Preußische Allgemeine Zeitung Zeitung für Deutschland · Das Ostpreußenblatt · Pommersche Zeitung
Die Traditionsveranstaltung konnte nach einer Corona-Zwangspause wieder in Präsenz stattfinden
Statt der üblichen 40 bis 50 Teilnehmer konnte Sebastian Husen, Bundesgeschäftsführer der Landsmannschaft Ostpreußen e. V. (LO), bei dem Geschichtsseminar vom 24. bis 26. September in Helmstedt nur 30 Teilnehmer begrüßen. Verantwortlich waren Corona-bedingte Auflagen durch die Politische Bildungsstätte Helmstedt, in der seit 2016 die Seminare der LO stattfinden. Nach zwei Jahren Corona-Pause waren Teilnehmer wie Seminarleitung gleichwohl glücklich, erstmalig wieder in Präsenz tagen zu können.
Das Geschichtsseminar, das eigentlich den Namen „Stationen der ostpreußischen Geschichte“ trägt, ist eine Traditionsveranstaltung. Warum das Seminar ein Erfolgsformat ist und Teilnehmer aus allen Regionen der Bundesrepublik anzieht, soll später erörtert werden.
Nach kurzer Begrüßung und Einführung durch den Seminarleiter sowie der obligatorischen Vorstellungsrunde stand das Abendprogramm unter dem Titel „Der Auspuff spricht mit mir und andere (fast nur) wahre Geschichten – zweimal um die Erde...und immer nur bis Königsberg“. Gerhard Raßner, verheiratet mit einer Königsbergerin, nutzte die Lockdownzeit, um kurze, humorvolle Geschichten aus seinen über 30 Reisen in die Pregelstadt niederzuschreiben. Die Begebenheit mit dem Auspuff findet sich wenig überraschend im Kapitel Pannen und Unfälle. Die Anspielung auf die Erdumrundungen soll einen Eindruck über die per Bahn, PKW und Schiff bewältigte Strecke verdeutlichen, die immer nur ein Ziel hatte, die ehemalige Königliche Haupt- und Residenzstadt in Preußen.
Kurzgeschichten dank Lockdowns
Einigen Teilnehmern war der Autor der heiteren Kurzgeschichten auch als Dokumentarfilmer bekannt, denn beim Geschichtsseminar 2018 präsentierte Raßner seinen Film über den Wiederaufbau des Königsberger Domes.
Der erste Referent am Sonnabend stellte sich als exzellenter Reiseleiter heraus. Jörg Petzold, ein ausgewiesener Spezialist für ostpreußische Kleinbahnen, es gab deren 18, mit einem Streckennetz von über 900 Kilometern, hatte die Reiseroute erarbeitet. Die imaginäre Reise erfolgte nach dem Sommerfahrplan von 1938. Damals wurden schon einige Streckenverbindungen eingeschränkt oder durch Omnibusse ersetzt, was die Reiseplanung zu einer Herausforderung machte. Die Reise begann in Kaukehnen und ging über Alt Sköpen, Skaisgirren, Reckeitschen, Insterburg, Schwirbeln, Warnascheln, Skandlack bis Sensburg. Dabei zeigte Petzold von den für mich als Ermländer teilweise exotisch klingenden Orten seltenes Bildmaterial.
Jörg Petzold beschäftigt sich schon 30 Jahre mit den ostpreußischen Kleinbahnen, die eine wichtige Rolle in der Erschließung des ländlichen Raumes in Ostpreußen spielten. Dabei stand in erster Linie nicht die Personenbeförderung, sondern der Güterverkehr, um zum Beispiel den Transport zu und von den Zucker- oder Zellstofffabriken zu gewährleisten, im Mittelpunkt. Petzold ist auch Mitautor des zweibändigen Standardwerkes „Ostpreußen und seine Verkehrswege“. Sein nächstes Buch soll eine Dokumentation über die Kleinbahnen in Westpreußen umfassen.
Der folgende Vortrag von Lars Fernkorn, Student für Geschichte und Osteuropaforschungen an der Universität Hamburg, hieß „Ostpreußen – ein kleiner Ritt durch die Geschichte“. Es war kein gemütlicher Ritt, denn der jüngste Referent eilte im forschen Galopp von einem Ereignis zum nächsten. Angefangen von den Prußen und der Hinrichtung des Bischofs Adalbert, zum Deutschen Orden, der Gründung von Königsberg durch König Ottokar II. von Böhmen, die Umstände der Schlacht von Tannenberg, Hochmeister Albrecht, der Errichtung des ersten protestantischen Staates der Welt und weitere Schlaglichter der Geschichte bis zur Flucht und Vertreibung wurden thematisiert. Trotz der Fülle geschichtsträchtiger Ereignisse war der Vortrag gut strukturiert, und die einzelnen historischen Begebenheiten waren aufeinander aufbauend und gekonnt verknüpft.
Den Nachmittag läutete Günter H. Hertel, Professor für Verkehrstechnik und Vorstandsmitglied der Stadtgemeinschaft Tilsit, mit dem Thema „Die Barockkirche Alt Lappienen – ein Kleinod der Architektur- und Kulturlandschaft Elchniederung“ ein. Der achteckige Kirchenbau im byzantinischen Stil aus der Zeit von 1675-1703 ist ein Werk von Philipp de la Chièza, dem Generalbaumeister des Großen Kurfürsten.
Auf Spurensuche zur Barockkirche in Alt Lappienen
Heute ist der architektonisch herausragende Bau eine Ruine und ein Domizil der Weißstörche. Im Jahr 1959 war das schon stark verfallene Gotteshaus noch ein Getreidespeicher der örtlichen Kolchose bis schließlich 1975 der Blitz einschlug und die Kirche bis auf die Grundmauern niederbrannte, die anschließenden Plünderungen und die Witterung gaben dem Gebäude den Rest. Da Archiv- und Bildmaterial zu der Kirche nur spärlich vorhanden ist, glichen die Ausführungen von Professor Hertel einem kriminalistischen Fall. Beginnend mit der Suche nach dem Vorbild für den ungewöhnlichen Grundriss, über Nachforschungen zum Klangbild der Orgel bis zur Ausführung der Wetterfahne durch einen örtlichen Schmied – alles musste akribisch ermittelt werden. Der Fall Alt Lappienen – um in der kriminalistischen Sprache zu bleiben – ist noch nicht abgeschlossen. Ein Wiederaufbau der Kirche ist unrealistisch, es fehlt an Geld und an einer evangelischen Gemeinde. Jedoch arbeitet Hertel mit Hochdruck an einer digitalen Visualisierung des Gotteshauses. Der Besucher betritt dann die Kirche, schlendert über den bunten Mosaikboden und lässt den Raum mit seiner bunten Verglasung auf sich wirken, während er dem Klang der Mosengel- Orgel lauscht. Die virtuelle Auferstehung der Kirche wird Realität werden, so das Versprechen von Hertel.
Ein Zeitzeugenprojekt
Die Germanistin Gabriela Blank ist nicht nur für die gute Regionalpartnerschaft des Bezirks Mittelfranken mit der Woiwodschaft Pommern zuständig, sondern arbeitet seit Jahren an Forschungsprojekten des Kulturzentrums Ostpreußen in Ellingen mit Zeitzeugen. Dabei interviewte sie für das Projekt „Neue Nachbarn – Deutsche und Polen im Ermland und in Masuren nach 1945“ zahlreiche Zeitzeugen. Diese schilderten ihre persönlichen Erlebnisse bei Kriegsende: Verschleppung nach Russland, Zwangsarbeit bei Polen, erzwungene Wohnungswechsel, Druck zur Annahme der polnischen Staatsangehörigkeit, Verbot der deutschen Sprache.
Die Ergebnisse dieser Untersuchung sind in einer reich illustrierten, zweisprachigen Broschüre vom Kulturzentrum Ostpreußen veröffentlicht worden. In „Neue Nachbarn“ kann man auch hineinhören, denn die 15 vorgestellten Personen kommen auf den beiliegenden zweisprachigen CDs zu Wort.
Der Filmabend ist Tradition
Der traditionelle Filmabend begann um 20 Uhr. Gezeigt wurde der Film „Flucht aus Goldap. Das Schicksal einer ostpreußischen Familie“. Der vom Patenschaftsmuseum Goldap in Stade produzierte Film stellt eindrucksvoll die Flucht von Gerda Braumann, geb. Dadrat, von Goldap nach Estebrügge im Alten Land bei Hamburg dar. Gebannt verfolgten alle Zuschauer das beeindruckende Zeitdokument. Der Filmabend endete mit einem gemütlichen Beisammensein und Gesprächen über Eindrücke des vergangenen Tages und über unsere Heimat Ostpreußen, und das alles unter Einhaltung der 3-G-Regeln: gebraut – gekostet – getrunken!
Den Wahlsonntag eröffnete Margund Hinz. Sie ist Ostpreußenkennern durch ihre 2005 erschienene Geschichte des Sprachheilwesens in Ostpreußen bekannt. Sie stelle ihre Doktorarbeit „Das höhere Schulwesen der Stadt Königsberg in Preußen von 1800 bis 1915“ vor. Beginnend mit Wilhelm von Humboldt und seinem Königsberger Schulplan bis zum Reformgymnasium nach dem Frankfurter Lehrplan und der Verbindung der Universität Königsberg zur Universität in Dorpat wurden die Strukturen des Schulwesens beleuchtet. Ausführlich porträtierte die Referentin einzelne Schulgründungen, allen voran das Friedrichs-Kollegium, das jahrzehntelang den Rang einer Musterschule mit Vorbildcharakter für ganz Preußen besaß.
Die Historikerin und Ausstellungskuratorin Mareike Schönle, die über das Thema „Alltagskultur in Königsberg um 1900 promoviert“, beschloss die Vortragsreihe mit einem Beitrag über Wilhelm Voigt aus Tilsit, besser bekannt als Hauptmann von Köpenick. Aufgewachsen in bescheidenen Verhältnissen, geriet der spätere „Held“ der Köpenickiade auf die schiefe Bahn und verbrachte fast das halbe Leben in Zuchthäusern und Gefängnissen.
Der Köpenicker Streich wurde auch drei Mal verfilmt, das erste Mal 1931 unter der Regie von Richard Oswald und mit Max Adalbert in der Titelrolle. Voigt siedelte nach seiner teils erlassenen Gefängnisstrafe nach Luxemburg über, von wo er seine kommerziellen Auftritte als Hauptmann von Köpenick plante. Er hatte sogar Autogrammkarten, die er mit „Wilhelm Voigt, Hauptmann a.D. von Köpenick“ signierte. Voigt starb 1922 in ärmlichen Verhältnissen und wurde auf dem Liebfrauenfriedhof in Luxemburg bestattet. Drei Filme, ein profunder Vortrag und zahlreiche Bücher lassen keine Frage zur Wilhelm Voigt offen.
Unbeantwortet ist aber noch die Frage, was jeden Herbst die Geschichtsinteressierten nach Helmstedt treibt. Ist es die schöne Lage der Bildungsstätte am Lappwald, das schmackhafte Essen, die interessierten Teilnehmer oder die vielfältigen Vorträge? Vermutlich macht es die Mischung aus allem, gewürzt mit der Begeisterung für Ostpreußen, welche die Teilnehmer und Referenten verbindet und nach drei Tagen zu einer ostpreußischen Gemeinschaft werden lässt.
Das Seminar wurde mit den Mitteln der Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien über das Kulturreferat am Ostpreußischen Landesmuseum in Lüneburg gefördert.
Das nächste Geschichtsseminar der LO wird vom 23. bis zum 25. September 2022 in Helmstedt stattfinden.
• Andreas Galenski ist Kreisvertreter der Kreisgemeinschaft Allenstein e.V.