
Die Bonner Oelbermänner Robert und Karl meldeten sich als Kriegsfreiwillige im Husaren-Regiment "König Wilhelm I." (1. Rheinisches) Nr. 7, auch hier eine Verbindung Preußen/Rhein. Die Erlebnisse im 1. Weltkrieg versuchten sie, gemeinsam mit Gleichgesinnten, durch Singen, Wandern und Bauen positiv zu wenden, damit auch junge Menschen abenteuerhafte Fahrten erleben können - ähnlich ihren eigenen der ersten Wandervogeljahre.
Robert hat nach der erzwungenen Auflösung des Nerother Jungenbundes während der NS-Diktatur und seiner Leidenszeit bis zu seinem Tod im KZ Dachau wohl bestritten, selbst homosexuell zu sein, in der heutigen Zeit, in der man grundsätzlich entscheiden kann, wer man ist (m/w/d), mag das keinen mehr interessieren, man will ja "modern" sein und nicht verstaubt. In einer Zeit, in der das Zuchthaus drohte, war das Eintreten für Homosexuelle vor allem eines: mutig.
Auch dieses Jahr: Roberts 80. Todestag (29. März 1941) fiel in unmittelbare zeitliche Nähe des Gründungsdatums seiner Nerother vor 100 Jahren zu Ostern (27. März 1921).
Danke dem Autor für den Artikel und dem damit verbundenen Besuch auf der Burg Waldeck im Hunsrück beim junggeblieben Bundesführer FM, der aus seinem eigenen 80.(!) Geburtstag am 6. April kein Aufsehen machen wollte.
Christian Benthe am 20.04.21, 12:30 Uhr
Großartiger Bericht. Es gibt noch das Gute und Schöne. Es wird immer überleben. Und ich wage die Prognose: es wird eine neue Zeit heraufziehen, in der die Jugend sich abkehren wird vom gefühllosen Weltwahngedanken. Ich freue mich schon auf die Bestürzung und Ratlosigkeit der Linksideologen, die glaubten, alles fest im Griff zu haben. Wir werden die Große Verweigerung erleben, die entsprechende Generation ist bereits geboren.