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Vor 125 Jahren starb der schlesische Autor Gustav Freytag. An seinem Roman „Soll und Haben“ streiten sich immer noch viele Feingeister
Die Pandemie-Zeit hat auch etwas Gutes. Zu Hause in der Selbstisolation hat man endlich einmal Zeit, Dinge zu tun, die man sich schon immer vornehmen wollte, für die aber einfach die Zeit fehlte: große Weltliteratur zu lesen zum Beispiel. Also Werke wie „Der Kaufmann von Venedig“, „Oliver Twist“ oder – aus Anlass des 125. Todestages seines Autors Gustav Freytag – „Soll und Haben“ von 1855.
Bei Shakespeare und Dickens klatschen alle unisono Beifall, Freytag aber wird spätestens seit 1945 von der Leserschaft ausgebuht. Mit einer Deckschicht brauner Farbe hat auch die Germanistik seitdem sein Werk überzogen. Die Anglistik ging dabei mit ihren Autoren gnädiger um. Denn vergleicht man alle drei genannten Werke miteinander, so haben sie eines gemeinsam: den bösen Juden.
Bei William Shakespeare heißt er Shylock, ist in der Komödie „Der Kaufmann von Venedig“ ein Wucherer und verlangt, als Gegenleistung für nicht zurückerstattete Geldschulden „ein Pfund Fleisch“ – das Herz – aus dem Leib des edlen Schuldners zu schneiden.
Fagin heißt die wohl fieseste Judenfigur in der englischen Literatur. In „Oliver Twist“ ist Fagin das Oberhaupt einer Diebesbande, das schutzlose Waisenkinder zu Kriminellen macht. Autor Charles Dickens lässt ihn am Ende mitleidlos an den Galgen aufknüpfen.
Der am 30. April 1895 gestorbene schlesische Autor Freytag nennt seinen jüdischen Schurken Veitel Itzig. „Junker Itzig war keine auffallend schöne Erscheinung; hager, bleich, mit rötlichem, krausem Haar, in einer alten Jacke und defekten Beinkleidern sah er so aus, dass er einem Gendarmen ungleich interessanter sein musste als andern Reisenden.“ Schon das Äußere beschreibt der Erzähler in „Soll und Haben“ negativ. Als Gegenpart des aufrichtigen Breslauer Kaufmannslehrlings Anton Wohlfart – nomen est omen – verkörpert Itzig alle schlechten Eigenschaften des Geschäftslebens. Er ist intrigant, hinterhältig und kriminell.
Dabei ist er keineswegs das Produkt einer antisemitischen Haltung des Autors. Diese kann man ihm nicht vorwerfen, war Freytag doch in dritter Ehe mit einer Jüdin verheiratet, protestierte gegen Richard Wagners antijüdische Ausfälle und engagierte sich in einem „Verein zur Abwehr des Antisemitismus“.
Die Figur des Veitel Itzig ist vielmehr ein literarisches Stereotyp, mit dem Kontraste herausgebildet werden sollen. Damals störte sich niemand daran. Der jüdischen Autorin Fanny Lewald bereitete die Lektüre „durchweg Vergnügen“. Auch Wilhelm Raabe benutzte den Kunstgriff des bösen Juden in seinem Roman „Der Hungerpastor“. Die Germanistik verzieh es ihm, weil er in späteren Werken wie „Höxter und Corvey“ den guten Juden aufs Tableau hob.
Dem bösen Juden entspricht in den USA übrigens das Stereotyp vom „schwarzen Mann“. In US-Filmen war es lange Zeit üblich, dass Gewaltverbrecher von Afroamerikanern gespielt wurden, ohne dass man daran groß Anstoß nahm.
Bei „Soll und Haben“ nahm man aber an etwas Anstoß, wofür der Autor nichts konnte. Es wurde im Dritten Reich in hohen Auflagen gedruckt und somit in einer braunen Brühe verrührt. Dass im Buch, das zum Teil in der schlesischen Grenzregion spielt, die chaotische „Polenwirtschaft“ gegen deutsche Gründlichkeit ausgespielt wird, spielte den Schürern von Ressentiments in die Karten.
Der Autor, der Germanistik an der Universität von Breslau dozierte und Journalist für die einflussreiche Zeitschrift „Die Grenzboten“ war, vertrat dabei nationalliberale Ansichten. Nach der für ihn enttäuschenden Revolution des Bürgertums von 1848 trat er im Reichstag für die kleindeutsche Lösung unter preußischer Führung ein, kehrte aber aus Protest gegen Bismarcks konservativen Kurs nach nur drei Jahren der Politik den Rücken zu und zog sich als Autor zurück.
Seinen mit flüssiger Feder und dramatischem Spannungsaufbau – Freytag war Autor einer Dramentheorie und des bekannten Schauspiels „Die Journalisten“ – geschriebenen Kaufmannsroman „Soll und Haben“ kann man durchaus als Vorläufer von Thomas Manns „Buddenbrooks“ lesen, auch wenn er dem Vergleich sicher nicht standhält. Die klischeehafte Schwarz-Weiß-Malerei und die wohlfeil-glatte Fassade des Protagonisten Wohlfart stören gewaltig. Trotzdem sollte man jetzt die Gelegenheit beim Schopfe packen und sich selbst ein Bild von diesem Buch machen, das genauso wenig wie die obigen Werke von Shakespeare oder Dickens in den Giftschrank gehört.